Kampfgas-Übung im Gefängnis: Krankenschwester schwer verletzt

Kampfgas-Übung im Gefängnis: Krankenschwester schwer verletzt

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Sie ist nicht mehr die Mara Fuchs* von früher, die über Videomonitore die Bodypacker in ihren Zellen überwachte, bis die Drogen deren Körper verließen, nicht die Frau, die mit Übersicht und Furchtlosigkeit Mütter nach Entbindungen versorgte und in der Nacht auf Psychotiker und Gefangene aufpasste, die sich auf alle nur erdenklichen Arten selbst verletzt hatten. 15 Jahre lang hatte sie klaglos Dienst versehen und war in allen Notlagen eingesprungen, selbst wenn ihr Wohnzimmer zu Hause voller Gäste war, die auf ihren Geburtstag anstoßen wollten. Krankenschwester zu sein war "mein Beruf, mein Hobby, mein Leben“, sagt sie.

Dieses Leben endete, als Fuchs, eine der erfahrensten Mitarbeiterinnen der Krankenstation der Justizanstalt Wien-Josefstadt, am 17. Mai 2010 am Gang in eine unsichtbare Giftwolke rannte, von einer Sekunde auf die andere keine Luft mehr bekam und sich taumelnd an die Brust fasste. Von einem "massiven Vernichtungsgefühl mit Todesangst“ wird in einem psychiatrischen Gutachten später die Rede sein. Heute noch versagt ihre Stimme, wenn sie versucht, den Moment zu beschreiben, als sie dachte, es sei "aus und vorbei“. Nach einer versuchten Geiselnahme wenige Monate zuvor hatten Justizwachebeamte und der Kommandant der Betriebsfeuerwehr einen Übungsfall erfunden: Ein Häftling verbarrikadiert sich in der Zelle und wird mit Gas außer Gefecht gesetzt. Trainiert werden sollte in der Krankenstation. Nur: Schwester Mara einzuweihen, hatte man völlig vergessen.

In einer gediegen eingerichteten Altbauwohnung in Wien sitzt vergangene Woche eine Frau mit leblosen, grauen Haaren, eiskalten Händen und erschreckten Gesten, die sich ohne ihren Mann nicht mehr auf die Straße wagt, die ihren Enkel noch nie im Kinderwagen spazieren geführt hat, weil der Geruch von Abgasen jederzeit wieder eine Panikattacke auslösen kann, und die im Wartezimmer und im Bus immer den Platz sucht, der am nächsten zum Ausgang ist. Sie sei "wehrlos geworden“ und verbringt ihre Tage hinter den zugezogenen Stores, die von draußen nur weichgezeichnete Umrisse durchlassen. Vor dem Gespräch mit profil hat Fuchs ein Beruhigungsmittel eingenommen.

Sämtliche Teilnehmer des Experiments liefen planlos herum, husteten oder wuschen sich die Augen aus. Am Boden lag die Versuchsperson und bekam nur schwer Luft.

Das letzte Gerichtsverfahren in ihrer Causa ging vor Kurzem zu Ende. Mara Fuchs verstaute die Polizeiprotokolle, Prozessakten, Zeugenaussagen und Gutachten in drei Schachteln. Sie wegzuwerfen, hat sie nicht geschafft, vielleicht, weil für einen echten Abschluss irgendein noch so matter Versuch von Wiedergutmachung fehlt. Fünf Jahre lang hatte Fuchs um Gerechtigkeit für die Krankenschwester gerungen, die sie früher einmal war und die am Ende als Einzige für eine von den Vorgesetzten erlaubte Übung büßte, die binnen einer Minute im Chaos endete: "Sämtliche Teilnehmer des Experiments liefen planlos herum, husteten oder wuschen sich die Augen aus. Am Boden lag die Versuchsperson und bekam nur schwer Luft“, steht in dem Gedächtnisprotokoll, das die diensthabende Ärztin S. verfasste.

Nur die Firma, die mit dem Reizgaswerfer TB09 mit 6,8 Liter-Kanistern durch die Speiseklappe eine hinterher nicht mehr eruierbare Menge des Kampfstoffes gesprüht hatte, worauf der Beamte, der den Häftling spielte, nach wenigen Sekunden einen "totalen Atemausfall“ erlitt und aus der Zelle geholt werden musste, zahlte Schmerzensgeld und entschuldigte sich. In der Justiz hingegen mussten weder Beamte noch die Anstaltsleitung oder die Vollzugsdirektion für Fehler geradestehen. Die damalige Justizministerin Claudia Bandion-Ortner überging die Causa, ihre Nachfolger ebenso.

Doch von Anfang an. An jenem 17. Mai 2010 beginnt der Dienst von Mara Fuchs mit Routinearbeiten. Ein Beamter will die Frau Doktor wegen einer Übung sprechen. Kurze Zeit später ruft auch schon jemand: "Kommen Sie schnell!“ Schwester Mara schnappt den Notfallkoffer, läuft auf den Gang, spürt einen brennenden Schmerz und schleppt sich ins Schwesternzimmer zurück. Im Einsatzprotokoll steht, zwei Justizwachebeamte hätten sie von dort weggebracht. Eine Beamtin erzählte Schwester Mara danach, sie sei "wie ferngesteuert“ gewesen. Zu Protokoll gab sie sinngemäß, Mara sei ganz normal in ihrem Zimmer gesessen und habe gearbeitet. "Damals hat die Lügerei schon angefangen“, sagt Fuchs heute.

Mit dem chemischen Kampfstoff, der laut deutschen Ärzten 100 Mal gefährlicher ist als Blausäure, werden Aufstände niedergeschlagen und Demonstrationen zerstreut.

Hätte sie das Gift so wie der kollabierte Testhäftling sofort vom Körper und aus den Haaren gewaschen, wären die Folgen weniger schlimm gewesen. Das hatte ihr aber niemand gesagt. Ihre Augen schwollen zu, man ließ sie weiter Dienst machen. Sie hustete und absolvierte noch einen Nachtdienst. Erst am 21. Mai, ganze vier Tage später, erfuhr sie im Büro der Anstaltsleiterin Helene Pigl, dass sie 2-Chlorbenzylidenmalonsäuredinitril, kurz CS-Gas, abbekommen hatte. Mit dem chemischen Kampfstoff, der laut deutschen Ärzten 100 Mal gefährlicher ist als Blausäure, werden Aufstände niedergeschlagen und Demonstrationen zerstreut. Auch die heimischen Sondereinheiten Wega und Cobra verfügen über Geräte, verwenden CS-Gas aber nur im Freien. Internationale Chemiewaffen-Verträge verbieten den Einsatz in Kriegsgebieten. Größere eingeatmete Mengen rufen Lungenödeme hervor und können zum Tod führen.

Am 25. Mai, inzwischen war also eine Woche seit dem Unfall vergangen, wurde Fuchs im AKH vorstellig. Sie hatte immer noch kaum Sauerstoff im Blut. Ihre Augen brannten, auf der Zunge bildeten sich Bläschen und die Haut löste sich in Fetzen. Sie verlor fast 20 Kilo Gewicht und fühlte sich zu schwach, ihre Beine in den Winterstiefeln zu heben. Ihr Mann brachte sie in die Berge, würzte das Essen, weil sie nichts mehr schmeckte. Nach einem Monat schleppte sich Fuchs wieder in den Dienst, fühlte sich den Drogensüchtigen und Suizidgefährdeten aber nicht mehr gewachsen und hielt es bei geschlossenen Türen nicht aus. "So kann man nicht arbeiten“, sagte die Anstaltspsychiaterin.

Wie ein Keulenschlag traf sie im April 2012 ein Anruf aus der Vollzugsdirektion: Nach zwei Jahren im Krankenstand müsse man sie nun kündigen.

Im Jänner 2011 fand Wolfgang Fuchs* seine Frau weinend und zitternd in der Wohnung vor. Ihr Blutdruck war entgleist, auf dem linken Ohr hörte sie nichts mehr. Im Spital hing sie zehn Tage am Infusionstropf, doch das Ohr blieb taub. Der Befund vermerkt: Panikattacke, Blutdruckkrise mit Hörsturz.

Danach zog sie sich noch weiter zurück, ging nicht mehr ins Theater, mied Konzerte. Wie ein Keulenschlag traf sie im April 2012 ein Anruf aus der Vollzugsdirektion: Nach zwei Jahren im Krankenstand müsse man sie nun kündigen. Sie kratzte sämtliche Urlaubstage zusammen, um wenigstens in Pension gehen zu können. Das Gefühl allergrößter Ungerechtigkeit blieb: "Ich habe doch nichts angestellt!“ Für die Traumatherapie, die bis dahin die Justiz bezahlt hatte, musste sie nun selbst aufkommen.

Die Ermittlungen wegen des Verdachts der fahrlässigen Körperverletzung und Gefährdung der öffentlichen Sicherheit stellte die Staatsanwalt ein. Die Beamten hätten sich auf die Auskünfte der Ausrüstungsfirma verlassen können, hieß es. Der deutsche Giftgas-Lieferant war nicht greifbar. Das Verfahren gegen die oberösterreichische Firma F. wurde "von Todes wegen“ eingestellt, nachdem der Inhaber verstorben war.

Anstaltsleiterin Pigl erklärte laut Polizeiakt, sie sei während des ominösen Trainings außer Haus gewesen. Das Einsatzprotokoll, das Pigl der verletzten Schwester vier Tage nach dem Unfall zu lesen gegeben, ihr aber nicht ausgehändigt hatte, wurde umgeschrieben. Laut Meta-Information des Word-Dokuments landete im Polizeiakt eine "Version 2“. Sie ist mit 18. Mai datiert und vermerkt "keine nachhaltigen Einflüsse durch das CS-Gas“. Außerdem hält das Protokoll fest, dass Mara Fuchs sich "heute“ krank gemeldet habe. Tatsächlich ging die Schwester erst fünf Tage später in den Krankenstand, was bei korrekter Datierung nur ein hellsichtiger Verfasser hätte wissen können.

Vollzugsdirektor Peter Prechtl räumte ein, das Training mündlich genehmigt zu haben. Er habe den Versicherungen der Firma vertraut, alles sei unter Kontrolle.

Auch das Videomaterial, das laut Beamten angeblich hätte zeigen können, dass Schwester Mara bei einer Vorbesprechung dabei war, verschwand auf wundersame Weise. Der für Trainingszwecke aufgenommene Film wurde geschnitten. Und die Rohdaten? Versehentlich gelöscht. Die Öffentlichkeit sollte von all dem zunächst kein Wort erfahren. Der Kampfgas-Einsatz im Grauen Haus wurde erst eineinhalb Jahre später von "News“-Journalist Kurt Kuch aufgedeckt. Er machte auch die "Nachbearbeitung“ des Videos publik.

Vollzugsdirektor Peter Prechtl räumte ein, das Training mündlich genehmigt zu haben. Er habe den Versicherungen der Firma vertraut, alles sei unter Kontrolle. Dabei hätte schon eine Google-Recherche zum CS-Gas genügt, um selbst bei einem Laien die Alarmglocken schrillen zu lassen. Prechtl sagt auf profil-Anfrage, die Kampfgas-Idee sei nach einer versuchten Geiselnahme in der Abteilung Z 6 im Februar 2010 entstanden.

Tränengas durfte im Grauen Haus nicht mehr eingesetzt werden, die Pfeffersprays erwiesen sich als ungenügend: "Die Firma hat gesagt, CS kann man verwenden. Deshalb habe ich gesagt, gut, schauen wir uns das an“, so Prechtl. Alles sei vorbereitet und abgesperrt gewesen, es täte ihm "sehr leid, dass die Krankenschwester zu Schaden gekommen ist, das hat keiner wollen“. Ihre Kündigung sei "nie im Raum gestanden“. Er habe sich bei der Schwester seinerzeit entschuldigt und könne sich nur wiederholen: "Es tut uns sehr leid, dass das passiert ist.“

Die Gutachter erledigten den Rest der Demontage.

"Alle waren überfordert, uninformiert, die Vorbereitung war dilettantisch, am Tag der Übung war eine einzige Gasmaske vor Ort“, konstatiert hingegen Wolfgang Mekis, der Anwalt der Krankenschwester. Eine Amtshaftungsklage gegen die Republik stünde ihr nur dann offen, wenn sie pragmatisiert gewesen wäre. Das ist der nächste Schmerzpunkt. Fuchs war Beamtin des Magistrats Wien und wechselte zum Bund, als hier bereits Aufnahmestopp angesagt war: "Man hat mir versprochen, dass ich meine Pragmatisierung retour bekomme, sobald er aufgehoben ist.“ Diese Zusage wurde nie eingelöst. Eine Vertragsbedienstete aber kann sich an der Republik nicht schadlos halten.

Die Gutachter erledigten den Rest der Demontage. Die vom Dienstgeber und später vom Strafrichter betrauten Psychiatrie-Sachverständigen attestierten eine posttraumatische Belastungsstörung und eine andauernde Veränderung der Persönlichkeit nach einer Extrembelastung. Doch ihre körperlichen Leiden wurden entweder bestritten oder als nicht unfallkausal hingestellt.

Die Justizwachebeamten behaupteten, Schwester Mara könne gar nicht so viel Gift erwischt haben. Ein Toxikologe widerlegte sie. Ein betagter Augen-Sachverständiger vermaß sich, wurde durch einen Kollegen und einen Optiker korrigiert, was ihn nicht hinderte, im Gerichtssaal zu behaupten, Mara Fuchs sage nicht die Wahrheit. Erst als der Mann auch noch Bedenken anmeldete, dass überhaupt CS-Gas verwendet wurde, wurde er abgezogen. Ein anderer Augen-Experte konzedierte gesundheitliche Probleme, schrieb sie aber dem Alter der Frau zu. Ein Ohren-Gutachter änderte mehrmals sein Meinung, ein anderer Sachverständiger kam durch simples Blutdruckmessen zur Auffassung, Fuchs‘ Gefäße seien schon vor dem Unfall ramponiert gewesen und ließ sich weder durch Vorbefunde noch durch die entgegengesetzte Meinung eines namhaften Gefäßspezialisten irritieren.

Eineinhalb Jahre lang kämpfte Anwalt Wolfgang Mekis gegen eine Phalanx von "Haus- und Hofgutachtern, die sich am Arbeits- und Sozialgericht ein Zimmer teilen, von einer Verhandlung zur anderen eilen und auf die Schnelle teilweise Gutachten abliefern, die diesen Namen nicht verdienen“. Er hätte noch weiter gemacht. Doch die herablassende, oft sogar verächtliche Behandlung durch die gerichtlich beeideten Spezialisten setzten Fuchs mindestens so zu wie das CS-Gas. Nach 30 Begutachtungen fühlte sie sich blind, taub, alt, kaputt. Ihr Mann, ein selbstständiger Fotograf, sperrte sein Geschäft zu, und weicht ihr seither nicht mehr von der Seite. "Nur die Familie hat noch Geduld mit mir“, sagt die Frau.

Im Jänner 2015 schloss Anwalt Mekis den Akt: "Ich bin kein Psychologe. Aber so viel weiß ich: Meine Mandantin hätte keine einzige Begutachtung und keinen Prozesstag mehr überstanden.“

* Name von der Redaktion geändert

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges