Interview

Kommt eine große Migrationswelle, Herr Khanna?

Klimawandel, Fachkräftemangel, demografische Schieflage: Warum Menschen aufbrechen. Wohin sie gehen. Was auf Österreich noch zukommt.

Drucken

Schriftgröße

Der indisch-amerikanische Geograph und Bestsellerautor Parag Khanna hat den früheren US-Präsidenten Barack Obama beraten und untersucht, wie sich die Menschheit über den Globus verteilt. Im profil-Interview erklärt er, warum jene Migranten, die an den Küsten Europas stranden und über die Balkanroute nach Österreich kommen, bloß eine Vorhut großer, bevorstehender Einwanderungen sind. Khannas Prognose: Noch in diesem Jahrhundert werden sich Milliarden Menschen auf den Weg machen.

Jede Woche landen an den Küsten Italiens und Maltas Boote mit Migranten. Viele überleben die Fahrt über das Mittelmeer nicht. Wie soll Europa damit umgehen?
Khanna
Jedes im Mittelmeer verlorene Leben ist eine Tragödie. Betrachtet man die Lage aber von der Makroebene aus, sollte Europa sich darauf einstellen, dass die Zahl der Menschen, die jetzt kommen, bloß ein Vorgeschmack auf bevorstehende Bewegungen ist. Diese werden sehr viel größer sein.
Was treibt sie an?
Khanna
Einerseits zerfallen Staaten wie derzeit der Sudan. Dazu kommt die Klimakrise, die den afrikanischen Kontinent besonders stark betrifft. Mein Standpunkt leitet sich von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ab und ist nicht durch kulturelle Vorbehalte bestimmt. Europa sollte diese Menschen nicht abwehren, sondern aufnehmen.
Der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, warnt, Europa schlafwandle in eine neue Migrationskrise, und man könne nicht alle aufnehmen.
Khanna
Wenn man auf farbenblinde Art und auf die nüchternen Fakten schaut und Kosten und Nutzen abwägt, stimmt das ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Europa braucht Menschen, es gibt einen riesigen Bedarf an Arbeitskräften. Darin besteht die wahre Krise Europas.
Weil es kaum legale Wege gibt, versuchen Migranten als Asylwerber zu kommen. Wird die Unterscheidung obsolet?
Khanna
Nein, da haben die Kritiker recht. Studenten, Familienangehörige und Fachkräfte, für die es legale Schienen gibt, und irreguläre Migration sind unterschiedlich zu behandeln. Und dann gibt es eben noch politische Flüchtlinge, deren Fluchtgründe und Anträge auf internationalen Schutz geprüft werden müssen. Es ergibt aber keinen Sinn, alle pauschal zurückzuweisen.
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex erwartet bis zum Sommer über 300.000 Migranten, so viele wie im gesamten Vorjahr. Europa will irreguläre Migration um jeden Preis bekämpfen.
Khanna
Man kann versuchen, alle, die kommen, auf afrikanischen Boden zurückzuweisen, wobei viele ertrinken, ein Teil es an die Küste schafft und dann oft lange in einem Lager feststeckt. Allerdings muss man enger mit den Herkunftsländern kooperieren, denn es kommt zu viel Gewalt, etwa in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Im Fall von Ländern wie Libyen ist auf diplomatischem Weg kaum etwas auszurichten, weil staatliche Institutionen fehlen und diese Länder von Migration profitieren. Sie zu stoppen, wird also nur teilweise gelingen.

Parag Khanna während einer 16.000 Kilometer langen Charity-Rally von London in die Mongolei.

Die Szenarien, die Sie beschreiben, sind apokalyptisch. Noch in diesem Jahrhundert könnten sich Milliarden aufmachen. Wie kommen Sie darauf?
Khanna
Das ist nicht apokalyptisch, sondern eine Beobachtung ohne ethischen oder moralischen Beigeschmack. Weder plädiere ich dafür, dass diese Migration stattfindet, noch warne ich davor; denn sie ist nicht politisch, sondern evolutionär zu verstehen. Wenn man auf die vergangenen Jahrhunderte zurückschaut – das war Teil meiner Untersuchungen –, sieht man, dass die Zahl der Migranten seit dem 15. Jahrhundert von zunächst Millionen auf Zehnmillionen und im 20. Jahrhundert auf Hunderte Millionen steigt. Nun erreichen wir die Milliarden-Stufe, und das sage ich nicht, weil es kosmologisch oder mathematisch nett klingt, sondern weil es im Gange ist.
Unaufhaltsam?
Khanna
Genau. Es gibt durch Bürgerkriege und internationale Konflikte ausgelöste Flüchtlingsströme, den Klimawandel, technologische Umbrüche und die Suche nach besseren wirtschaftlichen Bedingungen; dazu kommen der Arbeitskräftemangel und die demografische Schieflage, die klaffende Lücke zwischen Alt und Jung, vor allem in OECD-Ländern wie etwa Österreich. Alle diese Faktoren wirken zusammen und werden noch im Lauf dieses Jahrhunderts Milliarden von einem Ort zum anderen treiben. Selbst das ist nicht einmal mehr eine Vorhersage, sondern eine analytische Feststellung, mit dem Ziel, dass wir uns darauf vorbereiten. Einzudämmen ist diese Entwicklung nicht mehr.
Wo kommen die künftigen Migranten her, wo gehen sie hin?
Khanna
Ich bin Geograph und leite die globalen Entwicklungen von regionalen Mustern ab. Bereits jetzt strömt jedes Jahr fast eine Million Lateinamerikaner nordwärts in die USA und nach Kanada. Aus Lateinamerika kommt kaum jemand nach Europa, und nur wenig Afrikaner schaffen es nach Amerika oder Kanada. Da geht es ganz einfach um Logistik, um geografische Anziehungskräfte. Araber kommen hauptsächlich nach Europa; Inder und Südostasiaten bewegen sich nordwärts Richtung Zentralasien, ehemalige Sowjetunion, sowie westwärts über die „Neue Seidenstraße“ und China Richtung Europa, wie eben Afrikaner und Araber und zunehmend auch Asiaten. Letztere gehören – wie ich aus vielen Gesprächen mit europäischen Politikern weiß – zu den bevorzugten Migranten.
Inwiefern?
Khanna
Asiaten bringen bessere wirtschaftliche Voraussetzungen und Bildungshintergründe mit. Sie sind bereit, sich an die gesellschaftliche Ordnung anzupassen. Außerdem gelten sie als fleißig; sie werden Ärzte, bekleiden alle Funktionen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Ich bin selbst gebürtiger Asiate, in den USA und in Deutschland aufgewachsen. Als ich in den 1990er-Jahren in Deutschland gewohnt habe, war ich hier einer der wenigen, heute sieht man überall Philippinen, Vietnamesen und andere Asiaten.
Österreich verhandelt Rücknahmeabkommen mit Indien, schiebt eine indische Köchin und zwei Kinder ab, eines davon in einer Ausbildung zur Pflegerin.
Khanna
Natürlich muss Indien die eigenen Staatsbürger zurücknehmen. Doch auf österreichischer Seite geht einiges schief, wenn Menschen, die am Arbeitsmarkt gebraucht werden, nicht bleiben können.
Es herrscht die Meinung vor, Österreich habe genug Migranten, nun sollen andere Länder ihren Beitrag leisten. Rechtspopulisten wollen überhaupt keine Einwanderung.
Khanna
Man sollte diesen Rechtspopulisten klarmachen, dass sie schuld sind, wenn ihre Eltern allein sterben. Die Einwanderer können nichts dafür, dass die Geburtsrate so gesunken ist, dass sie zu wenig Pfleger und Krankenschwestern an ihrer Seite haben. Eine anständige Gesellschaft bleibt man nur, wenn es in der Wirtschaft und im Gesundheitssystem genug Hilfskräfte gibt. Wenn sie fehlen, muss man sie im Ausland suchen, ansonsten mangelt es an Verantwortungsbewusstsein gegenüber der eigenen Bevölkerung. Quer durch Italien und Spanien sterben jetzt schon viele alte Menschen allein. Auch wenn es in Europa immer noch Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gibt, moralische Überlegenheit kann man nicht mehr beanspruchen.

Parag Khanna: "Die Weltbevölkerung wird ihren Höchststand bei etwa neun Milliarden Menschen erreichen. Wir haben 150 Millionen Quadratkilometer bewohnbares Terrain. Es gibt also genug Platz für uns alle."

Sie drehen den Spieß sogar um und warnen, die größte Gefahr für Gesellschaften sei nicht Einwanderung, sondern Auswanderung. Warum?
Khanna
Weil die Weltbevölkerung vor 2040 eine Stagnation oder sogar einen Rückgang erleben wird. In alternden und reifen Volkswirtschaften wie Europa mangelt es an jungen Menschen. Die Gewinner der Zukunft werden Länder sein, die junge Talente hinzugewinnen, während jene verlieren, aus denen die jungen Menschen abwandern, sei es Italien, Bulgarien, Russland oder Japan. Junge Menschen sind der entscheidende Faktor. Sie sind an erschwinglichem Wohnraum, guter Bildung, großem Arbeitsplatzangebot, liberaler Kultur interessiert. Städte oder Länder, die diese Tugenden bieten, werden gewinnen.
In Österreich dominiert Law-and-Border-Politik – gleichzeitig herrscht Fachkräftemangel. Wie passt das zusammen?
Khanna
Einwanderungspolitik sollte eine Frage von Angebot und Nachfrage sein. Es geht nicht um Pro- oder Anti-Immigration, sondern darum, den Bedürfnissen von Gesellschaft und Wirtschaft gerecht zu werden. Wenn diese Bedürfnisse mehr Zuwanderung erfordern, sollte es eine technokratische Expertenentscheidung und die entsprechende Umsetzung geben.
Wenn wir vor weltweit schweren Zeiten stehen, Städte überflutet und Landstriche ohne Wasser sein werden, werden wir überhaupt noch in der Lage sein, die Einwanderer auszuwählen?
Khanna
Ja, wenn Sie auf dichte, fußläufige Städte setzen, von denen es in Europa bereits viele gibt, den Wasserverbrauch besser steuern und in die Herstellung natürlicher Bedingungen investieren. Auch die Verbesserung unserer landwirtschaftlichen Produktion erfordert mehr Arbeit. Länder wie Griechenland oder Italien bräuchten mehr Landwirte, um für den Weltmarkt zu produzieren, drängen aber Migranten weg, die gute Landarbeiter sein könnten.
Der Klimawandel werde uns dazu zwingen, von einer sesshaften zu einer nomadischen Lebensweise zurückzukehren, schreiben Sie. Uns alle?
Khanna
Immer mehr Menschen sind aufgrund des Klimawandels, der Fernarbeit oder politischer Umwälzungen bereits zu Nomaden geworden und werden dies auch in Zukunft sein. Ihre Zahl geht weit über die Hunderte von Millionen hinaus und bewegt sich auf eine Milliarde zu. Oft ist ein Umzug kein einmaliger Prozess, sondern eine längere Reise. Mittlerweile verfügen wir über auch über die Technologien, um Hightech-Nomaden zu sein, etwa Starlink-Satellitennetze oder bewegliche Wohnungen, die im 3D-Druckverfahren herstellbar sind. Im Moment schaffen wir das für Millionen von Menschen, schon bald werden wir dieses Modell vielleicht für Dutzende von Millionen oder mehr skalieren.
Darauf ist heute keine der westlichen Demokratien vorbereitet. Die Integration junger, alleinstehender Männer ist nach wie vor eine Herausforderung und von kulturellen Konflikten begleitet. Wie soll das in Zukunft funktionieren?
Khanna
Natürlich gibt es kulturelle Fragen zu klären, aber wir können auch mehr Mittel für Assimilierungsmaßnahmen bereitstellen. Die Forschung zeigt ganz klar, dass die Sprachausbildung der Schlüsselfaktor ist. Und das schafft sogar mehr Arbeitsplätze.
Sie sprechen von einem komplett neu bevölkerten Globus. Wie muss man sich das vorstellen?
Khanna
Die Weltbevölkerung wird ihren Höchststand bei etwa neun Milliarden Menschen erreichen. Wir haben 150 Millionen Quadratkilometer bewohnbares Terrain. Es gibt also genug Platz für uns alle. Eine neu besiedelte Welt bedeutet in meinem Modell, dass möglicherweise im Lauf der Zeit zwei bis drei Milliarden Menschen aus Teilen Südamerikas, Afrikas, der arabischen Welt und Südasiens in lebenswertere Gebiete umziehen, die ohnehin mehr Menschen brauchen, weil ihre Bevölkerung geschrumpft ist, oder um ihre Ressourcen zu nutzen. Dies wird nur dann ein geordneter Prozess sein, wenn wir uns den richtigen Endzustand vorstellen.
Was geschieht mit den Gebieten, die entvölkert werden?
Khanna
Es wird „leere Staaten“ geben, wie ich sie nenne: Länder, die aufgrund des ökologischen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs aufgegeben werden. Man kann sich das in Teilen Afrikas oder in Ländern wie dem Jemen vorstellen. Deren Ressourcen können auch dann noch abgebaut werden, wenn es keine ständige Wohnbevölkerung mehr gibt. Jede geografische Region spielt in der Tat eine gewisse Rolle bei der globalen Arbeitsteilung.
Sie haben in vielen Ländern gelebt, derzeit leben Sie in Singapur. Fühlen Sie sich hier sicher oder sitzen Sie schon auf gepackten Koffern?
Khanna
Singapur ist eine der „Inseln der Stabilität“, die eine gute Regierungsführung, öffentliche Sicherheit, eine dynamische Gesellschaft und eine vernetzte Wirtschaft bietet. Solche Orte sind auf der Welt viel zu selten. Es wäre für mich sinnlos, die Koffer zu packen.

Zur Lage der Welt

  • Derzeit leben acht Milliarden Menschen auf der Welt, fast fünf Milliarden in Asien, eine Milliarde in Afrika, 750 Millionen in Europa, 600 Millionen in Nordamerika und 425 Millionen in Südamerika.
  • Am 27. Breitengrad leben mehr Menschen als an jedem anderen, das Gros in asiatischen Städten. In den vergangenen 6000 Jahren wurde der Gürtel zwischen dem 25. und dem 45. Breitengrad zum bevorzugten Lebensraum des Menschen.
  • Das Klima ist historisch betrachtet die stärkste treibende Kraft für Migration. Zwei Drittel der Weltbevölkerung leben heute in der Nähe von Flüssen. Die Landwirtschaft verbraucht 70 Prozent des trinkbaren Wassers.
  • Von der Eisdecke Grönlands schmilzt jedes Jahr so viel Wasser, dass man damit ein Drittel der Weltbevölkerung versorgen könnte.
  • Die größten Menschenströme verlaufen nicht vom globalen Süden in den globalen Norden, sondern innerhalb von Regionen und Nachbarregionen. 25 Mllionen wandern jährlich innerhalb der ehemaligen Sowjetunion, 20 Millionen Latinos bewegen sich innerhalb von Nord- und Mittelamerika, 15 Millionen innerhalb Afrikas, 15 Millionen Südasiaten ziehen in die Golfländer, 12 Millionen EU-Bürger bewegen sich innerhalb der EU. Die meisten Migrantinnen und Migranten kommen also nicht besonders weit - noch!
  • Europa altert, aber die Welt als Ganzes ist eher jung. Die Millenials (geboren 1981 bis 1996) und die Generation Z (1997 bis 2014) machen 64 Prozent der gesamten Menschheit aus Die Generation Alpha (geboren ab 2015) wird kleiner ausfallen, weil die jüngeren Generationen weniger Kinder bekommen.
  • Die Arktis hat mir nur fünf Millionen Einwohnern auf einer Fläche Afrikas das Potential, eine Milliarde Menschen oder mehr aufzunehmen. Werden die globalen Wanderungen allerdings nicht umweltschonend geplant und wird die Arktis ökologisch ruiniert, gibt es keine weiteren Optionen mehr.

Quelle: Khanna, Parag: Move. Das Zeitalter der Migration. Rowohlt 2021.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

war von 1998 bis 2024 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges.