Menschenrechtsexpertin Schulze: "80 Prozent sollten hier nicht sein“

Interview. Menschenrechtsexpertin Marianne Schulze über die aus dem Ruder gelaufene Idee: Therapie statt Strafe.

Drucken

Schriftgröße

INTERVIEW: EDITH MEINHART

profil: Man kommt leicht hinein und schwer heraus: Ist der Maßnahmenvollzug ein kleines Guantanamo? Marianne Schulze: Untergebrachte, mit denen ich gesprochen habe, sehen das durchaus so. Einer sprach von psychischer und seelischer Folter mit jahrelanger, scheinheiliger Begründung, ein anderer von einem Staat im Staat. Tatsächlich sprengt es jede Verhältnismäßigkeit, wenn ein älterer Mann eingewiesen wird, weil er in einem Pflegeheim ausgezuckt ist, oder randalierende Jugendliche hier landen, deren Eltern überfordert sind.

profil: Sie sind durch Österreich gefahren, um mit Insassen zu sprechen. Was wollten Sie herausfinden? Schulze: Wie die Untergebrachten den Maßnahmenvollzug erleben, denn man kann über eine Reform nicht reden, ohne die Betroffenen selbst einzubinden. Nachdem man mir gesagt hatte, dass sie nicht zu den Treffen der Arbeitsgruppe im Justizministerium kommen können, ging ich zu ihnen.

profil: Als Einzige? Schulze: Ich habe verschiedentlich gehört, man wisse, was die Leute brauchen. Doch dieser Paternalismus ist mit der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die Österreich 2008 unterschrieben hat, unvereinbar.

profil: Was muss sich nun konkret ändern? Schulze: Wir müssen in die Prävention investieren, die Sozialarbeit ausbauen und Menschen abholen, die psychiatrische Vorgeschichten oder extreme Gewalterfahrungen in der Kindheit haben. Viele Sexualstraftäter zum Beispiel merken, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, bevor sie ein Delikt setzen, werden aber an den verschiedenen Stellen abgeschmettert.

profil: Wie ist es um die Resozialisierung in der Haft bestellt? Schulze: Schlecht, und das ändert sich nicht automatisch, wenn die Verantwortung von der Justiz in den Gesundheitsbereich wandert und man Menschen in Pyjamas und zwischen Tuchenten steckt. Die praktischen Anforderungen des Lebens zu bewältigen, rechtzeitig therapeutische Unterstützung zu holen, lernt man weder im Gefängnis noch in der Psychiatrie, sondern am besten in Einrichtungen für maximal 20 Personen, die möglichst nahe an den Gemeinden sein sollten.

profil: Es gibt aber auch gefährliche Täter, die man von der Gesellschaft fernhalten muss, vielleicht ein Leben lang. Schulze: Es kann immer nur um ein Sichern gehen, das dem Ziel der Resozialisierung verpflichtet bleibt, selbst wenn die Taten, die jemand begangen hat, noch so grausam sind. Bei einer kleinen Gruppe kann man argumentieren, dass man sie zu ihrem eigenen Schutz nicht freilässt. Aber es kann keine Rede davon sein, dass das auf derzeit 800 Leute im Maßnahmenvollzug zutrifft.

profil: Wie viele sollten hier gar nicht sein? Schulze: Ich meine, 80 Prozent.

Die Hoffnungslosigkeit im Maßnahmenvollzug hinterlässt Spuren

profil: Sie würden acht von zehn Häftlinge freilassen? Schulze: Praktisch ist das unmöglich, weil viele seit Jahrzehnten eingesperrt sind und mangels Ressourcen keine Resozialisierung erfahren haben. Ich will die Taten, die sie begangen haben, nicht verharmlosen. Aber man muss anerkennen, dass Untergebrachte auch durch den Maßnahmenvollzug selbst gebrochen werden.

profil: Seine Erfinder hatten das Gegenteil im Sinn: Therapie statt Strafe. Schulze: Die Hoffnungslosigkeit im Maßnahmenvollzug hinterlässt Spuren, die man als Gewalterfahrung bezeichnen muss. Therapien beginnen oft erst eineinhalb Jahre nach der Einweisung. Das müsste viel früher sein, am besten in der U-Haft, und es braucht mehr externe Angebote. Manchmal werden Behandlungen für Jahre unterbrochen, weil ein Untergebrachter mit einem Therapeuten nicht kann und kein Ersatz verfügbar ist.

profil: Was erwarten Sie vom Justizminister? Schulze: Ein klares Bekenntnis, dass es keine Vollkasko-Gesellschaft gibt. Es ist seriös zu untersuchen, wenn einmal etwas passiert. Aber man darf deshalb nicht sämtliche Lockerungen streichen, wie das in den vergangenen 20 Jahren gemacht wurde. Zweitens erwarte ich ein Maßnahmenpaket, das weit über die Zuständigkeit der Justiz hinausgeht und Prävention, Jugendwohlfahrt, Psychiatrie und den Pflegebereich umfasst. Alles andere wäre keine grundlegende Verbesserung, sondern nur Beschwichtigung.

Zur Person:

Marianne Schulze, 39, leitet den Monitoringausschuss zur Überwachung der Einhaltung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. In dieser Rolle holte Justizminister Wolfgang Brandstetter sie in die Arbeitsgruppe zur Reform des Maßnahmenvollzugs. Die Stellungnahme des Ausschusses ist online verfügbar (http://monitoringausschuss.at/)

Mehr zum Thema:

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges