Kurz und die EU: Europadämmerung

Christa Zöchling über die VP-Generation "Sebastian Kurz", die Europa pragmatisch und ohne Visionen begegnet, allenfalls den eigenen Vorteil sucht.

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Er habe dem Geist der Solidarität zum Durchbruch verholfen, so Kanzler Sebastian Kurz vergangene Woche in einem "ZIB 2"-Interview. Er könne nicht akzeptieren, dass es bei der gemeinsamen Impfaktion in Europa "Gleiche und Gleichere" gibt. So hatte man den jungen Kanzler noch nie gesehen: mit Verve und geröteten Backen ein Unrecht anprangernd, den Schwächeren zu Hilfe eilend.

Harsche Worte gegen Brüssel ist man von Kurz gewöhnt. Klagen, die jeder auf Anhieb versteht: langsam, bürokratisch und undurchschaubar. Dass Brüssel ein Moloch ist, gehört mittlerweile zum Alltagswissen. Dass hier alles Mögliche verschachert wird, vor allem nationale Interessen, glaubt der Österreicher sofort. Das wird ihm seit Jahrzehnten eingebläut, und es gibt immer neue Vorfälle, die seinen Zorn entfachen.

Aufs Tempo beim Impfen drückte Kurz schon im Dezember, als die Europäische Arzneimittelbehörde in unschuldiger Beamtenlogik die Weihnachtsferien ins Spiel brachte, um zu begründen, warum das Zulassungsverfahren stocke. Es ging dann schneller.

Anfang März hob Kurz gemeinsam mit der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen nach Israel ab, um mit Premier Benjamin Netanjahu vage Pläne für eine gemeinsame Impfstoff-Produktion zu erörtern. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sah darin einen "Bruch der europäischen Solidarität", die deutsche "Bild"-Zeitung einen Coup - "Kurz bricht mit EU-Versagern".

Zukurzgekommen

Zuletzt sprach Kurz von "Basar-Methoden" bei der Impfstoff-Verteilung, setzte sich an die Spitze der Zukurzgekommenen. Der rechtsnationale ungarische Premier Viktor Orbán wusste auch sofort, dass hier "etwas nicht stimmt". Gesundheitsminister Rudolf Anschober von den Grünen lag zu diesem Zeitpunkt angeschlagen im Krankenhaus, der Impfkoordinator der Republik, ein Beamter vom Typus Hofrat, wurde rasch als Schuldiger ausgemacht, weil auch Österreich seine Möglichkeiten nicht ausgeschöpft hatte (siehe unten).

Am Ende überbrachte Kurz die Frohbotschaft, es gebe nun zehn Millionen Impfdosen mehr, Österreich profitiere davon auch ein bisschen.

Die EU-Kommission hatte dies im Eiltempo organisiert, weil sie mit Nationalstaaten wie England oder Israel, die beim Impfen viel weiter vorn sind, im Wettbewerb steht. Ob Kurz dies kalkuliert hatte?

Bisher war das Wort Solidarität in Kurz' EU-Politik nicht vorgekommen. Weder bei der Verteilung der Flüchtlinge, die an den Rändern Europas unter schlimmsten Lager-Bedingungen leben, noch bei der Hilfe für den Wiederaufbau nach den Verheerungen durch die Corona-Pandemie. Auch da war Kurz, bald Wortführer der "sparsamen Vier" - auch die "vier Geizhälse" genannt -, hart geblieben.

Gegen den Rat namhafter Ökonomen, die es selbstbeschädigend fanden, Italien oder Spanien im Stich zu lassen, machten die Geizhälse gegen Zuschüsse mobil und wollten Kredite nur gegen strengste Kuratel vergeben.

Das war keine Lösung im Sinne Europas, sondern - wie Kurz selbst unumwunden zugab - der Beweis, dass es mit Bündnissen auch den Kleinen in der EU gelinge, "eigene Interessen durchzusetzen". Am Ende stand ein Kompromiss, ein Mix aus Krediten und Zuschüssen, wie von Anfang an geplant. Doch der Sturm, der ein paar Wochen durch die Institutionen fuhr, wird in Erinnerung bleiben.

Vizekanzler Werner Kogler sagt, die Grünen wären "mutiger und europäischer" aufgetreten. Wenn, ja, wenn sie etwas zu sagen gehabt hätten.

Die Europapolitik der ÖVP, einst zur DNA der Volkspartei gehörend, geht heute in eine Art Europadämmerung über. Für die "Generation Kurz" ist Europa immer schon da gewesen, ein Hintergrundgeräusch, um das man sich nicht kümmern musste. Man ist weit entfernt von den Kämpfen um Österreichs EU-Beitritt oder die Europäische Verfassung, von Jacques Delors, dem EU-Kommissionspräsidenten, der intellektuelle Debatten über Sinn und Zukunft Europas anstieß, Binnenmarkt und Währungsunion in die Wege leitete.

Sündenbockstrategie

Als Kurz anfing, sich für Politik zu interessieren, war die EU in seinem Umfeld nicht gut angeschrieben. Wegen der FPÖ-Regierungsbeteiligung war das Kabinett von Wolfgang Schüssel (ÖVP) unter Quarantäne gestellt. Damals glaubte man in Europa noch an die heilsame Wirkung eines Cordon sanitaire gegenüber rechtsnationalistischen Strömungen.

Dazu kam eine weitverbreitete Unart: Erfolge auf europäischer Ebene schrieben sich Politiker selbst zu, unangenehme Neuerungen jedoch der Europäischen Kommission. In die Europapolitik jeder Partei war die Sündenbockstrategie eingeschrieben, mehr oder weniger.

Für die Junge ÖVP, in der Kurz aktiv wurde, war Brüssel nicht viel mehr als ein Ort, den man gesehen haben sollte. Für seine rasante Karriere irrelevant; ein Praktikum in Brüssel hat er nie absolviert. Als Chef der Jungen ÖVP netzwerkte Kurz an der Seite des damaligen Außenministers Michael Spindelegger, von dem es am Ballhaus hinter vorgehaltener Hand hieß, seine Außenpolitik ende in Mistelbach. Betriebsbesuche, Feuerwehrfeste, "Kamingespräche" standen bei der JVP am Programm. Man mühte sich ab mit rechten Krawallmachern bei Zeltfesten, Alkoholexzessen und einem schrillen "Geil-o-Mobil"-Wahlkampf in Wien. Später stellte die Kurztruppe die Claqueure des "Aufgeht's"-Teams für den Spindelegger-Wahlkampf - der Anfang des Projekts Ballhausplatz.

Ein Sprungbrett zum Weltenbürger wurde für Kurz das Außenamt. Nicht so sehr der diplomatische Dienst - "ein herrliches Instrument, wie eine Stradivari-Geige", so nannte der Spitzendiplomat Albert Rohan das besondere Ambiente-, sondern der Weltwirtschaftsgipfel in Davos oder die legendären Pioniere in Silicon Valley. Das interessierte ihn mehr als Staatsbesuche oder EU-Gipfel. Er sprach von seinem "jüngeren Blick".

Es fiel ihm leicht, auf Loyalitäten zu pfeifen, ältere Kollegen im Kreise der Außenminister, die ihm, dem Jüngsten, anfangs mit Rat und Tat zur Seite standen, zu überrumpeln. Die Balkan-Konferenz 2016 mit Ungarn, Serbien, Mazedonien, Slowenien und Kroatien, die den Bau von Grenzzäunen anpeilte, war als Anti-Merkel-Aktion geplant. Die berühmte Balkanroute war zwar nie geschlossen, das Schlepperwesen blühte, doch der Durchzug von Flüchtenden stockte, und Kurz bestritt damit seine Wahlkämpfe. In deutschen Talkshows war er gern gesehener Gast, oft in der Rolle eines Pflichtverteidigers von Viktor Orbán.

Hochrangige EU-Politiker sahen darin eine Zeit lang einen Vorteil. Kurz konnte auf Krisengipfeln der EU noch mit Orbán reden. Herausgekommen ist nichts dabei. Auch nicht beim Visegrád-Bündnis, Kurz' Achse zu Polen, Tschechien, Ungarn und Slowakei.

Desinteresse an EU-Ratspräsidentschaft

Sichtbar war sein Desinteresse während Österreichs EU-Ratspräsidentschaft 2018. Vor dem EU-Parlament hielt Kurz eine erbärmliche Rede. Er, der sonst jeden Auftritt plant, tat sich nicht das Geringste an: "Daher wollen wir als Ratsvorsitz einen Fokus auf die großen Fragen legen. Wir glauben, fest im Sinne der Subsidiarität, dass es notwendig ist, auf die großen Fragen zu fokussieren. (...) Wir sind uns sicherlich nicht überall einer Meinung (...) aber vielleicht ist es auch genau das, was auch ein Stück weit uns in Europa ausmacht, dass wir es uns leisten können, unterschiedlicher Meinung zu sein und gleichzeitig aber auch wissen müssen, dass wir darauf fokussieren sollten, wo wir einer Meinung sind, auf die Ziele auch fokussieren, wo wir Kompromisse erzielen können. Das ist das Ziel unseres Ratsvorsitzes. Wir wollen Brückenbauer sein und auf Themen fokussieren, wo es gemeinsam möglich ist, unsere EU voranzubringen."

Die österreichische EU-Präsidentschaft ging sang- und klanglos vorüber.

Im darauffolgenden Jahr, nach Bekanntwerden des Ibiza-Videos, bestritt Kurz den EU-Wahlkampf mit der schrillen Ankündigung, 1000 Verordnungen streichen zu wollen. Größter Publikumserfolg war die Behauptung, die EU wolle durch neue Vorschriften "Pommes und Schnitzel verbieten". Der Tweet ging viral. Die Brexit-Kampagne warb mit Text und Bild des Österreichers.

Kurz surft mit natürlicher Sicherheit auf den Wellen des Zeitgeistes, setzt auf Neidgenossenschaft und hat damit Erfolg. Als er 2011 in der Bundespolitik ankam, sah er Politik als "totalen Intrigantenstadl. Ein System, in dem man darum kämpfen muss, in der Sache was zu bewegen." Wie Kurz das heute sieht? Wofür er in der EU steht? Das hängt vermutlich vom Zeitgeist ab, von volatilen Allianzen und Gelegenheiten, in eigener Sache zu performen und zu gewinnen.

CHRISTA ZÖCHLING hat bei ihrer Recherche am allermeisten überrascht, dass sie keine programmatische oder Grundsatzrede gefunden hat, aus der hervorgeht, wie sich Kanzler Kurz die Zukunft der Europäischen Union vorstellt.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling