Kanzler Karl Nehammer (ÖVP, rechts) und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne, links) bei der Wiedereröffnung des renovierten Parlaments.
Justiz

Regierung „blockiert“: „Grober Missstand“ am größten Gericht

Die Regierung solle die „Blockadehaltung aufgeben“ und die Spitze des BVwG besetzen, fordern die Oberlandesgerichte.

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Österreichs größtes Gericht steht ohne Führung da – und das seit mehr als sieben Monaten. Die Folge: Drei von acht Kammern des Gerichts stehen unter interimistischer Leitung, der Frust ist groß. Verantwortlich ist die türkis-grüne Regierung, die seit Monaten um die Postenbesetzung streitet. Selbst der Bundespräsident und höchste Justizkreise machen ihren Ärger öffentlich: Die Präsidentin und die Präsidenten der Oberlandesgerichte (OLG) wenden sich nun in einem offenen Brief zum zweiten Mal an die Regierung und sprechen von einem „groben Missstand in unserer Republik“. Der Tenor der Justiz ist klar: Das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz wird durch die Politik erschüttert. Die Europäische Kommission sieht schon länger „Anlass zur Besorgnis“.

„Die Leitung eines Gerichts über so lange Zeit nicht zu besetzen, ist für sich allein schon unverständlich“, sagt Gernot Kanduth, Vizepräsident der Richtervereinigung und Richter am Oberlandesgericht Graz. Dass die Regierung mit dem BVwG aber ausgerechnet jenes Gericht blockiere, das die Verwaltung – und damit die Arbeit der Regierung – kontrollieren soll, findet Kanduth auch „rechtsstaatlich äußerst bedenklich“. Auch die Präsidentin und die Präsidenten der OLGs sehen einen „Fehler im System“.

Machtspielchen

Eine geeignete Kandidatin gibt es bereits: Sabine Matejka, Vorsitzende der Richtervereinigung, wurde von der zuständigen Personalkommission bereits am 13. Februar an erster Stelle gereiht. Die Regierung müsste diese Entscheidung nur annehmen und an Bundespräsident Alexander Van der Bellen weiterleiten. Dieser könnte Matejka dann als BVwG-Präsidentin einsetzen. Laut dem türkis-grünen Sideletter stünde es der ÖVP zu, die BVwG-Spitze zu bestellen. Die Grünen arbeiteten stattdessen einen beschlussfähigen Ministerratsvortrag aus, der der Reihung der Personalkommission entspricht und Matejka demnach zur BVwG-Präsidentin machen würde.

„Dieser Ministerratsvortrag wurde dem Koalitionspartner vor Monaten übermittelt und könnte nach positiver Rückmeldung jederzeit im Ministerrat beschlossen werden“, heißt es aus dem Büro von Vizekanzler Werner Kogler (Grüne), wo man betont, das Anliegen der Oberlandesgerichte zu teilen. Die Neubestellung befinde sich derzeit in politischer Koordinierung“, erklärt indes zum wiederholten Mal aus dem türkisen Kanzleramt. Auf den Protest der Oberlandesgerichte wird vonseiten des Bundeskanzleramts auf Anfrage nicht eingegangen.

Offiziell gibt es vonseiten der Regierung jedenfalls keinen Grund, warum Österreichs größtes Gericht seit Monaten nur interimistisch geführt wird. Auch die Präsidentin und der Präsident der OLGs erhielten auf ihr Schreiben Ende April keine Antwort von Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne). Hinter den Kulissen geht es zwischen ÖVP und Grünen aber um knallharte Posten-Deals: Der Vizepräsident des BVwG, Michael Sachs, hatte sich für die Spitze der Bundeswettbewerbsbehörde beworben und war von der zuständigen Personalkommission auf den ersten Platz gereiht worden. Dennoch steht die Spitze der Wettbewerbsbehörde seit November 2021 leer.

Vertrauen verloren

Denn ein von den Grünen in Auftrag gegebenes Gutachten war zu dem Schluss gekommen, dass der frühere Kabinettschef von Ex-Wirtschaftsminister Wolfgang Schüssel (ÖVP) für den Posten nicht geeignet sei – und die Grünen legten sich quer. Ein Gegengutachten in Auftrag des ÖVP-geführten Arbeits- und Wirtschaftsministeriums stellte Sachs hingegen auf Staatskosten ein positives Zeugnis aus. An der Blockade der Grünen änderte sich nichts. Auch nicht, als Sachs durch die Pensionierung des früheren BVwG-Präsidenten Harald Perl am 1. Dezember 2022 die interimistische Leitung des BVwG erlangte.

Parteipolitische Überlegungen sind bei der Bestellung auszuklammern.

Die Präsidentin und Präsidenten der Oberlandesgerichte

fordern die Regierung zum Handeln auf.

„Der Eindruck des Postenschachers wird natürlich wieder verstärkt, das Vertrauen in die Gerichtsbarkeit erschüttert“, sagt Richtervereinigungs-Vizepräsident Kanduth: Die Bevölkerung könne den falschen Eindruck erhalten, dass auch bei eigenen Verfahren vor Gericht nicht alles mit rechten Dingen ablaufe. Die fehlende Bestellung des BVwG-Präsidenten verursache einen Schaden, „der mit der Arbeit des BVwG über Jahre wieder gutgemacht werden muss“. Kanzler Nehammer und Vizekanzler Kogler sollten nun „die Blockadehaltung aufgeben“ und „alle erforderlichen Maßnahmen“ setzen, um die Bestellung vorzunehmen, fordern die Präsidentin und die Präsidenten der OLGs: „Parteipolitische Überlegungen sind dabei auszuklammern.“

Interimistisches Gericht

An Arbeit fehlt es Österreichs personell größtem Gericht wahrlich nicht. 24.100 Verfahren erledigte das BVwG 2021. Mit 17.250 Verfahren stammte die größte Belastung aus dem Asyl- und Fremdenrecht. An jedem Arbeitstag erledigten die 220 Richterinnen und Richter des BVwG im Schnitt 96 Verfahren. Um vor allem Asylverfahren rascher abhandeln zu können, wurde heuer die neue Kammer E für Eilverfahren eingerichtet. Da aber die Spitze des Gerichts nur interimistisch besetzt ist, können auch die Vorsitzenden der Kammern nur vorläufig bestellt werden. Neben der Kammer E stehen mit den Kammern A (Asyl und Fremdenrecht) und S (Soziales) nach einer vom Rechnungshof angeregten Neustrukturierung drei von acht Kammern unter interimistischer Führung.

Vonseiten des BVwG ist man um Beruhigung bemüht: Durch die interimistische Leitung sei „die Aufgabenerfüllung des BVwG als unabhängige Rechtsschutzinstanz auch während der Vakanz des Amtes des Präsidenten sichergestellt“. Durch die vorläufige Betrauung der Kammer-Vorsitzenden sei sichergestellt, dass die neue Präsidentin oder der neue Präsident die Führungskräfte selbst auswählen könne, wird versichert. Eine neue Spitze des Gerichts wird allerdings gute Gründe brauchen, um die mittlerweile seit Monaten eingearbeiteten Übergangslösungen durch neue Köpfe zu ersetzen.

Seit Jahren ignoriert

„Die Nichtbesetzung der Präsidentschaft des BVwG ist symptomatisch für das offen zutage getretene Spannungsfeld zwischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und Exekutive“, sagt Markus Thoma, Senatspräsident des Verwaltungsgerichtshofes und Präsident des Dachverbands der Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter (DVVR). Schon in den vergangenen Jahren hätten etwa personelle Aufstockungen und Nachbesetzungen auf sich warten lassen.

Die Regierung hat die Verantwortung, von ihrer Kompetenz Gebrauch zu machen.

Markus Thoma

Senatspräsident des Verwaltungsgerichtshofes und Präsident des Dachverbands der Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter

Gleichzeitig macht die EU-Kommission in ihren „Rule-of-Law“-Reports seit Jahren darauf aufmerksam, dass die Justiz an der Ernennung der Präsidentinnen und Präsidenten der Verwaltungsgerichte beteiligt werden sollte. Bisher wurde dies in Österreich schlicht ignoriert, „was weiterhin Anlass zur Besorgnis gibt“, wie die EU-Kommission in ihrem aktuellen Bericht von Anfang Juli festhält. Dass die Regierung nun ihrer Verpflichtung, die BVwG-Spitze zu besetzen, nicht nachkommt, sei „wieder eine Einflussnahme“, findet Thoma: „Die Regierung hat die Verantwortung, von ihrer Kompetenz Gebrauch zu machen.“

Auch ihm ist keine offizielle Begründung der Regierung für die Verzögerung bekannt. Im internationalen Vergleich sei das Verhalten der Regierung nicht erklärbar, im Gegenteil: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat bereits Verfahren (etwa in Island, aber auch in Polen) beanstandet, weil der entscheidende Richter nicht gesetzmäßig ernannt wurde. So weit sollte es in Österreich nicht kommen. Zumindest Thoma hofft aber auf den Druck von außen: „Es ist unsere Hoffnung als DVVR, dass international etwas passiert. In der Innenpolitik ist es sehr schwierig, etwas zu bewegen.“

Max Miller

Max Miller

ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Hat ein Faible für visuelle Kommunikation, schaut aufs große Ganze und kritzelt gerne. Zuvor war er bei der "Kleinen Zeitung".