Integration: Das Porträt einer Flüchtlingsklasse aus Wien-Ottakring

Es haben sich alle angestrengt: der Direktor, die Lehrer, die Betreuer, die Syrer und die Afghanen. Und doch reichte es am Ende nicht für alle. 23 Flüchtlinge hatten in der 4c ihre letzte Chance auf einen regulären Abschluss im Schulsystem. profil hat die Klasse in Wien-Ottakring ein halbes Jahr lang begleitet.

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Sie haben sich in der Aula in einer Linie aufgestellt und kichernd an den Händen gefasst: Khaledin, Ali Reza, Kainat, Alaa, Names, Noori, Huda und all die anderen aus der 4c. Angefangen hat es ganz harmlos; nun aber mischt sich etwas Schweres ins Spiel: Wer Eltern hat, die an der Uni waren, darf einen Schritt nach vorne machen. Wer viele Geschwister hat, muss zurücktreten. Männlich vorwärts; weiblich zurück. Ein eigenes Haus und viele Bücher - vorwärts; arbeitslose Eltern - zurück. Hände lösen sich, die Kette zerreißt. Ein Bursche aus Syrien geht als Erster über die Ziellinie. Ein paar aus der Klasse sind kaum vom Fleck gekommen.

So unterschiedlich starten die Flüchtlinge ins Leben. Schulschluss in der Neuen Mittelschule 2 in der Koppstraße in Wien-Ottakring: Die Buntstiftzeichnungen wurden von den Pinnwänden genommen, Pflanzen und Gerätschaften weggetragen, Tische und Sessel verräumt. Zwei Jahre lang hatte Stefan Steinberger versucht, den Burschen und Mädchen so viel Mathematik beizubringen, dass es für ein Zeugnis reicht. Vergangene Woche richtete er einen Workshop in kultureller Orientierung für sie aus. Die Schülerinnen und Schüler der 4c hatten eine letzte Chance auf einen Abschluss im regulären Schulsystem. Nun verstreuen sie sich in alle Winde.

Es war eine aus besonderen Umständen geborene Klasse. Direktor Wilhelm Wunderer rief sie ins Leben, weil in den anderen für Flüchtlinge kein Platz mehr war. Im Schuljahr 2014/2015 wies die Statistik des Bildungsministeriums 5162 Pflichtschüler in einem Asylverfahren aus. Mit der Flüchtlingsbewegung 2015 kamen Tausende dazu. Anfang Oktober 2016 zählte man in den heimischen Pflichtschulen 14.232. Seither stieg ihre Zahl kaum noch. Ende März 2017: 14.893, davon 4353 in Wien. In den Bundesländern wartete man mitunter Wochen und Monate auf einen Schulplatz. "Wien drückte aufs Tempo, um zu vermeiden, dass schulpflichtige Flüchtlinge untätig herumsitzen“, sagt Gabriele Schmid, Leiterin der Bildungsabteilung der Arbeiterkammer. Quer durch die Stadt machten zehn "Neu in Wien“-Klassen auf. Die 4c in der NMS Koppstraße war eine davon.

Im vergangenen halben Jahr war profil hier vier Mal zu Besuch. Mehr als die Hälfte der Klasse stammt aus Afghanistan; die anderen Schüler kommen aus Syrien, bis auf Nazir (Benin) und Zoran (Serbien). Das Spiel in der Aula sollte ihnen klarmachen: Jeder Mensch trägt eine Geschichte mit sich herum, ein Erbe, für das er nichts kann. Eingewandert sind sie alle, bei der Frage machten sie gemeinsam einen Schritt zurück. Mustafa geht das im Nachhinein nicht in den Kopf. Warum sollte ihn diese Tatsache zurückwerfen? Sein Neuanfang in Österreich sei viel eher eine "zweite Geburt“.

Zerplatzte Träume, viel Ungewissheit

Wo werden die Flüchtlinge im nächsten Sommer sein, in fünf, in zehn Jahren? Was wird aus der 16-jährigen Afghanin Maryam? Sie will ins Gymnasium, aber sie hat in Mathematik noch einen weiten Weg vor sich. Saleem, 15, und Sherkan, 16, ließen ihren Plan fallen, Medizin zu studieren. Ihre Eltern wollten, dass sie Ärzte werden. Seit zwei Jahren haben sie keinen Kontakt. Nun suchen die Brüder eine Lehrstelle. "Maurer oder Installateur“, sagt Saleem. Das seien "gute Berufe: Jeder sagt das.“ Huda hat eine Stelle als Friseurlehrling. Und wird Hedayattaluh, der in Afghanistan schon als Mechaniker arbeitete, einen Job finden? Es gibt vage Skizzen einer Zukunft, zerplatzte Träume, viel Ungewissheit.

Das Zimmer des Direktors liegt ein Stockwerk unter der Flüchtlingsklasse. 314 Kinder gehen in der "Kopp 2“ zur Schule, 54 davon sind Aslywerber oder anerkannte Flüchtlinge. In den Gängen fallen sie nicht nicht weiter auf. "Wir sind eine typische Ottakringer Pflichtschule“, sagt Wunderer. Migrationshintergrund: 95 Prozent. Eine Mutter mit Kopftuch klopft zaghaft an, Schüler bleiben im Türrahmen stehen, bis der Direktor im kurzärmeligen Karohemd sie bemerkt, Lehrerinnen huschen an ihm vorbei ins Konferenzzimmer. Ständig braucht jemand eine Bestätigung, eine Auskunft, einen Rat. Man habe die Flüchtlinge in der 4c zwei Jahre lang betreut, sagt Wunderer, "aber für viele konnten wir nicht das erreichen, was sie sich gewünscht haben“. Flucht und Migration hatten die Burschen und Mädchen in einer kritischen Lebensphase erwischt. Ein zehntes Schuljahr würde ihnen etwas Luft verschaffen.

Bildungsministerin Sonja Hammerschmid packte es in das Bildungspaket, das eben im Parlament abgesegnet wurde. Außerordentliche Schüler über 15 dürfen künftig ein zusätzliches Jahr in einer NMS oder Polytechnischen Schule anhängen. Die dafür veranschlagten jährlich 3,3 Millionen Euro Mehrkosten deckt der Flüchtlingssondertopf. Profitieren werden davon zum Beispiel die 13-und 14-jährigen Syrer und Afghanen, die in der NMS 2 in der Wiener Koppstraße in einer Mehrstufenklasse sitzen. Für die Flüchtlinge aus der 4c aber kommt die Neuerung zu spät. "So enttäuschend das ist - damit müssen wir uns abfinden, die Zeit war zu kurz“, hatte Direktor Wunderer ein paar Wochen vor Schulschluss gesagt. Am Ende hatten von den 23 Schülerinnen und Schülern ingesamt zehn den Abschluss geschafft. Eine Syrerin, die im Herbst noch eine Nachprüfung bestehen muss, ist da schon mitgezählt.

Es sind mühsam errungene, kleine Anfänge. Olivia Zehetner ist Klassenvorstand der 4c. 17 Jahre lang hatte sie bei der Fluglinie Austrian Airlines gearbeitet; mit 40 sattelte sie auf Lehrerin um. Es war ihr Herzensjob. Man glaubt ihr aufs Wort, dass er für sie mehr bedeutet, als Deutsch und Biologie zu unterrichten. Auf ihrer Klassenliste sind Namen grün eingefärbt: Mohammad, Khaledin, Noor, Huda, Hussain, Sherkan, Hedayattulah, Mustafa, Samim und Zoran. Sie bekommen ein positives Zeugnis. Die anderen blieben weiß. Neben den Namen stehen seltsame Kürzel: PTS, BK15, BK16. Das sind die Rutschen, die sie und ihre Kollegen gelegt haben: Polytechnische Schule, Brückenkurs im 15. Bezirk, Brückenkurs im 16. "Echte Knochenarbeit“ sei das gewesen, sagt die Klassenlehrerin: "Wir haben unzählige Telefonate geführt, sind kreuz und quer durch die Stadt gefahren und haben sämtliche Beziehungen spielen lassen, damit es für alle Jugendlichen irgendwie weitergeht.“

Viel Geduld und starke Nerven vonnöten

Ein paar aus der 4c versuchen nun, über die Volkshochschule den Pflichtschulabschluss nachzuholen. Für einige aber ist die Hürde noch viel zu hoch: Names geht vorher ins Jugendcollege. Reza, Saleem, Habib, Alaa und Maryam ergatterten einen Platz in einem der hoffnungslos überfüllten Brückenkurse. Lenaa, Salwa und die stille, streng verhüllte Afghanin Kainat, die vorher noch nie mit Stift und Block hantiert hat und nebenbei einen Alphabetisierungskurs besucht, lernen in der Mädchenschule des Wiener ArbeitnehmerInnen Förderungsfonds (WAFF) weiter. Es ist die vielleicht bitterste Lektion aus den vergangenen zwei Jahren, dass der Neuanfang der Flüchtlinge unerschöpflich viel Geduld und starke Nerven braucht. Man habe mit es mit "echten Schicksalen“ zu tun, sagt der Direktor und erzählt von einem Erstklässler, der allein in Österreich ist, weil seine Schwester auf der Flucht angeschossen wurde und die Eltern mit ihr nun im Iran festsitzen. Es sei "sinnlos, in diese Kinder vom ersten Tag an Fachwissen hineintrichtern zu wollen“.

