Islam-Theologe Ednan Aslan: "Wir haben diese Ideologie gesät, jetzt ernten wir die Früchte"
Österreich hat ein Problem. Mehr als 140 Jugendliche sind im vergangenen Jahr nach Syrien aufgebrochen, um sich den Terror-Brigaden Islamischer Staat anzuschließen. Gemessen an seiner Einwohnerzahl liegt Österreich mit seinen freiwilligen Dschihadisten im europäischen Spitzenfeld. Auf Facebook & Co werden Hasstiraden und Propagandavideos salafistischer Prediger tausendfach geliked, ein popkulturelles Jugendphänomen, gewiss, doch gewalttätige Ideologien sind immer auch künstlich gemachte, gesteuerte Prozesse und stets gut fremdfinanziert: Durch Imame, die ihre theologische Ausbildung in fundamentalistischen Zentren in einer der Golfstaaten erworben haben, die sich zum politischen Salafismus oder zur Muslimbruderschaft bekennen, die Gewalt zwar offiziell ablehnen, aber die Jugendlichen mit einer radikalen Lesart des Islam indok-trinieren. In seltener Offenheit spricht der Religionspädagoge Ednan Aslan von der Universität Wien über das Versäumnis der vergangenen Jahre. Aslan, der in einer Kleinstadt im Nordosten der Türkei aufgewachsen ist und in Österreich und Deutschland studierte, arbeitet derzeit am Aufbau des Studiums der Islamischen Theologie mit europäischer Prägung. Bisher stand Aslan mit seinem Vorhaben etwas allein und auf verlorenem Posten. Jetzt werden seine Warnungen vor fundamentalistischen Tendenzen, die er in der Islamischen Glaubensgemeinschaft beobachtet, vom Wiener Stadtschulrat und der Integrationsabteilung von Außenminister Sebastian Kurz sehr ernst genommen.
profil: Warum schließen sich Jugendliche, die hierzulande aufgewachsen und in die Schule gegangen sind, den Mordbrigaden der IS an? Sind die Gründe dafür im Islam zu suchen?
Ednan Aslan: Nicht allein darin. Doch wer behauptet, dies hätte mit der islamischen Theologie nichts zu tun oder dies sei auf migrationsbedingte Ursachen zurückzuführen, der irrt und verharmlost eine gefährliche Entwicklung. Der IS-Terror beruft sich auf eine gewalttätige, theologisch gut fundierte Ideologie. Daher muss man auch offen über die islamische Theologie, die als Religion wahrgenommen wird, diskutieren.
profil: Es gibt in Österreich weit mehr als 100 private islamische Kindergärten und Schulen, darunter sind angeblich viele in der Hand von Salafisten. Wissen Sie, was dort vermittelt wird?
Aslan: Ja, wir wissen, was dort geschieht. Es macht mir Sorge. Volksschulmädchen wird dort von fundamentalistischen Koranlehrern eingetrichtert, dass sie später den Niqab tragen müssen, wenn sie nicht dem Teufel in die Hände fallen wollen. Es kommt vor, dass Kindergartenkindern im Ramadan verboten wird, zu singen. Oder Kinder werden auf das Memorieren von Suren des Koran gedrillt, sodass sei kaum einen persönlichen Bezug zu Gott herstellen können. Aber auch einige der offiziell anerkannten Islam-Lehrer und Lehrerinnen, die an der IRPA, (Religionspädagogische Ausbildung für Islamlehrer an Volksschulen unter Aufsicht der IGGÖ, Anm. d, Red,) als Ausbildner tätig sind, werben auf Facebook für ihre politischen Führer in Ägypten, die die Muslime zur Scharia aufrufen und alle Verfassungen außer dem Koran ablehnen, oder aufrufen, jüdische Produkte zu boykottieren. Wenn Sie sie fragen, werden sie sich nicht dafür aussprechen, dass junge Menschen in den Krieg ziehen, ohne sich aber bewusst zu sein, dass sie die Vorarbeit für Gruppen wie die IS vollbringen. Dieser Trend zum Fundamentalismus hat in den vergangenen fünf Jahren zugenommen.
profil: Sie leiten die Islamische Religionspädagogik an der Universität Wien und unternehmen nichts dagegen?
Aslan: Vor zwei Jahren habe ich Stadtschulrat und Unterrichtsminsterium über diese gefährliche Entwicklung informiert, und gebeten zu handeln. Damals war die Reaktion war gleich null. Man wollte offenbar aus politischen Gründen vermeiden, heikle Problemfelder anzusprechen. Das scheint sich jetzt zu ändern. Aus einer dieser Schulen, einem islamischen Gymnasium in Wien, sind zwei Jugendliche bei der IS in Syrien gelandet. Man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, wohin das führt.
profil: Die Islamische Glaubensgemeinschaft (IGGÖ) sagt, es gäbe kein Salafisten-Problem.
Aslan: Ob sich solche Koranlehrer nun Salafisten nennen, sich zur Muslimbruderschaft oder zu Milli Görüs bekennen es geht doch um eine politische Ideologie, die Gewalt verherrlicht, sodass die Grenzen zwischen Religion und Ideologie verschwinden. Der Mufti der IGGÖ, Mustafa Mullaoglu, vertritt selbst die Ansicht, Politik sei eine prophetische Aufgabe, und Religiosität ohne politischen Einsatz sei unislamisch. Das ist nicht irgendein Amt. Dieser Mann ist für die Imame und Seelsorger zuständig.
profil: In Deutschland gelten gewalttätige Salafisten schon lange als Verfassungsfeinde. Wann wurden diese dschihadistischen Strömungen in Österreich bemerkbar?
Aslan: Der gewalttätige Salafismus ist in den 1980er-Jahren in Verbindung mit der Ideologie der Muslimbruderschaft und der wahabitischen Theologie in Saudi-Arabien groß geworden. Seit den 1990er-Jahren investieren die Golfstaaten Unsummen an Geld in die theologische Ausbildung von Imamen, die dann nach Europa, auch nach Österreich, geschickt werden. Die islamische Theologie ist fest in ihrer Hand. In den vergangenen Jahren hat allerdings auch die Türkei die Moscheen in Österreich für ihre Interessen entdeckt, und dort sind radikale Tendenzen ebenfalls auf dem Vormarsch. Österreich hat sich in der Vergangenheit leider wenig um die religiösen Bedürfnisse seiner Migranten und Flüchtlinge gekümmert und zugelassen, dass ausländische Staaten das eigene Islambild durch ihre Imame predigen. Wir haben diese Ideologie in Österreich gesät, und jetzt ernten wir die Früchte. Sämtliche Moscheevereine in Österreich bekommen ihre theologische, ideologische und letztlich auch finanzielle Förderung aus dem Ausland. Es sind quasi ausländische Kolonien. Die Möglichkeiten der IGGÖ sind sehr eingeschränkt. Sie fungiert als Schutzschild für deren Aktivitäten. Es ist bedauerlich, dass Österreich zulässt, dass sich ausländische Staaten in die religiösen Angelegenheiten seiner Bürger einmischen.
profil: In Wiener Moscheen findet man Broschüren des salafistischen Hasspredigers Pierre Vogel und Werbematerial der Muslimbruderschaft. Ist das gefährlich?
Aslan: Zeigen Sie her! (Nimmt eine Broschüre aus der Wiener Moschee in der Praterstraße 52 zur Hand.) Diese Einführung in den Islam vom pakistanischen Autor Maududi ist für sich genommen harmlos, aber ein junger Mensch liest von diesem Autor vielleicht weitere Bücher, die die Gründung eines islamischen Staates als höchste religiöse Aufgabe für Muslime vorschreiben, dass wo Muslime leben so ein Staat verwirklicht werden sollte. Ergo geraten die jungen Menschen in einen religiösen Widerspruch. Sie glauben, in einer falschen Gesellschaft zu leben. Sie werden in Wien keine einzige Moschee finden, in der die Gründung eines islamischen Staats theoretisch abgelehnt wird. Es wird sicher nicht öffentlich für IS geworben, aber die Grundlage dieser Ideologie ist dieselbe. Diese jungen Menschen, die nach Syrien gehen, sind keine Terroristen, sondern Opfer solcher Ideologen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass diese jungen Menschen mehr Mut haben als die anderen, die nur reden, und das macht sie über Nacht zu Helden.
profil: Sie nehmen also die Prediger beim Wort.
Aslan: Und sie denken weiter. Sie suchen die ideale Gesellschaft, von der die Prediger reden. Wenn der Anführer des IS, Baghdadi, sagt, wir gründen einen solchen islamischen Staat, dann finden sie das gut. Mit allen Konsequenzen. Theologisch kann ich eine solche Entscheidung sehr gut verstehen. Baghdadi ist ein islamischer Top-Gelehrter. Seine Ziele entsprechen den Grundlagen der islamischen Theologie. Seine Handlungen findet man in der Theorie in allen islamischen Grundlehrgängen, wie sie in Saudi-Arabien oder Ägypten unterrichtet werden.
profil: Ist der Islam eine gefährliche Religion?
Aslan: Jede Religion entspricht der geistigen Reife einer Gesellschaft. Das Christentum in Europa ist nicht das Produkt der Kirche, sondern der Aufklärung. Aber wenn Sie zum Beispiel nach Afrika oder Lateinamerika schauen, werden Sie dort ebenfalls sehr starke fundamentalistische Strömungen finden. Der Islam von heute entspricht der geistigen Reife der Muslime in der islamischen Welt, der Situation der islamischen Länder, in denen keine Demokratie existiert. Es gibt keine freie Theologie in den islamisch regierten Ländern.
profil: Die Salafisten berufen sich auf den Ursprung des Islam.
Aslan: Das geben sie vor. Sie lehnen die gesamte Zivilisationsgeschichte des Islam ab. Die Worte des Propheten Muhammed, die überwiegend für die Interessen der Herrscher 200 Jahre nach seinem Ableben erfunden und erdichtet worden sind, gelten für diese unmündigen Köpfe als unbarmherzige Gesetze, die den Menschen die religiöse Autonomie verbietet und Gehorsam gegenüber diesen erfundenen heiligen Worten höher anrechnet als die Achtung vor dem menschlichen Leben.
profil: Von IS-Kämpfern würden Sie für solche Aussagen geköpft werden, vielleicht sogar in Saudi-Arabien.
Aslan: Ja, vermutlich. Aber ich lebe glücklicherweise in Europa, und hier müssen wir den Islam auf seine Sinnstiftung hin untersuchen: auf das Jenseitsversprechen, dass sich die Wohltat am Ende doch lohnt, auf die Gerechtigkeit und die Einheit Gottes. Wir müssen aus dem Koran die eigentliche Botschaft herausholen. Das ist kein Widerspruch zur Demokratie, zur pluralistischen Gesellschaft und zu den Menschenrechten. Der Koran muss im historischen Kontext verstanden werden. Wenn wir den Kontext der Offenbarung vom siebenten Jahrhundert in der Gegenwart suchen, haben wir den Koran nicht verstanden. Historisch gesehen hat der Islam niemals in seiner Geschichte von Menschen gemachte Gesetze abgeschafft, er hat sie nur zivilisiert. Das Handabhacken, die Scheidungsregeln, die Mehr-Ehe und weitere Gesetze, die im Koran erwähnt werden, waren schon vor dem Koran für die Mekkaner bekannte Gesetze zur Regelung der Gemeinschaft. Der Koran darf nicht als Gesetz verstanden werden. Gesetze sind nicht Angelegenheiten Gottes, sondern der Menschen.
profil: Aber es gibt doch Stellen im Koran und in der Sunna, mit denen die Unterdrückung von Frauen gerechtfertigt und Ungläubige als Untermenschen definiert werden?
Aslan: Das ist historisch zu deuten. Ein Beispiel: Es gibt im Koran eine Offenbarung zum Erbrecht. Eine Frau kommt zum Propheten Mohammed und beschwert sich, dass Frauen kein Anrecht auf das Erbe haben. Mohammed hat daraufhin eine Offenbarung und sagt: Die Frauen haben auch ein Recht darauf. Daraufhin proben die Männer einen Aufstand. Ihr Argument: Frauen sind auch nicht im Kriegsdienst. Nach einer weiteren Offenbarung heißt es: Frauen kriegen die Hälfte des Erbteils der Männer. Das ist gewiss eine Revolution für die damaligen Verhältnisse. Die Frauen wollten daraufhin auch einen Anteil der Kriegsbeute. Hier endet der Dialog im Koran. Aber der Koran verbietet den Muslimen nicht, weiter zu denken: Welche Fragen würden die Frauen heute an den Propheten richten? Das wäre die europäische Prägung des Islam. Wenn der Islam jemals reformiert wird, dann in Europa, und Wien hätte hier nicht nur aus historischen Gründen eine Verantwortung. Die Zukunft des Islam wird in Europa liegen. In den islamischen Ländern haben die Kollegen nicht diese Freiheit zum Denken.
profil: Was sagen Sie zu Sebastians Kurz Vorschlag einer Einheitsübersetzung des Koran?
Aslan: Man kann bestimmte Übersetzungen autorisieren. Aber es steht nun einmal auch Krieg im Koran, egal wie Sie das übersetzen. Die Übersetzung löst das Problem nicht. Die Salafisten oder Islamisten lesen nicht die falschen Übersetzungen. Wenn man die Radikalisierung auf die Übersetzung reduziert, hat man die Ursachen nicht verstanden.
Foto: Michael Rausch-Schott