Die Zukunft war früher auch besser
An Jahresrückblicken herrscht in diesen letzten Tagen eines rundum missglückten Jahres, wie stets kurz vor Weihnachten, kein Mangel. Alles resümiert pflichtschuldig die Ereignisse 2021, die Welt zieht Bilanz, blickt zurück im Zorn auf politische Inkompetenz, Impfpflichtdebatten und fehlende soziale Solidarität. In diesem Groll- und Retrospektivklima empfiehlt sich, auch wenn die Zukunft früher zugegeben besser war, der vorsichtige Blick voraus. Und siehe: „Eine Spur Hoffnung“ verspricht Sebastian Hofer im aktuellen profil (nebst „den Kanzlern von gestern, der Popmusik von heute und den Debatten von morgen“) im Editorial der gerade erschienenen letzten profil-Ausgabe dieses Jahres, der Sondernummer im XXL-Format, die nicht so sehr wiederkäuen will, was wir alle in den vergangenen elfeinhalb Monaten ohnehin leidvoll er-, durch- und überlebt haben, sondern eher das bereits deutlich vor uns Liegende ins Auge fassen will.
„Die wilden 20er“ heißt es daher am Cover dieser Zeitung, in Anspielung auf die „Roaring Twenties“ des vergangenen Jahrhunderts. Denn das Brüllen und Tosen von damals ist auch heute wieder zu vernehmen, aber während der schöne Lärm in den 1920er-Jahren den Aufbruch in ungeahnte wirtschaftliche und künstlerische Höhen markierte, röhren und donnern heute vor allem Argwohn, Mutlosigkeit und Nihilismus. Die Gesellschaft ist tief gespalten, die Pandemie alles andere als besiegt, und die Gewaltbereiten wittern Morgenluft und machen mobil. Aber sollte man sich nicht auch und gerade in tristen Zeiten auf die Sonnenseiten unserer Existenz besinnen? Anders gesagt: Wer wird denn gleich die gute Laune verlieren, nur weil die Apokalypse naht? Die Gekreuzigten in Monty Pythons Bibel-Comedy „Das Leben des Brian“ (1979) machten es einst vor und trällerten mit unstillbarem Optimismus den Gassenhauer „Always look on the bright side of life“. Es ist eben alles nur eine Frage der Perspektive: Die sich rasant ausbreitende neue Covid-Variante etwa trage, wie der britische Pop-Exzentriker Luke Haines unlängst twitterte, immerhin einen „passenden Namen wie aus einem Science-Fiction-Film der 1970er-Jahre“; einen Thriller mit dem Titel „Der Omikron-Komplex“ würde er sich jedenfalls freudigst zu Gemüte führen.
Schädel im Schlamm
Der extratrockene britische Humor kann natürlich auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Lage ernst ist, virologisch und klimatisch, politisch, psychisch und sozial. Nun kann man zwar beschließen, einfach zu Hause zu bleiben und all die Schrecknisse auszublenden, die einem draußen potenziell begegnen können, aber erstens nützt es ja bekanntlich nichts, den Schädel in den Schlamm zu stecken, und zweitens wird man mit den algorithmischen Plattmachern Spotify und Netflix halt auch nicht glücklich. Warum nicht, fragen Sie? Schlagen Sie im aktuellen profil nach!
Oder gehen Sie einfach ins Kino, da ist es derzeit (leider) meist halbleer, also so sicher wie nirgendwo sonst im öffentlichen Raum. Sehenswerte Filme gibt es nämlich in fast schon unüberschaubar großer Zahl (eh klar: zwischen den Lockdowns wird alles zu lange Zurückgehaltene im Stakkato veröffentlicht), zum Beispiel Maria Speths fantastische Schul-Doku „Herr Bachmann und seine Klasse“, Maggie Gyllenhaals überraschende Psychostudie „Frau im Dunkeln“ – oder zwei einander diametral entgegengesetzte Breitwand-Musicals – Steven Spielbergs ultranostalgische „West Side Story“ und Leos Carax’ subversives Surrealdrama „Annette“. Näheres dazu finden Sie hier.
Einen erquicklichen Montag wünscht Ihnen die Redaktion des profil!
Stefan Grissemann
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