Der Mathematiklehrer Stefan Steinberger sieht es ähnlich. Er hatte während seines Volkswirtschaftslehrestudiums als Investmentbanker gearbeitet; eine Karriere im Finanzsektor war vorgezeichnet. 2015 dockte er bei der Initiative Teach for Austria an und landete als Quereinsteiger in der Flüchtlingsklasse in Ottakring, in der damals auch noch einige Repetenten saßen. Enthusiastisch stürzte er sich in die Aufgabe. Nun, da sich die 4c auflöst, geht sein Gastspiel zu Ende. Es sei "die anstrengendste, aber auch lehrreichste Zeit“ in seinem Leben gewesen, sagt der 28-Jährige. Im Vorjahr zeichnete sich ab, dass er mit seinem ursprünglichen Ziel, alle zu einem positiven Abschluss zu bringen, scheitern würde. "Übermotiviert“ nennt Steinberger sich im Rückblick.

Vor einem halben Jahr begannen er und seine Kollegin, die Klasse in Mathematik zu trennen. Die Kluft war zu groß geworden. Am Faschingsdienstag übte Steinberger - mit verspiegelter Sonnenbrille, Kappe und Tattoostrumpf als Surferboy verkleidet - mit den Schwächeren Kopfrechnen, während seine Kollegin vis-à-vis den Satz des Pythagoras durchnahm. Hier stolperten 15- bis 17-Jährige durch das kleine Einmaleins, dort errechneten sie Umfang und Fläche von Dreiecken.

Immer wieder erhascht Steinberger kurze Einblicke in ihre Vorgeschichten. Vieles aber bleibt unbegreiflich. Wo sind die Gedanken der Burschen und Mädchen, wenn die Blicke abdriften? In Aleppo? Bei ihren Eltern in Afghanistan? In Ottakring? Wie viel Druck haben sie, es in Europa zu schaffen? Er sieht, wie sehr es ihnen an Selbstbewusstsein mangelt, holt Menschen von außen in die Klasse, die sie inspirieren sollen; er spornt sie an, Sport zu treiben, Theater zu spielen, Hobbys nachzugehen, am besten mit österreichischen Kindern: "Da passiert Integration, ohne dass man es merkt.“ Er will ihnen zeigen, wie man sich ins Licht setzt. In der Berufsorientierungsstunde soll sich jeder mit einem kurzen Video vorstellen. "Hallo, ich bin Mohammed, ich bin 14 Jahre alt und komme aus Afghanistan. Ich spreche mehrere Sprachen und spiele Fußball.“ Kaum jemandem gelingt es, eine Minute zu füllen.

Neun der Flüchtlinge aus der 4c wohnen ein paar Straßen weiter im Haus Liebhartstal, in einer vom Arbeitersamariterbund betreuten Wohngemeinschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Zu Spitzenzeiten lebten hier 85 Burschen und Mädchen unter einem Dach; inzwischen sind es etwa halb so viele. Betreut werden sie von Martina Spitzer. Seit zwei Jahren ist sie durch alle Hochs und Tiefs gegangen. Bei ihr rufen die Lehrer an, wenn einer der Burschen nicht mehr in der Schule auftaucht. Zu ihr kommen die Jugendlichen, wenn sie Zahnweh haben, sich bei der Hausübung nicht auskennen, ein Bewerbungstermin danebengegangen ist, die Asylbehörde sich nicht meldet. Erst einer hat Asyl bekommen; drei erhielten subsidiären Schutz, eine Art befristetes Asyl. Alle anderen schweben im Ungewissen. Die mit Anfang Juli in Kraft tretende Ausbildungspflicht bis 18 Jahre gilt für sie nicht. Eine Lehre dürfen sie zwar anfangen, aber nur in Mangelberufen. "Manchmal ist der Stress so groß, dass einfach nichts mehr in den Kopf der Jugendlichen hineingeht“, sagt Spitzer.

Zäher, enttäuschungsreicher Prozess

Integration ist - selbst unter besten Vorzeichen - ein zäher, enttäuschungsreicher Prozess. An manchen Tagen schleichen die Jugendlichen traurig um die Klassenlehrerin herum. "Hast du Bauchweh? Kopfweh? Sind es die Ohren?“, fragt sie so lange, bis sie damit herausrücken, dass sie mit der Mutter in Afghanistan geskypt haben oder ein Verwandter ums Leben gekommen ist. "Manchmal habe ich fast das Gefühl, die Schule ist für sie nicht nur ein Platz zum Lernen, sondern die einzige Normalität, die sie haben“, sagt Zehetner. Rundherum herrscht Ausnahmezustand. Ihr Kollege Steinberger hat als Lehrer gelernt, dass sich Erfolg kaum programmieren lässt: "Jemand kann unglaublich talentiert sein und trotzdem scheitern, weil die Umstände nicht passen.“

Mohammed, 14, gehört in der 4c zu den Glücklichen, die es nun über die gefährliche Klippe am Ende der Schulpflicht geschafft haben. Als er vor zwei Jahren mit seinen Eltern nach Österreich kam, landete er in einer Dorfschule in Niederösterreich unter Einheimischen. Das habe ihm geholfen, Deutsch zu lernen, erzählt er. Im vergangenen Herbst zogen die Eltern nach Wien, und er kam in die 4c. Hier sei er auf das ABC zurückgefallen: "Niemand hat Deutsch gesprochen.“ Der aufgeweckte Syrer mit der schwarz-weißen Brille betreibt einen YouTube-Channel, wo er Filmchen von lustigen Mutproben hochlädt. Demnächst stellt er den Kanal auf Englisch um - "Crazy Challenges“ soll er heißen. Mohammed legt ein Jahr in einer Polytechnischen Schule ein, danach darf er fix aufs Gymnasium. Seine Klassenlehrerin hat einen Direktor angerufen und ihm eine Chance für den Buben abgerungen. In der Familie von Mohammeds Vater gibt es mehrere Architekten; Mohammed will auch einer werden.

Seine Lehrer trauen es ihm zu. Bei anderen haben sie behutsam daran gearbeitet, die Träume mit den Möglichkeiten in Einklang zu bringen. Einige wollten Ärzte werden, blieben aber in Mathematik und Deutsch weit hinter dem Pflichtschulstoff zurück. Es galt so viel anderes zu begreifen: Regeln in Österreich, in Wien, in der Schule, auf der Straße, im Park, zwischen den Geschlechtern. Der 16-jährige Sherkan rauft sich die Haare: "Wahnsinn, so viele Ampeln, wo man stehenbleiben muss, so viele Regeln.“ Mitunter krachte es im Klassenzimmer. Mehrmals musste die Klassenlehrerin Burschen zur Seite nehmen, um ihnen zu erklären, dass sie nicht das Recht hätten, ein Mädchen zu beschimpfen, nur weil es kein Kopftuch trage. Als sich im Herbst 2015 die Klassen mit den ersten Flüchtlingen füllten, habe einige in der Kollegenschaft die Sorge vor Islamisierung und Gewalt beschlichen, sagt Direktor Wunderer: "Das ist nicht eingetreten.“ Gerade einmal zwei disziplinäre Vorfälle habe es in zwei Jahren gegeben. In einem Fall drangsaliserten vier Burschen einen Flüchtlingsbuben aus der ersten Klasse, bis dieser zuschlug und einem der Peiniger die Nase brach. Selbst die Polizei befand, dass er in die Enge getrieben worden war, und stellte das Verfahren ein.

Am Ende seines Teach-for-Austria-Einsatzes ließ Steinberger die 4c aufschreiben, was den "perfekten Lehrer“ auszeichne. Fazit: Der Kumpeltyp ist nicht gefragt. "Er zeigt uns den Weg, er zeigt uns unsere Fehler“, steht an oberster Stelle, gefolgt von "Er schimpft nicht, ist nicht geizig, nervt nicht, macht die Stunde spannend“. Steinberger selbst lernte aus der Übung, wie sehr sich die Kinder nach Orientierung und Strenge sehnen "und dass es an uns Erwachsenen liegt, dafür zu sorgen, dass es im Unterricht ruhig und diszipliniert zugeht“.

Jeder hat sich auf seine Art angestrengt. "Wir haben getan, was wir konnten“, sagt Klassenvorstand Zehetner. Sie lässt die Jugendlichen im wehmütigen Bewusstsein ziehen, dass es für viele von ihnen zu früh ist. Sie hat Lebensläufe mit ihnen verfasst, Bewerbungen geübt, das Allernotwendigste eben. Deutschaufsätze waren nicht möglich: "Dafür war die sprachliche Hemmung vielleicht zu groß. Hätte ich sie noch ein Jahr, würden wir vielleicht auch das hinkriegen.“ Nun liegt es an den Jugendlichen, das Beste aus ihren unterschiedlichen Startchancen zu machen. Wie wird Khaledin, einer der Besten der Klasse, sich in der AHS-Brückenklasse entwickeln, die sie für ihn aufgetrieben hat? Wie wird es Noor in der Polytechnischen Schule gehen, Hussain in der Fachmittelschule in Wien-Liesing, Zoran in der Handelsschule? Kommt Nazir im Alphabetisierungskurs weiter? In einem Jahr wird Zehetner mehr wissen. Dann lädt sie die 4c zum Klassentreffen.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges