Im Neunerhaus werden beim Zahnarzt nicht nur Zähne gezogen, sondern auch Prothesen eingesetzt.

Das Neunerhaus: Im Wartezimmer der Armen

Schlechte Zähne sind das Stigma der Ausgegrenzten. In der Zahnarztpraxis des Wiener Neunerhauses werden die Obdachlosen, Drogenkranken und Unversicherten behandelt.

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Wie lange lacht der alte Mann mit den tellergroßen Händen schon auf diese eigentümliche Weise? Furchtsam presst er die Lippen zusammen, sodass sich jede seiner kleinen Fröhlichkeiten durch einen winzigen Schlitz nach außen zwängen muss. Vielleicht machte er das schon all die Jahre, in denen ihn die Sorge niederdrückte, wo er und seine Frau schlafen sollen. Von einem Bekannten ging es zum nächsten, von einer Notschlafstelle zur anderen, bis sie endlich zwölf Quadratmeter in einem Übergangsheim fanden. Nun hoffen sie auf eine Gemeindewohnung.

Wie ein grau gewordener Bär auf einem zu kleinen Sessel wartet der Mann vor dem Behandlungszimmer, aus dem ein Bohrer zu hören ist. Zu Hause kocht seine Frau für ihn Weiches, das er nicht kauen muss. Beim Arzt antwortet sie für ihn, wenn er auf Deutsch etwas nicht versteht. Miteinander reden sie ungarisch. Mit angestrengtem Gesichtsausdruck füllt sie für ihn nun den Fragebogen der Sozialarbeiterin aus. "Er hat keine Zähne mehr. Sein Magen macht Probleme“, sagt sie. Adresse? Einkommen? Medikamente? Schwer atmend sucht der Mann die Fetzen, die er von seinen Tablettenschachteln abgerissen hat. "Gegen Schmerzen und hohen Blutdruck“, sagt seine Frau.

Die Geschichten hinter den Zahnfällen handeln von verlorenen Sicherheiten und entgleisten Biografien, von Globalisierung, Migration und Armut.

Vergangene Woche in der hellen, freundlichen Zahnartzpraxis des Neunerhauses in Wien-Margareten: Die Räume sind in Weiß und Limone ausgemalt. An der Rezeption kleben Buntstiftzeichnungen von Kindern. Man soll es nicht sofort sehen, dass hier die Ärmsten behandelt werden, "ungeachtet der Herkunft oder des Versicherungsstatus“, wie es auf der Website heißt. Die Ärztinnen und Ärzte arbeiten ehrenamtlich. Heute ist Michaela Stadler-Niedermeyer da, so wie jeden Dienstag. Manche ihrer Kollegen kommen ein Mal im Monat. Ihre Patienten sind Wohnungslose und Drogenkranke mit verfärbten Gebissruinen, sozial Abgestürzte aus dem armen Osten Europas, neuerdings auch aus Griechenland und Portugal. Manchen fehlen oben oder unten ganze Zahnreihen. Und Flüchtlinge, die ein pochender, akuter Schmerz in die Ordination treibt.

Schlechte Zähne sind das Stigma der Ausgegrenzten. Die Geschichten hinter den Zahnfällen handeln von verlorenen Sicherheiten und entgleisten Biografien, von Globalisierung, Migration und Armut. Sozialarbeiterin Magdalena streckt jedem, der zum ersten Mal den Weg ins Neunerhaus findet, die Hand hin. Sie weiß, dass die U6-Station Josefstädter Straße ein Tagesheim für Obdachlose ist und wie man mit einem Gegenüber redet, das in einem ausrangierten Zugwaggon nächtigt. Mit den meisten ist sie gleich per Du.

Das Team verständigt sich mit kurzen Sätzen und Blicken. Verena, die Zahnarztassistentin, ist sowohl Ruhepol als auch Epizentrum der Praxis. "Karl“, ruft sie ins Wartezimmer und schubst einige Minuten später einen ehemals wohl eleganten Herrn mit einem blutigen Tampon zwischen den Zähnen aus dem Arztraum. Ihre Handgriffe sind geübt und sanft. Einem Serben, der sie nicht versteht, legt sie ihre in Latex gezwängte Hand auf die Schulter: "Komm mit! Foto!“ Kurz darauf sieht man sie im Röntgenkammerl hantieren, Sekunden später quetscht sie sich mit einem Tablett voller Zahnabdrücken hinter dem Rücken der Rezeptionistin vorbei.

Er hat sich Sorgen gemacht, weil ihn hier niemand versteht.

Am Balkon herrscht ein Kommen und Gehen der Raucher. Manuel* nimmt mit seinen Röntgenbildern auf dem Sessel Platz, auf dem noch vor einer Stunde der massige, alte Mann ohne Zähne saß. Manuel ist 27. Der weiße Overall, mit dem er sonst am Bau steht, schlottert um seinen abgemagerten Körper. Er war 16, als sein krebskranker Vater und seine Mutter, eine Alkoholikerin, starben. Manuel begann zu trinken, mischte den Alkohol mit Drogen und zog von einem Jugendheim ins nächste. Inzwischen ist er in einem Drogenersatzprogramm gelandet und hat eine Maurerlehre begonnen. Seit einer Woche hat er eine Gemeindewohnung und bald vielleicht Zähne, für die er sich nicht mehr genieren muss: "Ich bin auf einem guten Weg“, sagt er. Sein jüngerer Bruder hat sich als Zeitsoldat verpflichtet. Neulich schickte er von seinem Einsatz an der Grenze bei Spielfeld eine SMS: "Ich passe hier auf, dass die Flüchtlinge nicht über die Grenze rennen.“

In der Praxis der Armen verdichtet sich die Gegenwart. Ein paar Sessel weiter hat Marah*, eine Syrerin im weinroten Hijab, Platz genommen, die vor wenigen Wochen aus Ungarn über die Grenze nach Österreich kam. Sie wartet, dass die Betäubungsspritze wirkt und die Ärztin den Zahn aufbohrt, der sie seit Tagen peinigt. Der kreisende Blick der Zahnarztassistentin bleibt an Marah hängen: "Kannst du übersetzen?“, fragt Verena. Ein hagerer Syrer mit schütterem Schnurrbart liegt mit zurückgebogenem Kopf im Behandlungssessel. "Er hat sich Sorgen gemacht, weil ihn hier niemand versteht“, sagt Marah, als sie ins Wartezimmer zurückkommt. Sie hat in Syrien, wo sie ihren Mann im Bürgerkrieg verloren hat, Englisch studiert. In ihrer Umhängetasche bewahrt sie ihr Abschlussdiplom auf. Es ist ein von der langen Reise brüchig gewordener A5-Zettel voll arabischer Schriftzeichen und Rundstempel.

Wir haben bemerkt, dass viele Menschen im regulären Gesundheitssystem nicht andocken können.

Und dann ist wieder ein paar Sessel weiter Mona*, 52, eine Frau mit kurzen, blonden Haaren und feinen Gesichtszügen, denen das Leben auf der Straße und der Alkohol übel mitgespielt haben. In Deutschland hielt sie sich viele Jahre lang mit dem Verkauf der Obdachlosenzeitung Hempels über Wasser. Zurück in Wien, wo sie geboren und aufgewachsen ist, zog sie monatelang durch die Notquartiere. "Es ist eine harte Stadt“, sagt sie. Im September riss die Zahnärztin ihre letzten noch verbliebenen Zähne. Heute soll ihre neue Prothese angepasst werden. Magdalena, die Sozialarbeiterin, scheucht alle Herumstehenden von der Rezeption ins Wartezimmer. Sie braucht Ruhe für den Farsi-Dolmetscher, den sie über Video zugeschaltet hat, damit der gepflegte 50-jährige Iraner in den roten Turnschuhen erzählen kann, was ihm fehlt. Er habe Schmerzen, wenn er etwas Warmes esse, sagt er.

Markus Reiter, der Geschäftsführer, schaut vorbei. 2006 startete das Neunerhaus eine allgemeinmedizinische Versorgung, drei Jahre später begannen die ehrenamtlichen Zahnärzte zu praktizieren. 25 bis 30 sind es derzeit. Es könnten mehr sein, denn die Armut zieht immer weitere Kreise, erfasst Familien, Alleinerzieherinnen, Jugendliche. An manchen Tagen stapeln sich vor dem Eingang die Kinderwägen. "Wir haben bemerkt, dass viele Menschen im regulären Gesundheitssystem nicht andocken können. Ihre Beschwerden werden übersehen oder sie werden weggeschickt und finden den Weg zu Ärzten danach nicht mehr“, sagt Reiter. 110.000 Menschen gehen laut einer Studie in Österreich nicht rechtzeitig zum Doktor, 25.000 davon, weil sie Angst vor den Kosten haben.

Wer sich hier hertraut, geht das nächste Mal vielleicht in ein normales Wartezimmer.

Es fehlte die Verbindung zwischen Sozialarbeit und Gesundheitsversorgung, jemand wie Magdalena, die weiß, dass Menschen, die von einem Tag auf den anderen überleben, sich schwer tun, Termine einzuhalten. Zähne? Später. Doch Zähne ruinieren die Gesundheit eines Menschen, greifen das Herz und andere Organe an.

Die Praxis der Armen soll keine zusätzliche Schiene sein, sondern Teil der Primärversorgung, sagt Reiter: "Wer sich hier hertraut, geht das nächste Mal vielleicht in ein normales Wartezimmer.“

Am frühen Nachmittag leeren sich die Wartesessel. Die alte Fatima in ihrem dunklen, schweren Mantel hat eine Füllung bekommen und deutet einem Afghanen, den sie im Flüchtlingsheim kennengelernt hat und der ein paar Brocken Englisch spricht, er solle ein Foto mit der Journalistin machen. Verena, die Assistentin, streift die Latexhandschuhe ab und schiebt sich ein Stück Schokolade in den Mund. Die Zahnärztin nimmt ihre Schutzbrille ab.

Das Gesicht gehört einem Langzeit-Obdachlosen.

Ihre eigene Praxis hat Michaela Stadler-Niedermeyer nach mehreren Bandscheibenvorfällen aufgegeben. Vor zwei Jahren hat sie über das Neunerhaus in der Zeitung gelesen und wollte mithelfen: "Es tut mir in der Seele weh, wenn ich sehe, wie andere leiden. Vielen von uns geht es doch unheimlich gut. Ich will hier meinen Beitrag zur Gesellschaft leisten.“ Heute hat sie einem zugedröhnten, jungen Mann, der Angst vor dem Bohrer hat, ein paar Minuten Ruhe im Behandlungssessel gegönnt. Der Bub einer Tschechin hat sie umarmt und ihr mit einem "Merci, Madame!“ gedankt. Sie hat Zähne gerissen, Karies weggebohrt, Röntgenbilder studiert, Prothesen angepasst, Schmerzen gelindert und etwas gegen die Stigmatisierung von Armen gemacht.

An der Pinnwand sind die Ausspeisungen in Wien ausgehängt, Deutschkurse für Anfänger und die Neunerhaus-Folder. Sie zeigen in Schwarz-Weiß das verwilderte Gesicht eines Mannes. Er lacht. Seine Zähne sind blitzend weiß und regelmäßig. Das Gesicht gehört einem Langzeit-Obdachlosen. Die Zähne stammen von einem Fotomodell. "Unsere Prothesen sind vielleicht nicht ganz so schön“, sagt Geschäftsführer Reiter: "Aber fast.“

*Namen von der Redaktion geändert

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges