Analyse

NEOS: Das kleine Pink-bin-ich

Was können NEOS außer Kanzler-Kritik? Unter der Oppositionsobsession leidet der liberale Markenkern.

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Parteitage heißen bei NEOS - sie wollen selbst keinen Artikel vor dem Namen - "Mitgliederversammlung". Geladen sind keine Delegierten, sondern alle 3000 eingetragenen Pinken. Am vergangenen Freitag und Samstag - vor und nach profil-Redaktionsschluss - fand die Mitgliederversammlung in Linz statt. Wer oder was sind NEOS? "Wir sind die liberale Kraft der Mitte", sagt Parteichefin Beate Meinl-Reisinger.

Eine These lautet allerdings, Österreich brauche keine eigene liberale Partei, weil sich liberales Gedankengut ausreichend in allen Parteien von rechts bis links finde. Auch die Pinken machen derzeit den Eindruck, als ob an der These etwas dran sein könnte. Denn Liberal hat bei NEOS derzeit keine Saison. Im Vordergrund steht Kanzler-Kritik. Spricht man Meinl-Reisinger &Co darauf an, reagieren sie mit Empörung und Erklärung. Man liefere konstruktive Alternativen und liberale Konzepte am laufenden Band, aber leider seien die Medien wenig interessiert. Stimmt das so? Wo steckt denn das Liberale und Konstruktive bei NEOS?

Oppositionsobsession

So geht Arbeitsteilung: Erst zeigte NEOS-Abgeordnete Stephanie Krisper Bundeskanzler Sebastian Kurz wegen Falschaussage vor dem Ibiza-U-Ausschuss an, dann formulierte Parteichefin Beate Meinl-Reisinger im ORF die in eine Frage gegossene Vorverurteilung: "Ist den Österreichern ein krimineller Bundeskanzler zumutbar?"

Keine Frage: Das Verhalten der Türkisen (Missachtung des U-Ausschusses, Ignorieren eines VfGH-Beschlusses, Attacken auf die Korruptionsstaatsanwaltschaft) verdient robusten Widerspruch. Die Wortwahl der NEOS ist aber doch von übertriebener Schärfe. So positioniert man sich als Wutpartei für Großstadtakademiker - und sollte sich nicht wundern, dass Medien über liberale Konzepte zum Neustart Österreichs weniger berichten. Zumal hinter den Attacken klares Kalkül steht. Der forsche Kurs vertreibt zwar ein paar bürgerliche Wähler, verleiht der Partei aber ein klares Profil.

Eine etwaige zukünftige Koalition mit Kurz schloss Meinl-Reisinger de facto aus. Diese ungewöhnlich offene Festlegung muss man anerkennen. Auch der ÖVP-Obmann freut sich über solchen Klartext, weil er die türkise Lieblingserzählung "Alle gegen Kurz" glaubhaft macht. Allerdings vermindert Meinl-Reisinger mit ihrer Absage auch die Chance einer pinken Regierungsbeteiligung. So viel Stolz muss man sich leisten können. Oder darf man es Oppositionsobsession nennen?

Mit Helmut Brandstätter haben NEOS zusätzlich einen Abgeordneten in ihren Reihen, dessen politisches Programm gern aus Scharmützeln mit dem Kanzler besteht. Die Abneigung des früheren "Kurier"-Herausgebers entlud sich im Ibiza-U-Ausschuss. Brandstätters Emotionen dürften den einen oder anderen Parteifreund bereits irritieren. Der Abgeordnete Sepp Schellhorn warf dem Kollegen unlängst vor, NEOS zu schaden. Brandstätter sieht kein Problem: "Wir stellen als Opposition Fragen. Die ÖVP kann damit schlecht umgehen."

Ironisch mutet es an, dass ausgerechnet Meinl-Reisinger derzeit vor "aufgeheizter Stimmung" und "Polarisierungen" warnt. Die Brachiallinie gegen die ÖVP hat sie aber nicht erfunden. Auch Vorgänger Matthias Strolz arbeitete sich bereits an seiner früheren Partei ab. Als Privatmann kippt er ins Verbalradikale. So nannte er die Attacken der ÖVP auf einzelne Staatsanwälte "strukturell faschistische Methoden". Die türkis "Partie" sei "hinterhältig" und würde "in der sozialen Ächtung" landen.

Wie Umfragen zeigen, wollen NEOS-Wähler mehr als andere ihre Partei regieren sehen. In Wien stellen sie den Vizebürgermeister in der rot-pinken Koalition, in Salzburg unter einem ÖVP-Landeshauptmann eine Landesrätin. Nachdem eine Koalition mit Kurz ausgeschlossen wird, ist eine Regierungsbeteiligung von NEOS - unter ÖVP-Obmann Kurz - nur über eine rot-grün-pinke Mehrheit möglich. Laut der jüngsten profil-Umfrage verfügt eine solche Dreierkoalition derzeit über 47 Prozent. NEOS-Minister wird es also wohl nicht so bald geben. Macht nichts, sagt der Abgeordnete Nikolaus Scherak: "Man kann auch aus der Opposition heraus liberale Politik betreiben." Doch was soll das überhaupt sein?

Think pink

Ende April hielt Beate Meinl-Reisinger eine Grundsatzrede im Wiener Haus des Meeres. Es sei Zeit, "die Fundamente unseres Landes genau zu prüfen und zu festigen, um dann endlich an dieser Vision für ein Neues Österreich zu bauen". Die pinken Hebel: Innovation, Unternehmertum, Bildung. Letztere war schon unter Strolz liberale Leitidee. Das erste Kapitel im pinken Parteiprogramm trägt allerdings die Überschrift: "Anständiges Österreich". Durchaus erfolgreich haben sich NEOS als Antikorruptionspartei positioniert. Und nun gibt es sogar ein überparteiliches Anti-Korruptionsvolksbegehren, das pink schimmert. Unter den Initiatoren finden sich die frühere NEOS-Abgeordnete Irmgard Griss; Heide Schmidt, Gründerin des Liberalen Forums, das 2014 mit NEOS fusionierte; und Michael Ikrath, früherer ÖVP-Abgeordneter, der bei der Wien-Wahl NEOS unterstützte.

Liberale Parteien tun sich schwer mit der Positionierung. "Wir sind liberal ohne Bindestrich", sagt Nikolaus Scherak. Soll heißen: weder rechts- noch links-liberal, nicht wirtschafts- oder gesellschafts-liberal, sondern umfassend.

Der Freiheitsbegriff erklärt sich leichter in der Negation: gegen Staatsgläubigkeit, Kollektivismus, Regulierungen. "Liberalisierung" findet sich im 57-seitigen pinken Parteiprogramm nur ein Mal, konkret im Wirtschaftsprogramm, wo "Liberalisierungen der Abschreibungsdauer von Betriebsanlagen" vorgeschlagen werden.

In der Corona-Pandemie sah sich der liberale Rechtsstaat herausgefordert, und NEOS befanden sich als dessen Verteidiger in einer Zwickmühle. Die türkis-grüne Einschränkung von Grundrechten konnten Liberale nicht akzeptieren. Aber was zählen Individualrechte, wenn sich Intensivstationen füllen? In ihrer Kritik konzentrierten sich NEOS vor allem auf die Lage der Kinder und Jugendlichen und forderten vehement die Öffnung der Schulen. Doch ausgerechnet der pinke Wiener Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr ließ sie noch im April geschlossen. Die Parteivorsitzende war davon alles andere als begeistert und soll dies auch massiv zum Ausdruck gebracht haben. Passt dieser Führungsstil zu einer liberalen Partei?

Woman-Show

Am Samstag (nach Redaktionsschluss von profil) wählten die NEOS-Mitglieder Beate Meinl-Reisinger in Linz erneut zur Chefin. Sie lenkt die Partei anders als ihr Vorgänger Matthias Strolz. Dessen Stil war kommunikativer. Meinl-Reisinger führt straffer. Strolz war ein konzeptioneller Typ, der sich in Visionen verlor und dem die eigene Partei nicht immer folgen konnte. Meinl-Reisingers Stärke ist das Packaging. Ihre Organisation bereitet ihr ein Thema auf, das sie dann gekonnt nach außen vermarktet, ein wenig so, wie das auch Kurz beherrscht.

Vom Lifestyle her zählen NEOS-Vertreter zum gehobenen (Wiener) Bürgertum mit Zweitwohnsitz im Salzkammergut. Die Akademikerdichte im Nationalrat ist hoch, das private Zusatzeinkommen vieler Abgeordneter auch. Die Partei hat zwar einen elitären Touch, macht aber keine Politik für Eliten. Wie bei den Grünen haben NEOS-Wähler nicht nur eigene Interessen, sondern auch übergeordnete. Pinkes Hoffnungsgebiet sind nicht mehr nur Groß- sondern auch Bezirkshauptstädte. Zu holen sind Wähler am liberalen Rand der ÖVP, bei enttäuschten Grünen, eventuell auch bei gemäßigten Freiheitlichen. Die Optimisten unter den NEOS sehen 15 Prozent im Bereich des Möglichen. Dies wäre freilich nahe der absoluten Höchstgrenze des liberalen Wählerpotenzials in Europa. NEOS wären dann eine milieuübergreifende kleine, aber feine Volkspartei - natürlich nur im politologischen Sinn.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.