ÜBERGANGSCHEF: Peter Kolba (58) ist seit dem Rückzug von Peter Pilz interimistischer Klubobmann der Liste Pilz. Nach dem Einzug ins Parlament muss nun – abseits der Krisen-PR – eine ganze Klubstruktur aus dem Boden gestampft werden.

Plötzlich Parlament: Die Liste Pilz auf Selbstfindungstrip

Die Liste Pilz schaffte es quasi als One-Man-Show in den Nationalrat. Nun steht sie ohne ihren Namensgeber da und muss an allen Fronten improvisieren.

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Peter Kolba hatte andere Pläne. Eigentlich wollte sich der ehemalige Chefjurist des Vereins für Konsumenteninformation (VKI) schon längst seinen Leibthemen widmen: Konsumentenschutz und Liberalisierung von medizinischem Cannabis. Stattdessen sitzt Kolba, 58, jetzt fast täglich Journalisten gegenüber und muss immer dieselben Fragen beantworten: Ja, Peter Pilz sei noch auf Urlaub. Nein, wann er zurückkehre, wisse er nicht: „Er soll jetzt einmal runterkommen von der Palme.“ Zurückkommen werde er aber ganz sicher – die Liste brauche ihn. In welcher Rolle, sei noch nicht geklärt. Sein Nationalratsmandat werde er jedenfalls nicht annehmen. Er, Kolba, mache den Klubobmann jetzt einmal interimistisch, um „Ruhe reinzubringen“. Und nein, die Liste Pilz sei sicher kein zweites Team Stronach, sondern ein „ziemlich gutes und arbeitsfähiges Team“. Man brauche jetzt aber drei Monate, um sich „im Parlament professionell aufzustellen“. Also bitte Geduld.

Drei Monate sind ein ambitioniertes Ziel. Seit Peter Pilz wegen Vorwürfen der sexuellen Belästigung sein Mandat zurückgelegt hat, übt sich seine junge Partei in Improvisation. Abseits der Krisen-PR muss eine ganze Klubstruktur aus dem Boden gestampft werden. Acht Abgeordnete müssen mehr als 30 parlamentarische Ausschüsse abdecken. Dabei stellt sich für mehr als 50 Prozent von ihnen aktuell noch die Frage: Was passiert eigentlich in einem solchen Ausschuss?

Wolfgang Zinggl hat sich das auch anders vorgestellt. Der ehemalige Kultursprecher der Grünen, der genauso wie Pilz im Juni von der grünen Basis abgewählt worden war, sitzt jetzt wieder in seinem alten Büro. Dass gerade die Liste Pilz – an der Demontage der Grünen nicht unbeteiligt – die ehemaligen Räumlichkeiten des Grünen Parlamentsklubs bezogen hat, lässt auch ihn nicht ganz kalt: „Es war gespenstisch, als ich das erste Mal ins leere Büro kam. Nichts war mehr übrig, nur ich und meine Wandmalereien.“

Das Kulturprogramm, das er noch für die Grünen verfasste, gelte „mit jedem Beistrich“ auch für die Liste Pilz, sagt Zinggl. Er wolle sich weiterhin für Denkmalschutz und kulturelle Vielfalt einsetzen, aber dafür bleibe gerade wenig Zeit: „Ich muss jetzt ein paar Rollen gleichzeitig übernehmen.“ Während sich Kolba um die Kommunikation nach außen kümmert, übernimmt Zinggl vorübergehend die Aufgaben des Klubobmanns im Parlament und ist außerdem parlamentarischer Ordner.

"Wir müssen den Neuen alles erklären"

Das Klubbüro selbst gleicht einer Baustelle. Es fehlen Möbel und Wände, es gibt keine Computer, die Telefone funktionieren nicht. „Wir müssen Personal aufnehmen, wir haben noch kein Geld auf dem Konto“, klagt Zinggl. „Ich will nicht jammern, aber gewohnt bin ich das nicht.“ Als Zinggl 2004 ins Parlament einzog, fand er einen längst funktionstüchtigen Klub vor. Die aktuelle Situation ist auch für ihn Neuland. „Was dazu kommt: Wir müssen den Neuen alles erklären.“ Zinggl zählt mit Bruno Rossmann, dem ehemaligen Budget- und Steuerexperten der Grünen, und der Ex-SPÖ-Abgeordneten Daniela Holzinger-Vogtenhuber zu den Einzigen mit parlamentarischer Erfahrung in der Liste Pilz. „Das fängt beim Aufsetzen einer Presseaussendung an“, sagt Zinggl: „Es geht um Fragen wie: Was ist eine dringliche Anfrage? Die ganze Geschäftsordnung müsse erst gelernt werden. „Aber sie sind eh sehr engagiert.“

Stephanie Cox, mit 28 Jahren die Jüngste im Team, sieht die Dinge gelassener. Wenn sie über ihre neue Aufgabe als Parlamentarierin spricht, dann klingt sie so, als stehe sie vor einem großen Abenteuer. Cox wurde durch die Flüchtlingsinitiative „Chancenreich“ bekannt und ist seit Jahren in der Start-up-Szene tätig. Wie es in Ausschüssen ablaufe, wisse sie zwar noch nicht, „aber das werde ich auch noch lernen“. Ihr dringlichstes Ziel: im Parlament „funktionsfähig“ zu werden: „Neben der Geschäftsordnung gibt es viele ungeschriebene Gesetze im Parlament.“

Schon am Tag der Angelobung erntete Cox irritierte Blicke von Abgeordneten, weil sie händeschüttelnd durch die Reihen ging. „Ich wusste nicht, dass das nicht üblich ist“, sagt sie und lacht. Cox wollte gleich in der ersten Sitzung des neuen Nationalrates eine Rede halten, um „ein starkes Zeichen zu setzen“. Ihre Aufregung konnte sie aber nicht ganz verbergen: „Wenn man da vorne steht, kommt einem nicht gerade viel Liebe entgegen.“ Als sie ans Pult trat, gingen ihr ganz praktische Fragen durch den Kopf: „Ist das Mikrofon an? Ist es seltsam, wenn ich kurz ‚check, check‘ hineinsage? Zählt die Redezeit am Timer neben dem Pult runter oder rauf?“

Ungewohntes Terrain

Die Grazer Umwelt- und Energiemanagerin Martha Bißmann, die statt Pilz ins Parlament einzog, sorgte am ersten Plenumstag selbst bei ihren Parteikollegen für Verwunderung, weil sie bei Reden von Politikern aus anderen Fraktionen immer wieder zu applaudieren begann. Irgendwann zischte ihr Sitznachbar Wolfgang Zinggl ins Ohr: „Du weißt schon, dass protokolliert wird, dass du jetzt bei der SPÖ geklatscht hast!“ Wenn Bißmann drei Wochen später von dieser Szene erzählt, bricht sie in Gelächter aus. Dass neben Zwischenrufen auch Applaus im stenografischen Protokoll vermerkt wird, wusste sie nicht: „Mir haben halt einzelne Passagen gut gefallen.“

Der Rückzug von Pilz hat die Liste „natürlich erschüttert“, sagt Bißmann. Der Partei, die es mit einer „One-Man-Show“ ins Parlament geschafft hat, fehlt nun das Aushängeschild. „Das mussten wir erst mal verdauen und uns strukturell neu konstituieren.“ Jetzt aber sei alles auf Schiene: „Wir sind sehr konstruktiv und zuversichtlich.“ Das sehen offenbar nicht alle so. „Im Hintergrund herrscht noch ziemliches Chaos. Hier treffen ganz unterschiedliche Menschen mit anderem Hintergrund und anderen Arbeitsweisen aufeinander“, sagt ein parlamentarischer Mitarbeiter der Liste.

Als sich Pilz wenige Tage nach seiner Abwahl beim Bundeskongress der Grünen im Juni mit ein paar Mitstreitern zusammensetzte, wurde die Idee geboren, etwas Neues zu schaffen: eine Gruppe von Experten und Engagierten, die losziehen, um das alte Parteiensystem aufbrechen. Freie Mandate, kein Parteiprogramm. Aber kann eine Partei, in der die Personen das Programm sein sollen, nachhaltig sein? Pilz selbst ist – zumindest vorerst – weg. Und auch Kolba, Rossmann (65) und Zinggl (62) werden nach dieser Legislaturperiode im Pensionsalter sein.

Zurzeit schwirren zwar viele Ideen herum: Es soll eine Online-Plattform für Bürgerbeteiligung geben, Rossmann will ein Gegengewicht zum neoliberalen Thinktank Agenda Austria aufbauen. Pilz hatte zumindest vor seinem Rückzug vor, ein investigatives Medium zu gründen. Anwalt und Justizsprecher Alfred Noll will mit linker Politik auch die SPÖ dazu zwingen, wieder weiter nach links rücken. Bißmann hingegen sieht die Liste Pilz als Partei „in der Mitte“. Wer danach fragt, was die Mitstreiter der Liste Pilz inhaltlich verbindet, bekommt derzeit nur Schlagworte zu hören: Kontrolle, Transparenz, soziale Gerechtigkeit. Ein klassisches Parteiprogramm sei nach wie vor nicht geplant, sagt Kolba: „Aber natürlich eine programmatische Verdichtung.“ Diese soll gemeinsam mit allen Aktivisten der Liste erarbeitet werden. In der zweiten Dezemberwoche wird ein großer Bundeskonvent stattfinden, wo es vor allem um eine Frage gehen soll: „Was ist unsere Vision?“ Doch bitte: Noch etwas Geduld.