Einwohner von Prag mit tschechoslowakischer Flagge vor einem sowjetischen Panzer

50 Jahre Prager Frühling: "Wir haben uns in die Hosen gemacht"

50 Jahre nach dem "Prager Frühling": Österreichs Bundesregierung zog im Sommer 1968 aus Angst vor Moskau das Bundesheer von den Grenzen zurück. Prominente Zeitzeugen erinnern sich.

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Lesen Sie hier Otmar Lahodynskys Interview mit Pavol Dubček, dem ältesten Sohn des Reformers Alexander Dubček.

Der ehemalige Wiener Bürgermeister Michael Häupl wurde am Morgen des 21. August 1968 unsanft geweckt. Nachdem in der Nacht zuvor Panzer von vier Staaten des Warschauer Paktes die demokratischen Reformen in der Tschechoslowakei niedergewalzt hatten, riss ihn sein Vater aus dem Schlaf: "Die Russen sind heute in der ČSSR einmarschiert. Dein Großvater hat im Ersten Weltkrieg gekämpft, ich im Zweiten Weltkrieg. Du wirst jetzt wohl in den Dritten Weltkrieg ziehen müssen." Häupl erinnerte bei einer gemeinsamen Gedenkveranstaltung mit der tschechischen Botschaft im Wiener Rathaus Mitte Mai an die jäh zerstörte Hoffnung auf Demokratie und Freiheit im Nachbarland. Die Vision des 1968 angetretenen Chefs der tschechoslowakischen KP, Alexander Dubček, von einem "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" endete schon einige Monate später mit der ungebetenen "brüderlichen Hilfe", 100 Toten und der "Breschnew- Doktrin", wonach Satelliten-Staaten der Sowjetunion nur eingeschränkt über ihren politischen Kurs bestimmen durften. Häupl nachdenklich: "Dass wir heute in einem gemeinsamen Haus Europa leben, ist nicht selbstverständlich. Die EU ist das größte Friedensprojekt, das der Kontinent jemals gesehen hat."

Der spätere ÖVP-Chef Erhard Busek wurde vom gewaltsamen Ende des Prager Frühlings bei einem Kongress von Jungpolitikern in Japan überrascht. Er flog über Moskau nach Prag zurück, wo bereits Sowjet-Panzer auf den Straßen patrouillierten. Mit seinem Auto fuhr Busek heim nach Wien. Als Aktion des gewaltfreien Aufstands in der ČSSR wurden viele Verkehrsschilder verdreht oder zugeklebt. Busek kam vom Weg ab und stieß in einem Wald auf eine sowjetische Einheit "mit betrunkenen Soldaten, die bedrohlich mit den Gewehren herumfuchtelten. Mir war sehr mulmig zumute."

Doch Busek wusste, dass seine tschechischen Freunde weit schlimmer dran waren. "Sie ahnten, dass ihnen jetzt viele Jahre der Normalisierung bevorstünden, in denen es keine Demokratie und keine Freiheit mehr geben würde", erinnert sich der ÖVP-Politiker. "Aber einen Auftrag meiner Freunde habe ich damals verinnerlicht. Vergesst uns bitte nicht, sagten sie mir. Und ich habe später den Auftrag mit meinen vielen Kontakten zur Dissidentenszene in Mitteleuropa erfüllt."

"Dubček war zu naiv"

Der Prager Frühling wird heuer in Österreich mit mehr Veranstaltungen gewürdigt als in Tschechien und der Slowakei. "Die populistischen Regierungen in Prag und Bratislava haben kein Interesse daran, dass kommunistische Reformer geehrt werden", erklärt der 1978 ausgebürgerte tschechische Dissident und Autor Přemysl Janýr, der die Reformen unter dem damaligen KP-Chef Alexander Dubček aus heutiger Sicht kritisch beurteilt . "Dubček war zu naiv. Er hatte wirklich gedacht, dass das kommunistische System mit Bürgerfreiheiten und Marktwirtschaft vereinbar wäre und dass Moskau dies zulassen würde." Erst Michail Gorbatschow habe die im Prager Frühling gestarteten Reformen 20 Jahre später als Chef der Sowjetunion durchführen können. Aber dieses Projekt führte zum Ende des Kommunismus.

Der ehemalige Bundespräsident Heinz Fischer bewertete kürzlich bei einer Podiumsdiskussion in der tschechischen Botschaft in Wien die Reformen Dubčeks freundlicher. "Dubček hat vorsichtige Reformen durchgeführt. Aber viele Österreicher waren so wie ich besorgt, dass der ganze Prozess so wie in Ungarn 1956 enden könnte."

Nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes habe sich Kreisky sehr für die Aufnahme der Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei eingesetzt, holte Fischer zu einem Seitenhieb auf Bundeskanzler Sebastian Kurz aus: "Kreisky war damals noch stolz darauf, Flüchtlingsrouten geöffnet zu haben."

An die 160.000 Tschechen und Slowaken wurden damals zumindest vorübergehend in Österreich aufgenommen. Und Österreichs Botschafter in Prag, der spätere Bundespräsident Rudolf Kirchschläger, ignorierte eine Weisung des damaligen Außenministers Kurt Waldheim und ließ weiter täglich Tausende Visa an ČSSR-Bürger ausstellen.

Pläne zur Übersiedlung der Bundesregierung

Die Bundesregierung reagierte zunächst übervorsichtig. Bundeskanzler Josef Klaus und Verteidigungsminister Georg Prader mussten erst an ihren Urlaubsorten mangels Telefonverbindung durch Boten, darunter ORF-Generalintendant Gerd Bacher, vom Einmarsch der Sowjettruppen im Nachbarland informiert werden. Es gab Pläne, die Regierung nach Bad Ischl oder Zell am See zu übersiedeln, weil ein weiterer Vorstoß der sowjetischen Verbände durch Österreich bis nach Jugoslawien nicht ausgeschlossen wurde.

Das Bundesheer hatte sofort mit dem Bau von Sperranlagen an den Durchzugsstraßen im Wald-, Wein- und Mühlviertel begonnen und die Sprengung von Brücken vorbereitet. Auch die Rollbahnen am Flughafen Wien-Schwechat sollten notfalls mit bereitstehenden Militärfahrzeugen blockiert werden.

Doch dann blies die ÖVP-Alleinregierung unter Kanzler Klaus zum Rückzug. Bundesheer-Verbände wurden 30 Kilometer von der Grenze zur ČSSR ins Landesinnere zurückgezogen, aus Angst vor Provokationen gegenüber Moskau. An der Grenze wurden bloß rot-weiß-rote Fähnchen gesteckt, um ein irrtümliches Vordringen von Verbänden des Warschauer Paktes zu verhindern.

"Wir haben uns schlicht in die Hosen gemacht", spottet General Edmund Entacher, von 2007 bis 2013 Generalstabschef des Bundesheeres. "Einsatzbereite Truppen wurden zurückgepfiffen, was zur kuriosen Situation führte, dass unsere Verbände weit hinter den vorher angelegten Gefechtsständen warten mussten. Das war militärisch natürlich ein Unsinn."

Dabei hatte das Bundesheer sogar noch vor NATO-Kommandanten vom Einmarsch der Truppen in der ČSSR erfahren. Denn ČSSR-Truppen hatten die Militärmanöver der Warschauer Pakt-Staaten begleitet, als diese in Richtung Prag und Bratislava kehrtmachten. Die ČSSR-Soldaten funkten plötzlich Klartext und meldeten die genaue Anzahl der Panzer und Mannschaftstransporter - Nachrichten, die vom Heeresnachrichtenamt abgefangen wurden.

"Gefährliche und delikate Situation"

Entacher war damals als 17-Jähriger mit einem Schulfreund per Rad in die ČSSR eingereist. Vom Einmarsch der Warschauer Pakt-Verbände wussten sie nichts. Die oberösterreichischen Grenzbeamten sagten ihnen, dass drüben Militärmanöver stattfänden. "Im Raum Pilsen kam uns plötzlich eine Kolonne von 50 Panzern und Fahrzeugen entgegen. Dann erfuhren wir, was wirklich los war, und kehrten schleunigst um."

"Es war damals für uns alle eine gefährliche und delikate Situation", erinnert sich Alt-Bundespräsident Fischer gewohnt vorsichtig. "Aus Angst vor möglichen Maßnahmen der Sowjets wurde der Rückzug unserer Bundesheer-Verbände von der Grenze angeordnet." 1956 hatte ein Bundesheer-Grenzschützer einen sowjetischen Soldaten, der einen ungarischen Flüchtling auf österreichischem Territorium verfolgte, erschossen.

Waldheim erkundigte sich in Washington, ob Österreich im Ernstfall mit militärischem Beistand der NATO rechnen könne. Er wurde mit Verweis auf Österreichs neutralen Status heimgeschickt.

Der Schriftsteller Pavel Kohout dankte seinen Gastgebern in Österreich für die Aufnahme. Er war einer der kulturellen Wortführer im Prager Frühling und später auch in der Dissidentenszene der Charta 77. Kohout zog 1978 mit Erlaubnis des Regimes nach Wien, wo seine Stücke am Wiener Burgtheater aufgeführt wurden. Dann wurde er ausgebürgert. Heute mischt sich Kritik in seine Erinnerungen. "Österreichische Schriftsteller mieden mich und hielten uns wohl für Störenfriede", erzählte Kohout verbittert.

Bei der Galaveranstaltung im Wiener Rathaus wurden auch die Verdienste des damaligen ORF-Mitarbeiters Helmut Zilk gewürdigt, mit den aus der ČSSR live gesendeten "Stadtgesprächen" erste freie Debatten im Ost-Fernsehen initiiert zu haben. Später hat Zilk die vom letzten freien TV-Sender bei Brno/Brünn ausgestrahlten Filme via Wien in den Westen weitergeleitet. Dass er damals schon für den ČSSR-Geheimdienst gearbeitet hatte, blieb bei der Gedenkveranstaltung unerwähnt.

Der Historiker Stefan Karner, der 2008 mit 80 Kollegen aus Europa und den USA unter Zuhilfenahme von Archivmaterial aus Moskau ein mehrbändiges Werk über den Prager Frühling fertigstellte, beschrieb das Dilemma für die KP-Reformer in Prag so: Dubček wollte dem kommunistischen System ein humanitäres Antlitz geben, aber je mehr Freiheit er zuließ, desto größer wurde der Druck aus der Bevölkerung, noch mehr Forderungen zu erfüllen. Karner: "Dubcek agierte wie ein Lokführer zweier Züge, eines Volksexpresses und eines langsamen Partei-Frachtenzugs. Beide Züge waren zu koordinieren und auf den Moskauer Generalplan abzustimmen. Eine unlösbare Aufgabe."