Interview

Pamela Rendi-Wagner: „Schönwetter-Politiker gibt es genug“

Die SPÖ-Chefin sieht sich, auch nach viel Kritik aus der SPÖ, als krisenfest. Im profil-Interview kritisiert sie Unehrlichkeit der Regierung und fordert die Verschiebung der CO2-Bepreisung.

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Das Vertrauen in die Politik ist in Österreich laut einer OECD-Studie besonders niedrig. Wie lebt es sich in einem so unbeliebten Berufsstand? 
Rendi-Wagner
Ich komme als Ärztin aus einem Beruf, der besonders viel Vertrauen genießt. Die wichtigste Währung in der Politik ist Vertrauen. Wir haben derzeit mehrere Krisen gleichzeitig, da bräuchten wir eine handlungsfähige Regierung, die Rückhalt in der Bevölkerung hat. Die derzeitige Regierung hat das nicht. Die Voraussetzung für Vertrauen ist Ehrlichkeit. Diese Ehrlichkeit vermisse ich in der Regierung.
Wobei genau? 
Rendi-Wagner
Die Regierung sagt nicht die Wahrheit, was auf uns zukommt. Alle Prognosen über Energiesicherheit und Teuerung haben wir aus anderen Ländern oder von der EU-Kommission. In Österreich fehlt Ehrlichkeit, hier wird schöngeredet, die Energielage als nicht so dramatisch dargestellt. Die Regierung muss endlich ehrlich die Karten auf den Tisch legen.
Putin ist unberechenbar, niemand weiß, wie viel Gas im Winter geliefert wird. 
Rendi-Wagner
Aber man muss als Regierung klar in Szenarien denken – bei der Energie, bei der Teuerung, bei Corona. Für alle drei Krisen fehlen Notfallpläne mit Wort-Case-Szenarien. 
Muss man nicht aufpassen, keine Panik zu schüren? 
Rendi-Wagner
Meine Art, Politik zu machen, ist, auch das auszusprechen, was manche nicht gerne hören. Die Menschen spüren genau, ob jemand ehrlich ist. Ohne mutige Politik, die Rückhalt in der Bevölkerung hat, werden wir aus diesen Krisen nicht rauskommen.
Als eine Maßnahme schlagen Sie einen Strompreisdeckel vor. Der ist umstritten, weil null treffsicher.
Rendi-Wagner
Ich habe auch die Mittelschicht im Blick, die immer stärker betroffen ist. Bei der Bekämpfung der Teuerung geht es um zwei Dinge: Erstens müssen die Preise runter, zweitens muss Hilfe rasch ankommen – etwa durch Senkung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel. Im Energiebereich sollten wir einen Deckel einziehen: Entweder wir setzen wie Spanien und Portugal beim System der Preisbildung an. Oder wir setzen bei der Stromrechnung beim Endkunden an, wie Wifo-Chef Gabriel Felbermayr vorschlägt. Das hätte den Vorteil, dass wir ein sozial gestaffeltes Modell für niedrige, mittlere und hohe Einkommen entwickeln können. Und Anreize zum Stromsparen, wenn wir eine Verbrauchsgrenze einziehen – und jeder Mehrverbrauch teurer wird. 
Experten sagen, ein Strompreisdeckel ergibt nur auf EU-Ebene Sinn. 
Rendi-Wagner
Eine europäische Lösung wäre natürlich die beste. Die geht aber nicht rasch, und wir haben keine Zeit. Ein Teil der Maßnahmen muss darauf abzielen, die Inflation zu dämpfen, sonst wird uns die Preisspirale entgleiten. Daher wäre ein Strompreisdeckel sinnvoll. Wir müssen ihn aber koppeln mit Abschöpfung von Übergewinnen bei Energiekonzernen.
Wie viel soll abgeschöpft werden? 
Rendi-Wagner
Abgeschöpft werden soll bei Energieerzeugern und bei Energielieferanten, und zwar zum Beispiel Gewinne, die über zehn Prozent über dem Gewinn des Vorjahres liegen. Diese Gelder sollen zur Hälfte als Stützungsmaßnahmen zu den Menschen zurückgehen, zur anderen Hälfte für Investitionen in Erneuerbare Energien verwendet werden.

Österreich hat zwei Corona-Sommer verschlafen, und im Herbst kam immer das böse Erwachen. Jetzt verschläft die Regierung gerade den dritten Sommer.

Manche Experten argumentieren: Wenn die Politik zu viele Maßnahmen setzt, kann das die Inflation befeuern. 
Rendi-Wagner 
Experten diskutieren, Politik hat die Verantwortung, rasch zu handeln. Wir haben keine Zeit.
Irgendwann müssen die vielen Milliarden Euro zurückgezahlt werden. 
Rendi-Wagner
Nach jeder Krise muss das Budget saniert werden. Aber davor muss der Staat einspringen: In der Finanzkrise hat er Banken gerettet, in der Corona-Krise Unternehmen. Jetzt darf er die Menschen, die unter der Teuerung leiden, nicht im Stich lassen.
Befeuert die Zeit, in der das Geld quasi abgeschafft ist, Populismus? Ihr liebster Parteifreund, Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil, schenkt etwa jedem Kind ein Paar Ski.  
Rendi-Wagner
Jeder weiß, dass Geld nicht auf Bäumen wächst. Daher halte ich es für falsch, wenn die Regierung ein 28-Milliarden-Euro-Paket ankündigt, von dem Besserverdiener drei Mal so viel profitieren wie Mindestpensionisten, Alleinerzieherinnen und junge Familien.
Sind die Ski sinnvoll – im flachen Burgenland?
Rendi-Wagner
Das müssen Sie den Herrn Landeshauptmann fragen.
Ist es Zeit für bittere Wahrheiten? Auch private Haushalte werden Gas sparen müssen. Was ist für Sie vorstellbar – die Heizung drosseln? 
Rendi-Wagner
Es braucht jetzt eine ehrliche Regierung, die uns die Fakten auf den Tisch legt und erklärt: Wie schlimm kann es werden? Ich habe die Informationen nicht. 
Ein großer deutscher Immobilienkonzern, der 600.000 Wohnungen verwaltet, hat schon angekündigt, im Winter nachts die Heizung auf 17 Grad hinunterzudrehen. Kommt Ähnliches in Österreich?
Rendi-Wagner
Man kann nichts ausschließen, weil niemand weiß, wie sich Putin verhalten wird. Umso wichtiger wäre ein Notfallplan.
Manche Maßnahmen gegen Teuerung stehen im Widerspruch zum Klimaschutz – etwa Ihre Forderung, die Mehrwertsteuer auf Sprit zu senken. 
Rendi-Wagner
Bei den stark steigenden Sprit- und Energiepreisen sind die Menschen gezwungen, weniger Auto zu fahren, weniger zu heizen, Strom zu sparen. Mir mailen jeden Tag Menschen, dass sie sich Autofahren oder Heizen immer weniger leisten können. Die Teuerung hat einen unfreiwilligen Energiespar-Effekt. Daher kann man durch niedrigere Sprit-Steuern helfen.  
Die Regierung hat die Einführung der CO2-Bepreisung auf Herbst verschoben. Soll sie im Herbst kommen? 
Rendi-Wagner
Wir haben die höchste Teuerung seit 50 Jahren. Da durch einen weiteren Kostenfaktor die Preise weiter zu erhöhen, das wäre unklug und zynisch. Die CO2-Bepreisung soll daher verschoben werden.
Alle Experten sagen: Aus Klimaschutzgründen wäre CO2-Bepreisung klug. 
Rendi-Wagner 
Ich würde die CO2-Bepreisung ja nicht absagen, sondern auf unbestimmte Zeit verschieben, abhängig von der Entwicklung der Inflation. Aber heuer soll sie auf keinen Fall eingeführt werden. 

In der Politik darf man nicht zimperlich sein, in der Politik braucht man eine dicke Haut.

Sie argumentieren, Klimaschutz ist derzeit weniger wichtig?
Rendi-Wagner
Die dringendste Aufgabe muss jetzt sein, eine soziale und wirtschaftliche Krise zu verhindern. Es braucht Klimapolitik mit Pragmatismus. 
Den Jungen in der SPÖ ist die SPÖ zu sehr Autofahrerpartei. Umweltschützer werden von älteren SPÖ-Funktionären als „Häuseln“ gehöhnt.
Rendi-Wagner
Wir sind die Partei der Menschen. Es gibt viele Menschen, die aufs Auto angewiesen sind. Das sind Pendler, aber auch Frauen und Familien, die am Land keine öffentlichen Verkehrsmittel zur Verfügung haben. Diese Menschen darf man nicht vergessen. Wir sind für Autofahrer und Umweltschützer.
Sie sind seit fast vier Jahren SPÖ-Chefin. Würden Sie sich als Linke bezeichnen?
Rendi-Wagner
Links ist ein breiter Begriff, darunter fallen Strömungen, die ich ablehne: etwa den Kommunismus, weil er mit Demokratie nichts am Hut hat. Mir geht es um Chancengerechtigkeit: Recht auf Kindergartenplatz, gute Schulen, gute Ausbildung, Jobchancen, Gesundheit. Links daran ist, das nicht in die individuelle Verantwortung abzuschieben. Sondern zu sagen: Wir brauchen gerechte Verhältnisse, damit alle unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Geldbörse eine Chance im Leben haben. 
Sie waren als Parteichefin stets umstritten, Ihre Umfragewerte schlecht, Parteifreunde wie Landeshauptmann Doskozil kritisierten Sie ständig. Was lief schief?
Rendi-Wagner
Ich sehe ein Glas lieber halb voll statt halb leer. Seit fast vier Jahren stehe ich an der Spitze der SPÖ. Wir wurden von vielen abgeschrieben, manche sagten, Grün ist das neue Rot. Von dem ist nichts geblieben. Wir haben an Vertrauen dazugewonnen und sind jetzt wieder der bestimmende politische Faktor. 
Dennoch kritisieren Sie manche Parteifreunde ständig.
Rendi-Wagner
Als Christian Kern ging, war das keine leichte Zeit für die SPÖ. Wir waren in Opposition, die Kurz-ÖVP im Aufwind, wir verloren Wahlen, die Partei war verschuldet. All das machte auch etwas mit unserem Selbstbewusstsein. Aber wir haben in den vergangenen Jahren durch harte, konsequente Arbeit das Vertrauen langsam, aber stetig zurückgewonnen. Und ich bin immer meinen Weg gegangen, habe gemacht, was ich für richtig halte, auch wenn es manche nicht hören wollen, weil die Partei durch eine Krise ging. Gerade in Krisen zeigt sich der wahre Charakter. Schönwetter-Politiker gibt es genug. Ich bin eine krisenfeste Politikerin.
Wie oft wollten Sie, wenn Doskozil an Ihnen herumgemäkelt hat, alles hinschmeißen?
Rendi-Wagner
Zu keinem Zeitpunkt. Mein großes Ziel ist seit vier Jahren, dass wir bei der nächsten Wahl so viel Vertrauen bekommen, dass wir eine Regierung bilden können.
Sie sind die Spitzenkandidatin bei der nächsten Wahl? 
Rendi-Wagner
Ja.
Christian Kern liebäugelt damit, eine eigene Partei zu gründen. Haben Sie mit ihm schon darüber geredet? 
Rendi-Wagner
Er hat das öffentlich mehrmals dementiert. Ich habe ihn das letzte Mal vor ein paar Wochen im Burgenland gesehen, davor bei einem Kaffee. Eine eigene Liste war da nie Thema. Von diesen Was-wäre-wenn-Planspielen in der Politik halte ich nichts.
Reden wir dennoch über Corona-Szenarien. Sie hatten noch nicht Corona. Sind Sie besonders vorsichtig oder hatten Sie Glück?
Rendi-Wagner
Wahrscheinlich beides. Hundertprozentig kann man sich nicht schützen. Aber mit gewisser Vorsicht bei großen Menschenmengen kann man das Risiko reduzieren. Und natürlich ist die Impfung wichtig.
Wir haben den dritten Corona-Sommer, den dritten Gesundheitsminister. Wie läuft die Corona-Politik? 
Rendi-Wagner
Österreich hat zwei Sommer verschlafen, und im Herbst kam immer das böse Erwachen. Jetzt verschläft die Regierung gerade den dritten Sommer. Seit 6. Mai hat der Gesundheitsminister einen Plan für den Herbst angekündigt, der Plan fehlt bis heute. Es wird also den dritten Sommer viel zu spät reagiert. Die Pandemie ist definitiv nicht zu Ende, durch die Ferienreisen müssen wir mit mehr Fällen und im Herbst mit neuen Wellen rechnen. Und wir können nicht ausschließen, dass neue, gefährlichere Varianten nach Europa kommen. 
Rechnen Sie mit neuerlichen Lockdowns im Winter?
Rendi-Wagner
Lockdowns wünscht sich wirklich niemand mehr. Ausschließen kann sie allerdings auch niemand.
Was bräuchte es jetzt – Maskenpflicht? Mehr Tests?
Rendi-Wagner
Wichtig ist, dass wir alle begreifen, dass die Pandemie noch lange keine grippeähnliche Form angenommen hat. Das haben wir uns schon vor zwei Jahren gewünscht, aber das scheint in weitere Ferne zu rücken. Daher braucht es einen Plan: Impfungen vorantreiben, Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und überall, wo viele Menschen zusammenkommen. Und wir brauchen einen Plan für die Schulen: Wir sind im dritten Pandemie-Jahr, und es gibt noch immer keine Luftfilter für Klassenzimmer, die das Infektionsrisiko stark senken würden.
Braucht es mehr Tests?
Rendi-Wagner
Wir müssen im Herbst mehr testen. Ich würde sogar so weit gehen, dass man empfiehlt, Reiserückkehrer zu testen. Das kann das Risiko reduzieren, dass neue Corona-Varianten nach Österreich eingeschleppt werden.
Ist die Abschaffung der Quarantäne sinnvoll?
Rendi-Wagner
Davon rate ich ab. Das Risiko der Ausbreitung wird reduziert, indem man infizierte Personen rasch isoliert, damit sie nicht andere anstecken. 
Sie waren für die Impfpflicht. Hat sie noch einen Sinn?
Rendi-Wagner
Eine Impfpflicht hätte nur  dann eine Chance auf erfolgreiche Umsetzung gehabt, wenn die Regierung auch das Vertrauen der Bevölkerung gehabt hätte. Den toten Gaul Impfpflicht kann man nicht mehr reiten.
Haben Sie sich schon die vierte Impfung geholt? 
Rendi-Wagner
Ja. Und ich rate das allen, wenn die letzte Impfung länger als sechs Monate her ist.
Themenwechsel. Die Ministerinnen Köstinger und Schramböck beklagten bei ihren Rücktritten, wie ungerecht Frauen in der Politik behandelt werden. Ist Österreichs Politik sexistisch?
Rendi-Wagner
Ich erlebe tagtäglich, dass der Ton in der Politik viel rauer, härter geworden ist. Gerade Frauen stellen öfter Zielscheiben von Angriffen dar, da haben Köstinger und Schramböck recht. Das ist mehr als besorgniserregend, und das muss man thematisieren. Gleichzeitig muss man  auch sagen: In der Politik darf man nicht zimperlich sein, in der Politik braucht man eine dicke Haut. 
Sie haben selbst Sexismus erlebt, wenn Ihnen Ihr Job gemansplaint wurde. Was kann man gegen Sexismus in der Politik tun?
Rendi-Wagner
Wir sind alle gefragt, selbst Vorbild zu sein und auch über Sexismus zu reden. In der SPÖ ist die Sensibilität gegenüber Sexismus stark ausgeprägt, etwa durch die wichtige Arbeit einer Johanna Dohnal, einer Barbara Prammer. Ob eine Frau oder ein Mann Politik macht, ist aber nicht das Allerwichtigste. Ich werde manchmal gefragt, ob die Zeit reif ist für eine Frau als Kanzlerin. Und ich antworte: Es ist Zeit für Charakter und Anstand an der Spitze der Bundesregierung. 
Wären Sie zu einem fliegenden Wechsel in die Regierung bereit oder müsste es vorher Neuwahlen geben? 
Rendi-Wagner
Es müsste Neuwahlen geben, einen fliegenden Wechsel lehne ich ab. Gerade in einer Krise braucht es eine Regierung, der die Bevölkerung vertraut. Zwei Drittel der Bevölkerung vertrauen dieser Regierung nicht mehr. 
Was ist Ihr Ziel – eine Ampelregierung? Eine Koalition mit der ÖVP?
Rendi-Wagner
Die SPÖ soll so viel Vertrauen wie möglich nach der nächsten Wahl haben. Es ergibt keinen Sinn, sich jetzt auf eine Koalition festzulegen. Wir schließen die FPÖ als Regierungspartner aus, alles andere werden wir sehen.
Wann rechnen Sie mit Wahlen?
Rendi-Wagner
Bei dieser Bundesregierung wird mich nichts überraschen. Weder, dass sie es schafft, sich noch zwei Jahre aneinanderzuklammern – noch rasche Neuwahlen. Nur eines ist klar: Entscheiden über den Zeitpunkt von Neuwahlen werden nicht Kanzler Karl Nehammer und Vizekanzler Werner Kogler – sondern die schwarzen Landeshauptleute, allen voran Johanna Mikl-Leitner. 
Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin