Geschwister Nahid und Ahmad. „Entlaust, geduscht und zur Mundhygiene angeleitet”
Ein 18-jähriger Afghane und seine zwei krebskranken Schwestern

"Deutlich sichtbare Irritationen"

Ein 18-jähriger Afghane und seine zwei krebskranken Schwestern

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Das also ist Ahmad. Der junge Afghane bleibt in der Nähe der Tür, als warte er auf eine Erlaubnis. Sein Händedruck ist weich. Die Stimme matt. Er setzt sich auf die vordere Kante der Couch und knetet die dünnen Finger. Seine Sätze sind kurz. Man muss oft nachfragen, bis sie sich zu den groben Konturen einer Odyssee zusammenfügen.

Sie hat Stationen – Pakistan, Iran, Istanbul, Athen, Ungarn, Traiskrichen – und dazwischen viele Unschärfen. Die Kinder gingen weite Strecken zu Fuß. Der Vater wurde in Afghanistan erschossen. Die Mutter ist auf dem Weg verschollen. Niemand weiß, was genau die Geschwister auf der Flucht erlebt haben. Im Sommer des Vorjahres standen sie vor den Toren des Flüchtlingslagers Traiskirchen: Ahmad, Shogufa und Nahid.

Österreich hat ein Problem mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF). Rund 4500 befinden sich in Grundversorung, davon mehr als 200 in Traiskirchen, weit mehr als die Hälfte kommen aus Afghanistan. Oft fehlen Dokumente, die ihr Alter belegen. 2015 wurden rund 950 von 8300 UMF offiziell für volljährig erklärt. Für das Vorjahr gibt es zu den Altersfeststellungen keine Zahlen.

Für die Minderjährigen ist die Kinder- und Jugendhilfe zuständig. Zu diesem Ergebnis kamen Karl Weber und Michael Ganner von der rechtswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Innsbruck. Sie hatten im Auftrag des SOS-Kinderdorfes ein Gutachten verfasst. Doch die Praxis sieht anders aus. In Wien springt das Jugendamt ein, wenn sich kein vertrauensvoller Erwachsener für die Erziehung und Pflege findet. In vielen Bundesländern aber drücken sich die Behörden.

Das schafft Probleme in der Schule oder beim Arzt, die zum Glück selten eine so dramatische Wendung wie bei Ahmad und seinen Schwestern nehmen. Ö1 und profil gingen ihrer Geschichte gemeinsam nach.

Vor wenigen Wochen entdeckten Ärzte des Wiener AKH im Gehirn der 14-jährigen Shogufa einen Tumor. Dieser Tage beginnt ihre 18 Monate dauernde Chemotherapie. Ahmad sagt, er gehe in einen Sprachkurs, spiele mit den Mädchen und versuche, sie zum Lachen zu bringen. Nahid, 13, sei oft traurig und frage nach der Mutter. Ob er sich für seine Schwestern verantwortlich fühle? Ahmad fixiert einen unbestimmten Punkt am Boden. „Ja.“ Geht es nach der Bezirkshauptmannschaft Baden, hat der Bursche auch die Obsorge.

Ahmad hatte bei einer Einvernahme gesagt, er sei 16. Im Herbst musste er zum Handwurzelröntgen. Seither gilt er offiziell als volljährig. Für die Behörde heißt das: Es gibt einen Erwachsenen, der sich um die pubertierenden und schwer kranken Mädchen kümmern kann. Seine Betreuer halten Ahmad jedoch für heillos überfordert. Die Leitung des Flüchtlingsheims, in dem die drei Afghanen leben, erstattete eine Gefährdungsmeldung bei der zuständigen Behörde.

In Protokollen notieren Sozialarbeiter, der Bursche bemühe sich nach Kräften, schaffe aber selbst einfache Belange des Lebens wie Putzen, Waschen, Einkaufen und Kochen nicht, er lasse Termine platzen, sei ständig müde und unfähig, sich zu konzentrieren. Die Schwestern verwahrlosen. „Nahid wurde heute entlaust, geduscht und zur Mundhygiene angeleitet. Der Lausbefall war so stark, dass Teile der Haare stark verfilzt waren und auf der Kopfhaut bereits deutlich sichtbare Irritationen sind“, ist in einem Protokoll zu lesen. Die pubertierenden Mädchen wollen sich vom Bruder nichts anschaffen lassen. Eine Krankenschwester zeigt ihnen die Handhabung einer Zahnbürste. Sie wirken „unbeholfen für ihr Alter“.

Die Mädchen leiden an einer unheilbaren Neurofibromatosis. Nahid wächst am Hals ein Tumor, den sie unter einem Kopftuch versteckt. Ihre Schwester Shogufa wurde vor Jahren von einer Hilfsorganisation ausgeflogen und in Deutschland operiert. In welcher Stadt, in welchem Spital lässt sich nicht mehr klären. Vergeblich versuchten die Ärzte in Wien, an die alten Befunde zu gelangen. Im AKH kommt es immer wieder zu Verzögerungen. Ahmad soll Einwilligungserklärungen unterschreiben. Das AKH verlangt eine offizielle Stellungnahme. Ende November streicht die onkologische Tagesklinik einen Termin, weil Befunde fehlen. Schließlich sichert die Kinder- und Jugendhilfe zu, erforderliche Unterschriften zu leisten. Die Obsorge aber bleibt ungeklärt.

„Patienten werden bei uns nur nach Aufklärung und mit Einwilligungserklärung behandelt. In Notfällen können wir darauf verzichten“, heißt es aus dem Rechtsbüro des AKH. Dass dieser Notfall im Jänner eintrat, will man hier nicht bestätigen. Faktum ist, dass für eine MRT-Untersuchung nun auf einmal die Unterschrift von Ahmad genügt, der – wie sich profil in einem persönlichen Gespräch vergewisserte – schon in eher überschaubaren Situationen überfordert zu sein scheint. „Natürlich ist das seine aufopferungsvolle und belastende Aufgabe, aber er bekommt von uns jede Unterstützung, um sie bewältigen zu können“, sagt Bezirkshauptmann Heinz Zimper. Und: „Unsere Sozialarbeiter, die Krankenschwestern und die Familienbetreuung tragen zu einem Gesamtbild bei, und das wird im Endeffekt so sein, dass er sehr wohl dazu in der Lage ist.“

Dabei zeichneten auch seine eigenen Mitarbeiterinnen penibel auf, was Ahmad zugemutet werden kann. Es sind einfache Dinge: Mädchen wecken, Frühstück zubereiten, sie zur Schule begleiten. Beträchtlich länger ist die Liste, was er ohne fremde Hilfe alles nicht schafft: Jause für die Mädchen, Hausübungen, Anleitung zur Körperpflege, Ernährung, Arztbesuche, Behördenwege. Laut einem Aktenvermerk decke er keinen einzigen von drei zentralen Obsorgebereichen ab. Zimpers Kommentar dazu klingt fast ein wenig drohend: „Wenn der Bruder die Pflege und Erziehung nicht ordentlich übernehmen kann, müssen wir im krassesten Fall die Mädchen abnehmen und woanders unterbringen.“ Das ist freilich eine eigenwillige Rechtsansicht. Die Beachtung des Kindeswohls steht seit 2012 im Verfassungsrang. Spätestens seit damals muss sich jede behördliche Maßnahme klar davon leiten lassen. Die Trennung der Geschwister mitten in einer Krebsbehandlung ist möglicherweise nicht im Sinne des Gesetzgebers.

Wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Baden in Obsorge hat, will der Bezirkshauptmann nicht sagen; nicht zuletzt deshalb, weil Ahmad und seine Schwestern für ihn nicht in diese Kategorie fallen: „Es handelt sich um einen Erwachsenen und zwei Kinder, also um eine Familie.“ Auch hier widersprechen Juristen vehement. Der Grazer Rechtsanwalt Roland Frühwirth, der einen ähnlichen Fall vor dem Verfassungsgerichtshof anhängig machte, verweist auf eine OGH-Entscheidung: „Wenn die Eltern eines minderjährigen Flüchtlings nicht greifbar sind, muss das Pflegschaftsgericht angerufen werden. Eine automatische Übertragung der Obsorge gibt es nicht. Ist das Gericht der Meinung, dass der Bruder nicht geeignet ist, bliebe der BH gar nichts übrig, als sie zu übernehmen.“

Der einzige Weg, den 18-Jährigen mit der Pflege und Erziehung seiner Schwestern zu betrauen, führt also über das Gericht. Den hat die BH bisher aber nicht beschritten. Es war die Diakonie, die im Jänner einen Obsorgeantrag einbrachte. Nun wird sich das Pflegschaftsgericht doch noch ein Bild der Lage verschaffen, Beteiligte anhören und eine Entscheidung treffen. Vergangene Woche zitierte die Bezirksbehörde den Afghanen zu sich.

Eine Sozialarbeiterin legte ihm einen Zettel hin. Ein Dolmetscher, der via Skype zugeschaltet war, drängte ihn, zu unterschreiben. Ahmad beugte sich. Er habe Angst gehabt, dass man ihn von den Schwestern trennt, erzählt er beim Zurückkommen. Einen Zettel hat man ihm nicht ausgehängt. Zimper erklärte auf profil-Anfrage, Ahmad habe die Position der Behörde unterstützt, mehr könne er mit Verweis auf das „laufende Verfahren“ nicht sagen.

Fragt man den 18-jährigen Ahmad nach seinen Wünschen, sagt er: „Dass die Familie wieder zusammenkommt und meine Schwestern gesund werden.“ Es ist der längste Satz, der ihm am vergangenen Donnerstag im Gespräch mit profil über die Lippen kommt.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges