profil-Morgenpost: Wahlkampf ohne Volk

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So dezent wie diesmal war der Wien-Wahlkampf noch nie: Man kann tagelang in der Stadt unterwegs sein, ohne auch nur ein einziges Mal von übermotivierten Jungfunktionären einer wahlwerbenden Partei mit Info-Material und Kugelschreibern überfallen zu werden. Wenn es zu Hause an der Tür klingelt, ist es ziemlich sicher die Nachbarin oder der Postbote mit dem Zalandopaket – und ziemlich sicher kein Kampfmandat-Kandidat, der mit Dackelblick um eine Vorzugsstimme fleht. Das in normalen Zeiten bei Politikern so beliebte Bad in der Menge fällt aus, der Betriebs-, Kindergarten- oder Altersheimbesuch ist sowieso keine Option. Dass sie mit Mund-Nasenschutz allesamt hochgradig lächerlich aussehen, ist den Spitzenkandidaten offenbar bewusst. Wahlgekämpft wird deshalb hauptsächlich über Fernsehdebatten, Facebook, Plakate und Zeitungsinserate. Letzteres freut wenigstens die finanziell angeschlagene Medienbranche.

Vergleichsweise viel unters Volk mischen sich sich Dominik Nepp (FPÖ) und Heinz-Christian Strache. Christa Zöchling beschreibt im aktuellen profil, wie die einstigen Parteifreunde jetzt getrennt und gegeneinander auf Stimmenfang gehen. „Straches Wahlkampf ist bescheiden, spielt sich in Lokalen am Rande von Gemeindebausiedlungen ab, meist in trostlosem Ambiente“, schreibt Zöchling. Bei der FPÖ reicht das Budget wenigstens für Auftritte der unvermeidlichen John-Otti-Band und Gratisbier.

Ideologisch in einem ähnlichen Biotop bewegte sich zeit seiner langen Karriere Richard Nimmerrichter, als „Staberl“ 37 Jahre lang Starkolumnist der „Kronen Zeitung“. Demnächst feiert Nimmerrichter seinen 100. Geburtstag, und Herbert Lackner traf den erstaunlich rüstigen Greis zum großen Interview. Unter den Bedingungen der Pandemie leide er nicht, erzählt Nimmerrichter: „Ich habe gehört, unsere Regierung will jetzt in der Corona-Zeit der Alterseinsamkeit entgegentreten. Ich sag´s gleich: Ich brauch das nicht. Ich bin ein Meister der Einsamkeit. Ich bin seit 10. März in dieser Wohnung, und ich genieße es.“

Wenigstens einer, dem es gut geht.

Rosemarie Schwaiger