Öxitus: Van der Bellen nützt die Angst vor dem EU-Austritt

Alexander Van der Bellen hat einen neuen Wahlkampfschlager: die Angst vor dem EU-Austritt. Mit seinem trockenen Populismus erwischt er die FPÖ auf dem falschen Fuß.

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Wenn Wiens Bürgermeister Michael Häupl "seinen“ Präsidenten gegen die Meute abschirmt, können die Personenschützer getrost Pause machen. Mit einem Achterl in der Hand verscheucht Häupl die Mikrofone der TV-Teams: "Des moch ma net.“ Alexander Van der Bellen hätte den Lauschangriff auf seinen Smalltalk mit dem prominenten Bodyguard und Bundeskanzler Christian Kern gar nicht bemerkt. Der Professor und seine Frau stehen mit ihren Wassergläsern zwischen den wort- und schmähführenden Genossen. Mangels SPÖ-Kandidaten soll Van der Bellen auch ihr Bundespräsident werden. Deswegen haben sie ihm den roten Teppich ausgerollt.

Kanzler-Gattin Eveline Steinberger-Kern lädt zur Kunst-Charity beim Netzwerker und Teppichhändler Ali Rahimi. Die Auktion wird Van der Bellen 104.000 Euro für seinen Wahlkampf einbringen. Im Palais der Wiener Innenstadt treffen Macht und Geld aufeinander. Doch Van der Bellen ist zu distanziert, um Küsschen zu verteilen. Es würde auch niemand hier von ihm erwarten. Er wirkt wie ein Junge, der nur deswegen Mitglied der Bande ist, weil er weiß, wie man Baumhäuser baut.

Die Charity im Stadtpalais ist ganz nach dem Geschmack der FPÖ. Sie versucht auch in der zweiten Stichwahl, Van der Bellen als Kandidaten der "Schickeria“ und "Hautevolee“ abzustempeln. Wie geplant schenkt sie zeitgleich im Wiener Rathaus Gratisbier aus. Van der Bellen, den Event-Stoiker im Palais, juckt das wenig: "Ich fühle mich wohl hier zwischen all den Politikern, Anwälten und Ärzten. Ich tu mir auch beim Kirtag in Altaussee oder bei der Flugshow in Zeltweg nicht schwer.“

Ich tu mir auch beim Kirtag in Altaussee oder bei der Flugshow in Zeltweg nicht schwer

Was sein Leben im dritten Wahlkampf des Jahres erleichtert: Nach dem geplanten EU-Austritt der Briten ("Brexit“) hat er eine neue Botschaft, die er gebetsmühlenartig wiederholen kann: die Warnung vor einem EU-Austritt Österreichs ("Öxit“). Hofer verlangte nach dem Brexit eine Volksabstimmung über den Verbleib in die EU, "sollte sich die Union falsch entwickeln“, und rudert nun mit aller Kraft zurück. Die Mehrheit der Österreicher ist gegen einen Austritt. Das Chaos in Großbritannien hat die Angst vor den Folgen verstärkt. Van der Bellen will sie bis zur Wahl befeuern, so gut er kann. Er hofft auf seinen ganz persönlichen Briten-Rabatt: "Ein paar Tage nach dem Brexit hat die FPÖ EU-Gegnerin Marine Le Pen eingeladen. Sie verspricht eine Abstimmung über den ,Frexit‘ der Franzosen. Dann ist die EU kaputt.“ Für seine Verhältnisse fast scharf erinnert Van der Bellen an einen fotografisch dokumentierten Handkuss Hofers für Le Pen.

"Kommt Hofer. Kommt Öxit. Kommt Pleitewelle. Kommt Bauernsterben. Kommt Tourismusflaute.“ Solche Inserate schaltet der Bau-Industrielle Hans Peter Haselsteiner für Van der Bellen. In Facebook-Videos zeigt er das im Weltkrieg zerstörte Europa und Nationalisten, die das nun friedliche Europa mit Fadenkreuz ins Visier nehmen. Die Kampagne zielt auf Hofer. Die FPÖ will Haselsteiner wegen Verleumdung klagen. So nervös ist sie. Van der Bellen und Haselsteiner wissen, dass nicht Hofer, sondern nur der Nationalrat mit einer Zweidrittelmehrheit das Land aus der EU führen kann. Beharren, Übertreibung, Zuspitzung, Angst: Die FPÖ und ihr Kandidat bekommen ihre Lieblingswaffen nun selbst zu spüren.

Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, sollte die EU zum entscheidenden Wahlhelfer für den ersten grünen Präsidenten werden. Die Partei des Professors stemmte sich 1995 gegen einen EU-Beitritt. Sie fürchtete die Macht der Konzerne und das Ende der regionalen Landwirtschaft. Van der Bellen war damals als einer der wenigen in der Partei dafür.

Kommt Hofer. Kommt Öxit. Kommt Pleitewelle. Kommt Bauernsterben. Kommt Tourismusflaute

Wie ein eingefleischter EU-Fan wirkt auch der Gemüsezüchter nicht, der auf der Welser Messe selbst gezüchtete Tomaten und Chilis mundgerecht für Van der Bellen aufschneidet. Die Österreicher sollten sich wieder selbst versorgen, wünscht er sich - EU hin oder her. Der Öko-Stand ist für den 72-jährigen Wahlkämpfer ein Stück grüne Heimat in einer politisch feindlichen Umgebung. In Oberösterreich regiert die ÖVP mit der FPÖ, in Wels ein blauer Bürgermeister.

Entsprechend unterkühlt ist der Empfang auf der Messe, die traditionell vom Bundespräsidenten eröffnet wird. "Mit einem Präsidenten kann ich nicht dienen“, sagt ÖVP-Landeshauptmann Josef Pühringer in seiner Eröffnungsrede. Van der Bellen sitzt, umringt von FPÖ-Politikern, in der ersten Reihe. Pühringer begrüßt die Präsidenten der Landwirtschaftskammern bis hinunter zum Alt-Bürgermeister, der die "Diamantane“ feiert. Den Kandidaten für die Hofburg erwähnt er nicht. Nie erschien die ÖVP weiter entfernt von einer offiziellen Wahlempfehlung für den Professor.

Der FPÖ-Bürgermeister Andreas Rabl ringt sich zwar eine Begrüßung ab, kündigt aber im selben Atemzug den Wahlkampfauftakt seines Parteikollegen Norbert Hofer am Samstag in Wels an. In der ersten Stichwahl verlor Hofer auch Wels ganz knapp. Das sitzt tief. Rabl hat nun just für 2. Oktober eine Bürgerbefragung über Projekte in der Stadt angesetzt. Das könnte so manchem abstimmungsfaulen Blauen Beine machen (falls die Wahl nicht noch verschoben wird).

Was Blaue sicher mobilisiert, ist die Grapsch-Affäre, die wie ein Schatten über der Messe hängt. Fünf Afghanen zwischen 15 und 22 Jahren hatten am 2. September beim Messe-Volksfest bis zu 17 Frauen sexuell belästigt. Die Polizei hält deren Angaben für glaubwürdig und den Organisationsgrad hinter den Flegeleien für neu. Der Vize-Bürgermeister und blaue Sicherheitssprecher, Gerhard Kroiß, fordert seit Tagen eine Ausgangssperre für Flüchtlinge ab 20 Uhr und mehr Videoüberwachung auf der Messe.

Ein Gast ist Van-der-Bellen-Fan und Veterinärmediziner Gernot T. aus dem nahen Sattledt. Er habe bei seiner freiwilligen Arbeit für Flüchtlinge noch keine Umtriebe bemerkt - auch wenn die jungen Afghanen schwieriger seien als die Syrer. "Beim Welser Volksfest wurde schon immer gegrapscht. Früher teilten die Mädels Watschen aus und sagten:, Geh, schleich dich!‘ Aber wenn’s der, Südländer‘ war, gibt es Anzeigen.“ Trotzdem: Für viele Stadtbewohner ist Wels nun Mini-Köln - eine Steilvorlage für die FPÖ.

So besonnen sich der Professor und neuerdings auch Hofer geben: Der neue Wahlgang ist auch ein Wettlauf der Angst - der Angst vor dem Fremden gegen die Angst vor dem EU-Austritt.

Bei der Messe gewinnt Van der Bellens Botschaft, auch wenn er sie selbst nicht anbringen darf. Über die Grapscher fällt im zweistündigen Begrüßungsmarathon kein Wort. Es soll niemand auf den Gedanken kommen, die Messe sei unsicheres Terrain. Dafür transportiert Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl die Kunde des Doch-Nicht-Präsidenten. "Ein Öxit wäre Selbstmord mit Anlauf“, ruft Leitl von der Bühne aus in die Menge: "50 Prozent des Wohlstandes von Österreich stammen aus Europa.“ Hofer erwähnt er mit keinem Wort. Pühringer erinnert daran, was seit dem EU-Beitritt 1995 in Oberösterreich geschah: "Damals hatten wir 45.000 Betriebe, heute 75.000, damals hatten wir 515.000 Jobs, heute 635.000. Bei aller Kritik: Die Mitgliedschaft ist alternativlos.“ Der blaue Landeshauptmann-Stellvertreter Manfred Haimbuchner in der ersten Reihe weiß, an welche Adresse die Botschaft gerichtet ist.

50 Prozent des Wohlstandes von Österreich stammen aus Europa

Nach der Rede drückt eine grüne Welser Gemeinderätin Van der Bellen vor den Kameras ihr Baby in die Hand. Danach steht Smalltalk mit der "Jugend für Van der Bellen“ auf dem Programm. "Es ist vereinbart worden, dass wir hier sind“, sagt ein Bursch im "Öbama“-Leiberl; er ist bei den Jungen Grünen. Die vom VdB-Team beschworene Spontaneität der Unterstützung wirkt gestellt, der Selfie-Ansturm bleibt aus. "Wenn Hofer kommt, ist die Halle voll“, sagt die Ärztin und Frau des Veterinärmediziners Gernot T., Veronika. Sie wählt zwar ebenfalls den Grünen, glaubt aber an einen Hofer-Sieg: "Das Volk will was anderes.“

Beim Vorzeigebetrieb Stiwa in Attnang-Puchheim muss Van der Bellen ebenso wenig Überzeugungsarbeit leisten wie bei den ausgesuchten Ständen auf der Welser Messe. Geschäftsführer Raphael Sticht sitzt im Personenkomitee. "Bitte sorgen Sie dafür, dass Österreich in der EU bleibt“, sagt er wie nach Drehbuch. Stiwa stellt mit 1300 Mitarbeitern High-Tech-Produktionsmaschinen für Konzerne wie Bosch oder Baxter her. Zahl der Flüchtlinge im Betrieb: 1. "Einer genügt vorerst. Eine ordentliche Betreuung kostet viel Geld“, sagt Herta Sticht, die Mitgründerin. Das Unternehmen hat eigens einen Mann geringfügig beschäftigt, der die Sprache des Afghanen spricht. Ein Beispiel aus der Praxis, wie schwer die Integration Zigtausender Flüchtlinge in den echten Arbeitsmarkt abseits der diskutierten Ein-Euro-Jobs wird.

Bitte sorgen Sie dafür, dass Österreich in der EU bleibt

"Österreichs Kapazität, Flüchtlinge aufzunehmen, ist nicht unbegrenzt“, sagt Van der Bellen zwei Tage danach in der "ZIB 2“. Damit kann er nichts gewinnen. Er will lieber vor dem drohenden Öxit warnen. Moderatorin Lou Lorenz-Dittlbacher schneidet ihm das Wort ab: "Das können sie noch in allen Debatten mit ihrem Gegenkandidaten ansprechen.“ So viel Verve kennt man gar nicht von Van der Bellen, der selten unglücklich schien, wenn sich Interviews dem Ende zuneigten.

Seinen Wahlkampfauftakt am vergangenen Freitag hat er wegen der Wahlkarten-Farce abgesagt. Haselsteiner hat seine Kampagne sistiert. Der Öxitus macht Pause.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.