Sebastian Kurz: Sein Schwanken zwischen Staatsmann und Wahltaktiker

Schwanken zwischen Staatsmann und Wahltaktiker, Stabilität als neue Balkanroute: Eva Linsinger über die erste Live-Regierungskrise, die schonungslos Schwächen und Stärken des Systems Sebastian Kurz offenbarte.

Drucken

Schriftgröße

Dieser Wahlslogan erwies sich so treffend wie selten einer: „Zeit für Neues“, versprach Sebastian Kurz 2017 – und neue Zeiten sind in der Tat angebrochen, wenn auch völlig anders, als Kurz sich das in seinen düstersten Alpträumen hätte ausmalen können. Österreich kommt aus dem Wundern nicht heraus, was politisch alles möglich ist: Türkis-Blau, großspurig auf zehn Jahre angelegt, hochkant nach nur eineinhalb Jahren gescheitert. Die erste ÖVP-Alleinregierung seit den 1960er-Jahren. Der erste Kanzler, der vor einem Misstrauensantrag zittern muss. Zack, Zack, Zack!

Es lohnt sich, einige Muster dieser außerordentlichen Politwoche, die sich ins kollektive Gedächtnis eingraben wird, zu sezieren. Verdichtet wie unter einer Lupe offenbarten sich schonungslos Stärken und Schwächen des Systems Kurz, das am Politabgrund wandelt.

Kontrollfreak Kurz prägte für seine Regierung das Prinzip „Message Control“. Strikt durchgetaktet, wurde wie nach Drehbuch regiert. Nicht ohne Grund geriet Türkis-Blau stets dann ins Straucheln, wenn Ungeplantes passierte: Selbst kleine unerwartete Skript-Abweichungen wie die Karfreitagsregelung, die sich im Nachhinein wie Petitessen ausnehmen, brachten den Message-Control-Apparat gehörig ins Stottern. Beim Ibiza-Skandal versagte er völlig. Kurz suchte am Krisensamstag vergeblich die passenden Worte und die angemessene Rolle, um sich dann ungeniert mitten in der Regierungskrise in den Wahlkampf zu verabschieden: Pralles Selbstlob, garniert mit platten Anti-SPÖ-Untergriffen (Stichwort: Tal Silberstein) und einer Prise Larmoyanz (auch er litt unter seiner Koalition). Am Samstagabend sprach im Bundeskanzleramt vor Millionen Fernsehzusehern kein souveräner Staatsmann, eher ein dreister Parteitaktiker, ein kaltschnäuziger Maschinist der Macht.

"Als wäre ein Androide im Amt“

Zur Selbstkontrolle gehört, keine Gefühlsregung erkennen zu lassen. „Erschütternd“, nannte Kurz das Video – Erschütterung war ihm aber wenig anzusehen, nicht am Samstag, nicht an einem der Tage danach. „Als wäre ein Androide im Amt“, beschrieb ein luzider Kurz-Beobachter, Ex-NEOS-Chef Matthias Strolz, diese Kurz-Spezialität, keine Emotionen zu zeigen, schon vor Jahren.

Die kultivierte Lässigkeit, die Bundespräsident Alexander Van der Bellen bei jedem Auftritt vor der berühmtesten Tapetentür der Republik zelebriert, bleibt Kurz fremd. Seine Spezialität liegt anderswo: äußerlich makellos, freundlich im Ton, wohlerzogen im Auftritt, eilfertig-unprätentiös in Gesten. Und, nicht zuletzt, wunderbar wandelbar. Den Fehler vom Wochenende, als Wahlkampfmanager aufzutreten, suchte Kurz rasch zu korrigieren. Er macht die Kanzlerrolle rückwärts, gibt den besorgten Staatsmann, der mehrmals täglich und mehrmals bei jedem Auftritt an „Stabilität“ und „Verantwortung“ appelliert und sich dabei stets auf seinen neuen besten Freund, den Bundespräsidenten, beruft („der Bundespräsident und ich sind der Meinung“). Rasch vergessen die alten besten Buddies von der FPÖ, deren Politik von „Ausreisezentren“ und Co der Kanzler mittrug und schönschwieg. Tschüss Harmonie, auf zu einer neuen Variante des Systems Kurz!

Kein anderer Politiker hat das Kommunikations-Prinzip KISS („keep it short and simple“) derart verinnerlicht und perfektioniert wie Kurz: Er brandet drei, vier Sätze, einige wenige Formulierungen und Schlüsselwörter, die er so ausgiebig und ewig wiederholt, bis sie garantiert jeder kennt. Welche Ziele die SPÖ seit Ibiza verfolgt, was sie eigentlich will, ist selbst für Insider kaum erkennbar – Kurz hingegen will unmissverständlich „Stabilität“ und „Verantwortung“, gemeinsam mit dem Bundespräsidenten.

Alles auf eine Karte

Stabilität“ hat das Zeug, zur neuen Balkanroute zu werden – zum Lieblings-Kurz-Wort des Wahlkampfs. Das entbehrt zwar nicht einer gewissen Ironie, war Neo-Stabilitätsfan Kurz doch 2017 auch angetreten, um „Stillstand“ zu bekämpfen und „Veränderung“ zu garantieren – zeitigt aber durchaus Wirkung. In der Bedrängnis, sich verdribbelt und die Gefahr des Misstrauensantrags unterschätzt zu haben, setzt Kurz alles auf eine Karte: Sich selbst und seine Beliebtheitswerte. Stabilität, c’est moi. Frei nach dem royalen Prinzip kultiviert er den Präsidentenkanzler.

Gänzlich uneitle Menschen findet man selten in der Spitzenpolitik (zumindest nie für längere Zeit), wenig Wunder: Wer von sich selbst nicht restlos überzeugt ist, kann schwer die p. t. Wähler von sich überzeugen. Wer von sich aber zu sehr überzeugt ist, läuft Gefahr, in Narzissmus abzurutschen. Um dieses Risiko zu minimieren, umgeben sich starke Politpersönlichkeiten gezielt mit vielfältigen Teams, die eigene Strahlkraft entwickeln und, wenn nötig, Kontraworte nicht scheuen. Kurz’ Team besteht eher aus Kurz-Fans. Minister mit Eigenleben, Hausmacht oder Politerfahrung finden sich darin kaum.

Eloquenz, Professionalität, sicheres Surfen auf dem Zeitgeist: Sebastian Kurz verfügt über eine Reihe außergewöhnlicher Politbegabungen – die notwendige Demut vor dem Amt allerdings zählte nie dazu. Im Gegenteil. Einen gewissen Hang zur Hybris machten selbst geneigte Beobachter rasch als größte Sollbruchstelle im System Kurz aus: Die Neigung, die eigene Sicht- und Handlungsweise für die einzig mögliche zu halten, inhaltliche Einwände dagegen oder, horribile dictu, gar Kritik daran abzukanzeln, abzuschasseln und verächtlich zu machen.

Kniffelige Koalitions-Frage

Kritik der Opposition inklusive. Manch Schwerpunkt der ÖVP-FPÖ-Koalition zielte darauf, die SPÖ gezielt zu entmachten, sie aus Sozialversicherung und Co zu kicken. Machtpolitisch verständlich für einen Wahlsieger, doch manch Triumphalismus scheint sich nun, da die Alleinregierung Kurz auf das Vertrauen der Opposition angewiesen ist, zu rächen. Schon eine Woche nach Ibiza zeichnet sich ab: Österreich ist ein Stück unregierbarer geworden, welche Parteien sich nach der Nationalratswahl zur Koalition zusammenfinden sollen, scheint kniffeliger denn je.

Zu den vielen Novitäten dieser turbulenten Politwoche gehörte, dass dem Publikum noch nie eine Regierungskrise derart live auf offener Bühne dargeboten wurde. Massenverwirrungswaffen Social Media, Liveticker, Sondersendungen: Im hektischen Hyperventilieren galt selbst eine notwendige Nachdenkphase als schier unverzeihliche Schwäche. In vielem mag sich Kurz in seiner Woche der Bewährung im Ton vergriffen, in der Taktik verschätzt haben – ein Fehler ist ihm nicht anzulasten: sich am Samstag einige Stunden lang nicht öffentlich geäußert zu haben. Regierungsende und Neuwahlen sind kein Routineakt, die ein Politiker gewohnt wie den täglichen Alltagskram abspult – sich davor gewisse Bedenkzeit zu gönnen, kann nicht schaden.

Der Vergleich macht sicher: Als Schwarz-Blau I im Jahr 2002 in Knittelfeld am Samstag implodierte, trat Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer am Sonntag zurück, am Montagnachmittag verkündete Bundeskanzler Wolfgang Schüssel Neuwahlen. Damals ging Schüssels Reaktion als rascher, beherzter Schritt der Führungsstärke durch – heute wird eine Entscheidung in ähnlichem Tempo als unverzeihliches Zaudern ausgelegt. Die Politik hat sich rasant beschleunigt, ist zur Instant-Democracy (Copyright: Politologie-Altmeister Fritz Plasser) mutiert, beileibe nicht immer zu ihrem Vorteil.

Wie beruhigend, dass wenigstens der Bundespräsident sich nicht stressen lässt. Österreich, schon von Karl Kraus als „Versuchsstation für den Weltuntergang“ beschrieben, mag nervöseln, Van der Bellen verströmt die ruhige Gewissheit: „Wir kriegen das hin.“ Von ihm, nicht vom Kanzler, kam der Staatsmann-Satz der Woche. Auch bezeichnend.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin