Schule

Pädagoge: „Wut und Hass sind in den Klassenzimmern präsent“

Philipp Leeb will mit seinen Schulworkshops Gewalt und Extremismus vorbeugen. Dafür redet er mit den Jungen über tradierte Männlichkeitsideale und problematische Vorbilder wie RAF Camora und Rammstein. Im Interview erzählt er, wie die Generation Z darauf reagiert.

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Der Pädagoge und Bubenarbeiter Philipp Leeb hat im ablaufenden Schuljahr über 100 Workshops für Schülerinnen und Schüler gehalten. Er weiß, wie empfänglich die Jungen für Gewalt und Extremismus sind – und welche Anziehungskraft Influencer wie Andrew Tate oder brutale Serien wie „Squid Game“ auf sie haben. Ein Interview zum Schulschluss.

Mit Ihrem Verein Poika hinterfragen Sie in den Schulklassen die Gender- und Rollenbilder in der Gesellschaft. Wie gehen Sie da vor?
Leeb
Die Aufgabe ist, patriarchale Denkmuster aufzuzeigen, zu thematisieren und zu verändern und sich die Frage zu stellen, welche unterschiedlichen Männlichkeitsbilder nützen der Gesellschaft – und welche sind für Frauen oder andere Personen schädlich. Zur eigenen Identitätsfindung gehört es, zu überlegen, was heißt es, ein Mann oder ein Bursche zu sein? Da haben wir viel vom Feminismus gelernt, der stark mit den politischen, gesellschaftlichen und historischen Entwicklungen zusammenhängt. Für eine Frau macht es einen großen Unterschied, wo sie geboren ist und welche Religion sie hat. Bei Burschen ist das nicht anders. 
In den sozialen Medien wird heute viel über Gewalterfahrungen und Traumata gesprochen. Andererseits gibt es Kanäle, die mit Desinformation und Fake News arbeiten. Können Kinder heute besser differenzieren?
Leeb
Entwicklungspsychologisch gesehen fängt jedes Kind, egal zu welcher Zeit es geboren wird, bei null an. Wenn die Umgebung schon sensibilisiert und geschult ist, dann können die Kinder besser begleitet werden. Ich bin heute 51 Jahre alt, ich musste mir das noch erlernen. Meine eigenen Kinder sind schon mit digitaler Medienkompetenz aufgewachsen. Sie schauen sich auch viel Blödsinn an, können aber reflektieren. Das heißt aber nicht, dass sie auch manchmal mit Videos konfrontiert werden, in denen Menschen von Gewalterfahrungen erzählen, mit denen sie sich alleingelassen fühlen. Diese Videos sind gut und wichtig, aber die jungen Menschen brauchen Begleitung. 

 

Vor allem bei Burschen beobachten wir, dass sie sich in Foren bewegen, die nicht optimal sind, sich mit Influencern wie Andrew Tate beschäftigen, die problematische Inhalte transportieren, nicht positiv auf die Jugend wirken und keine realistischen Perspektiven bieten.

Sollten Eltern gemeinsam mit den Kindern Inhalte konsumieren?
Leeb
Es ist wichtig, in eine Auseinandersetzung zu kommen und die Frage zu stellen: Was machen diese Videos mit mir? Stark gespürt haben wir das in den Volksschulen bei dem Film „Es“ und der Netflix-Serie „Squid Game“. Ich habe selbst erlebt, wie diese Lieder und Parolen von den Kindern nachgesungen und reproduziert werden. Da ist es dann wichtig, das Gesehene zu verarbeiten. Und dann auch der Appell an die Erziehungsberechtigten: Wenn ihr den Kindern ein Handy in die Hand drückt, dann redet auch über die Inhalte!
Sind Jugendliche heute politischer?
Leeb
Jugendliche beschäftigen sich auf ihre Weise immer mit der Welt. Das kann für oder gegen ein Thema sein. In den letzten Jahren hat sich das nochmal gesteigert. Heute kommen Jugendliche viel schneller und ungefilterter an Informationen, denken über den Pride-Month und LGBTIQ+ nach, oder beschäftigen sich mit Fridays for Future und der ganzen Klimabewegung. Manche finden Klimakleber toll – andere lehnen sie ab. Und manchmal geht es auch nur um Fußball. 
Zudem sind Inhalte heute viel leichter zugänglich …
Leeb
... die Kinder wachsen heute anders auf. Teilweise mit bewussten Eltern und mit unbewussten Eltern. Bei Videospielen gibt es Väter, und auch einige Mütter, die mit ihren Kindern Gewaltspiele wie “GTA” spielen. Kinder kommen sehr früh zu Inhalten, die für ihre psychische und emotionale Entwicklung nicht gut sind. Und auch wenn Kinder selbst kein Handy besitzen, kommen sie irgendwo mit diesen Inhalten in Berührung. Hier ist viel Vertrauensarbeit notwendig. Heißt: Wo kann ich mir Hilfe holen? Mit wem kann ich über das Gesehene sprechen, ohne Angst vor Konsequenzen zu haben? 
Wie erreicht man Menschen wie die drei jungen Männer und Burschen, die Anschlagspläne auf die Wiener Regenbogenparade gehabt haben sollen?
Leeb
Es ist ein historisches Faktum, dass alles, was uns unsere Eltern mitgeben, Hass schüren kann. Heißt: Man kann weltoffen oder vorurteilsbehaftet aufwachsen. Rassistische, sexistische, trans- und homofeindliche Bilder kommen ja von irgendwo. Wenn sie nicht aus dem Eltern- oder Freundeskreis kommen, dann ist die nächste Station vielleicht TikTok. Diese Wut und der Hass sind in den Klassenzimmern präsent. In den 1970er-Jahren, als ich in der Schule war, wurde auch abfällig über homosexuelle Menschen gesprochen und bis 1945 wurden sie in den Lagern ermordet. Österreich ist hier nicht frei von Schuld. Pädagogisch kann man aber bei den eigenen Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen ansetzen, die Themen und Meinungen bearbeiten und zudem vermitteln, dass Kinder Teil einer Gesellschaft sind, in der es Menschen- und Kinderrechte gibt.
Der Konsens, dass Gewalt in der Erziehung keine Rolle mehr spielt …
Leeb
… wo ist dieser Konsens? Ich sehe das nicht. Wir leben in Gewalttraditionen. Ich komme selber aus einer Familie, die Gewalt erlebt und weitergegeben hat. Diese Erfahrungen teile ich mit vielen Menschen in Österreich. Dennoch gibt es heute Kinder und Jugendliche, die sagen, es ist normal, dass mein Papa mich schlägt. Dann ist die Frage, wie schafft man es, dass das nicht an die nächste Generation weitergegeben wird. Es stimmt, dass die heutige Generation reflektierter ist, sich in Therapie begibt und Seminare besucht. Man darf sich nicht dem Irrglauben hingeben, dass das auf alle zutrifft. Und dennoch tut sich etwas, kleine Schritte und wir erleben viele Eltern, die im öffentlichen Raum zu ihren Kindern lieb sind und Väter, die respektvoll mit ihren Kindern umgehen. 

 

Die Musik kann man ablehnen, oder nicht. Viel dramatischer finde ich den Diskurs, in dem Frauen schon wieder nicht geglaubt wird.

Der Wiener Rapper RAF Camora, der immer wieder mit sexistischen und misogynen Texten auffällt und Gäste wie den umstrittenen Musiker Yung Hurn zu den Konzerten einlädt, hat beim heurigen Wiener Donauinselfest sämtliche Rekorde gebrochen. Warum werden diese Rapper von Burschen wie Mädchen gleichermaßen gefeiert?
Leeb
Musik polarisiert, kann neue Welten öffnen und kann trösten – hat also viele Funktionen. Ich sehe dem Protestgedanken der Jugend, immerhin war mein jüngeres Kind auch bei RAF Camora. Andererseits sage ich konservativ, dass diese erfolgreichen Künstler auch eine Verantwortung haben. Denn wir sehen bei der Jugendarbeit auch die Auswirkungen und haben Volksschulkinder, die Vergewaltigungs-Texte eins zu eins wiedergeben können. Grundsätzlich finde ich die Diskussion um diese Auftritte gut: Die Frage ist nämlich nicht, warum RAF Camora auftritt, sondern warum er überhaupt eingeladen wurde? 
Eine Diskussion gibt es jetzt auch um die geplanten Wien-Auftritte der Band Rammstein und die Anschuldigungen der sexuellen Nötigungen gegen deren Sänger Till Lindemann.
Leeb
Die Musik kann man ablehnen, oder nicht. Viel dramatischer finde ich den Diskurs, in dem Frauen schon wieder nicht geglaubt wird. Und das wirkt bei den Jugendlichen, die sich dann ihre Meinung bilden und Erwachsene sehen, die nicht wissen, wie sie mit dem Thema umgehen sollen. Das sind ähnliche Narrative, die auch ein Männlichkeits-Influencer wie Andrew Tate bedient, der sagt, dass Frauen eben lügen und Männern nur eins auswischen wollen. Natürlich gilt rechtlich die Unschuldsvermutung, andererseits schauen alle hin und wissen, was passiert. Diese Wirkmechanismen sind problematisch. 
Steckt den Jungen die Corona-Jahre noch in den Knochen?
Leeb
Die Kollateralschäden der Pandemie sind stark sichtbar. Wir sprechen hier von emotionalen Defiziten, die sich aufgrund des Online-Unterrichts manifestiert haben. Es gab einfach zu wenig Interaktion untereinander. Viele Kinder sind in Videospiele oder andere virtuelle Welten abgedriftet. Zur Pandemie ist dann auch noch der Krieg in der Ukraine gekommen. Vor allem bei Burschen beobachten wir, dass sie sich in Foren bewegen, die nicht optimal sind, sich mit Influencern wie Andrew Tate beschäftigen, die problematische Inhalte transportieren, nicht positiv auf die Jugend wirken und keine realistischen Perspektiven bieten. Das überfordert das Lehrpersonal und die Eltern. 

Pädagoge Leeb: Kinder kommen sehr früh zu Inhalten, die für ihre psychische und emotionale Entwicklung nicht gut sind.

Hat der Krieg in der Ukraine Auswirkungen?
Leeb
Zuerst war für die Kinder die Verunsicherung der Erwachsenen spürbar. Dazu kommen die Begleiterscheinungen, wie die Energiekrise, die viele Familien getroffen hat, oder Konflikte zwischen ukrainischen und russischen oder tschetschenischen Kindern. Diese multinationalen Konflikte sind aber nichts Neues. Eine Erdoğan-Wahl oder Konflikte zwischen Serbien und dem Kosovo spiegeln sich auch in den Klassenzimmern. Für uns heißt das: Rassismen entstehen nicht nur in der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch zwischen Ethnien, zwischen ehemaligen Gastarbeiterfamilien und Geflüchteten. Da ist es wichtig, einen Platz der Auseinandersetzung zu finden, in dem es keine Noten und keine Beurteilung gibt. 
Wie wirkt sich das aus, dass Mädchen und junge Frauen heute deutlich selbstbewusster auftreten?
Leeb
Wir treffen heute auf junge Frauen, die Kopftuch tragen und den Burschen die Meinung sagen. Auf der anderen Seite werden sie von der Mehrheitsgesellschaft noch immer marginalisiert. Dazu kommt, dass zwölf oder 13 Jahre alte Mädchen den gleichaltrigen Burschen entwicklungspsychologisch überlegen sind. Auf der anderen Seite haben wir Burschen, die nicht so dominant sind, die sich das Homeschooling zurückwünschen, weil sie sagen, dass das den Druck genommen hat und es weniger Mobbing gab. Das alles spiegelt sich in einem Geschlechterdiskurs, den es im Alltag zu begleiten gilt. Das Lehrpersonal muss hier wachsam sein.
Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Seit 2009 Redakteur bei profil. Hat ein Herz für Podcasts, Popkultur und Basketball.