1945: Opfer des Konzentrationslager Mauthausen.

KZ Mauthausen: "Wo sie zugrunde gehen"

Bis heute ist die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen nicht umfassend aufgearbeitet worden. Lange Zeit wurden bestimmte Opfergruppen totgeschwiegen.

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Als der blutjunge US-Soldat Benjamin Ferencz am 6. oder 7. Mai 1945 als Mitglied der "War Crime Unit" in einem Jeep durch das Tor des befreiten Konzentrationslagers Mauthausen fährt, blickt er in die Hölle menschlichen Daseins. Er sieht "lebende Skelette im Müll umherirrend, nackt oder mit Fetzen am Leib, manche noch in der blau-weißen Sträflingskleidung. (...) Hier in Mauthausen hat sich die Nazi-Herrenrasse Unglaubliches einfallen lassen, um Menschen zu quälen und zu vernichten. (...) Da sind noch tausend andere Dinge, die ich sah, aber ich kann sie nicht erzählen", schreibt er in einem Brief an seine Frau.

Wenige Tage später in Ebensee. "Auch hier lebende Tote", notiert er. Der Jurist ist außer sich. Als eine Gruppe ehemaliger Lagerinsassen einen flüchtenden SS-Wärter einfängt, den Mann gnadenlos zusammenschlägt, auf eine Trage fesselt, in den Krematoriumsofen schiebt und langsam und bei lebendigem Leib verbrennt, greift Ferencz nicht ein. Er versucht es nicht einmal. Er steht stumm daneben. Zu viel war geschehen.*

Der Schrecken wurde zur Idylle umgestaltet.

Es ist die Struktur der Grausamkeit in den Konzentrationslagern, der Alltag der Menschenvernichtung, die uns immer noch unfassbar erscheinen. Auch wenn man dachte, man wisse bereits alles über die Verbrechen des NS-Regimes, so wirft das ehemalige KZ Mauthausen mit seinen Dutzenden Nebenlagern auch 78 Jahre nach seiner Errichtung noch Fragen auf: War dort nicht eine besonders große Anzahl an sogenannten "Kriminellen" inhaftiert? Waren diese auch Opfer des NS-Regimes? Ein Skandalartikel in der rechtsextremen Zeitschrift "Aula", in dem KZ-Befreite als "Massenmörder" und "Landplage" denunziert werden, hat die Debatte angestoßen (profil 35/2016). Der Grüne Bildungssprecher Harald Walser fordert nun die Rehabilitierung der sogenannten "Kriminellen".

Das ist kein besonders populäres Unterfangen, denn in der österreichischen Erinnerungspolitik ist das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen der Ort, an dem der Antifaschismus im "Geist der Lagerstraße" gewürdigt wird. Das sieht man auch an der Geschichte der Gedenkstätte: Der Schrecken wurde zur Idylle umgestaltet.

Wie eine malerische Festung steht das ehemalige Todeslager in einer wunderschönen Landschaft. Der Besucherparkplatz für Großveranstaltungen ist buchstäblich auf Leichenbergen gebaut. Die Verwaltung der Gedenkstätte residiert im früheren SS-Stabsgebäude. Der Appellplatz, auf dem die Häftlinge jeden Morgen und jeden Abend im Dreck antreten mussten, ist asphaltiert. Am Fuße der Todesstiege im Steinbruch, wo herabgestoßene Häftlinge aufprallten, beim Tümpel, der ihr Grab wurde, machte bis vor wenigen Jahren ein Schild darauf aufmerksam, dass hier "Ballspielen, Radfahren und Schwimmen verboten" sei.

Ein Jude, der Auschwitz oder Mauthausen überlebt hatte, bekam -nichts.

Bevor das KZ im Juni 1947 als Gedenkstätte der Republik eröffnet wurde, war es ein Jahr lang leer gestanden, in einem devastierten Zustand. Die Menschen aus der Umgebung hatten sich geholt, was sie brauchen konnten: Baumaterial, Türen, Fensterläden, Öfen. In der Lokalpresse wurde das ehemalige KZ als "unösterreichischer", "landfremder" und "nicht zur österreichischen Kultur gehöriger" Schandfleck betrachtet. Von katholischer Seite wurde vorgeschlagen, das ganze Lager plattzuwalzen und ein riesiges, in der Nacht leuchtendes Kreuz aufzustellen. Der sozialdemokratische Bürgermeister von Mauthausen wollte ein Erholungsheim daraus machen. Proteste ausländischer Botschaften, der politischen Häftlingsorganisationen und des Internationalen Mauthausenkomitees, das die Mehrheit der Überlebenden repräsentierte, konnten das verhindern.

Am Tor zum Eingang wurde am 2. Juli 1947 eine Tafel angebracht, auf der eine (etwas zu hoch) angenommene Zahl der in Mauthausen getöteten Häftlinge nach Nationalitäten verewigt wurde. Unter den Deutschen und Österreichern seien mehr als 17.000 Opfer gewesen. Doch der zuständige Beamte im Innenministerium entschied, davon nur jeden Zehnten anzuerkennen, da "der Großteil der deutschen und österreichischen Häftlinge Kriminelle waren", so die Aktennotiz. Das liest sich so, als wären sie zu Recht im Konzentrationslager gelandet - und es war wohl auch so gemeint. Die ehemaligen "politischen Häftlinge" hatten nichts dagegen eingewendet. Sie wollten sich abgrenzen. Die NS-Propaganda, wonach es sich bei KZ um Straflager gehandelt habe, deren Insassen Verbrecher gewesen seien, war nach 1945 tief im Denken der Bevölkerung verankert. Auch jüdische Opfer werden auf dieser Tafel nicht erwähnt. (Sie befindet sich übrigens bis heute ohne jede Erklärung im Eingangsbereich.)

Es ist kaum vorstellbar, aber in den ersten beiden Jahren nach dem Krieg wurden nur politische Häftlinge als Opfer des NS-Regimes anerkannt. Ein Jude, der Auschwitz oder Mauthausen überlebt hatte, bekam -nichts. 1947 konnten Juden unter dem Titel der "passiv zu Schaden Gekommenen" einen Opferausweis beantragen, ab 1948/49 auch eine Rente. Doch dafür mussten sie schlimmere gesundheitliche Schäden nachweisen als andere NS-Opfer.

Als Todeslager war Mauthausen lange Zeit nicht ins Bewusstsein der Österreicher gerückt.

Über Homosexuelle, Roma und Sinti und wurde lange geschwiegen, ebenso über bestimmte Frauen, die als "Asoziale" ins KZ eingeliefert worden waren und im Lagerbordell hatten arbeiten müssen. Das Lagerbordell selbst, das 1942 für privilegierte Häftlinge eingerichtet worden war, war ein Tabu. Unter politischen Ex-Häftlingen herrschte die Meinung vor, diese Frauen seien ohnehin Prostituierte gewesen.

Ein weiteres Problem in der Erinnerungskultur war die Gaskammer in Mauthausen. Ihre technischen Teile waren von den SS-Wachmannschaften abmontiert worden, um Spuren zu verwischen. Die Besucher der Gedenkstätte wurden jahrelang im Unklaren darüber gelassen, dass es sich beim Krematoriumsofen teilweise um eine Nachkonstruktion handelte. Alte und neue Nazis behaupteten, es habe in Mauthausen nie eine Gaskammer gegeben. Mit Häme wiesen sie darauf hin, dass ein Krematoriumsofen ohne Kaminabzug kaum funktionieren könne.

In den Geschichte-Schulbüchern aus den 1960er-und 1970er-Jahren kam Mauthausen einfach nicht vor, wie eine Studie von Peter Malina belegt. Stattdessen lernten die österreichischen Kinder, dass "fast alle Politiker im Jahr 1945 aus dem Widerstand und dem KZ" gekommen seien.

Als Todeslager war Mauthausen lange Zeit nicht ins Bewusstsein der Österreicher gerückt. Es ist den Forschungen von Bertrand Perz und Florian Freund zu verdanken, dass wir heute das riesige Lagersystem, seine Vernichtungsmaschinerie und die Häftlingsgesellschaft etwas besser kennen.

Der Historiker Andreas Kranebitter beschäftigt sich nun mit den "Asozialen", "Berufsverbrechern" und "Sicherungsverwahrten". Etwa 19.000 Menschen waren unter diesen Kategorien im KZ Mauthausen inhaftiert. Sie stellten nicht, wie oft behauptet, die Mehrheit der Funktionshäftlinge und Kapos, die ihre Mitgefangenen oft zu Tode quälten. Bei "Berufsverbrechern" handelte es sich um vorbestrafte, meist Kleinkriminelle, die keine feste Arbeit hatten. Nach einem Erlass vom 31.3.1938 wurden sie mithilfe des Strafregisters zur "vorbeugenden Verbrechensbekämpfung" ins KZ Mauthausen eingeliefert. Im Herbst 1942, als die Vernichtungsmaschinerie auf Hochtouren anlief, wurden Abertausende "asoziale Elemente aus dem Strafvollzug zur Vernichtung durch Arbeit in die Konzentrationslager" eingeliefert (so das Protokoll eines Abkommens zwischen SS und Justiz). Reichsjustizminister Otto Georg Thierack hatte sich bei der SS für diese Lösung artig bedankt: Er sei "heilfroh", dass er über "unwertes Leben nicht selbst entscheiden" müsse: "Aber es muss vernichtet werden."

Das gelte auch für Sicherheitsverwahrte: "Sie alle werden dort eingesetzt, wo sie zugrunde gehen."

Braucht es noch etwas, um NS-Opferstatus zu begründen? Vielleicht eine Debatte jenseits der Mythenbildung, das Aushalten von Ambivalenz.

*) Die Dokumentation "Law not war" der deutschen Filmemacherin Ullabritt Horn wurde 2014 erstmals im Kino gezeigt. Sie erzählt die Geschichte von Benjamin Ferencz, der im Alter von 27 Jahren Chefankläger in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wurde. Heute engagiert sich der 96-Jährige für den Internationalen Gerichtshof in Den Haag.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling