Senol Akkilic über grüne Irrtümer und seinen Wechsel zur SPÖ

Senol Akkilic, der von den Wiener Grünen zu den Roten wechselte, erklärt, weshalb er die SPÖ früher ablehnte und welche Fehler die Grünen heute machen.

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INTERVIEW: CHRISTA ZÖCHLING

profil: Wir treffen uns hier im SPÖ-Klub. Fühlen Sie sich schon zu Hause? Senol Akkilic: Ich bin in einer Gewöhnungsphase. Es ist ein viel größerer Klub, mehr Menschen, andere Struktur. Es geht hierarchischer zu als bei den Grünen. Bei der SPÖ muss man in einem Bezirk organisiert sein und in diesem Bezirk auch Kontakte zu den Menschen pflegen. Das finde ich ganz gut.

profil: Sind Sie schon SPÖ-Mitglied? Akkilic: Ja.

profil: Bei Ihrem Wechsel von den Grünen zur SPÖ gab es heftige Shitstorms. Wie hält man das aus? Akkilic: Sehr schwer. Die Karwoche werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Ich muss das erst lernen. Doch wie viel kann ein Mensch vertragen? Ist es richtig, im Namen der Moral gegen Unmoral zu kämpfen und selbst unmoralisch zu werden?

profil: Haben Sie noch Freunde unter den Grünen? Akkilic: Ich habe mittlerweile einige Grüne gesehen. Wir haben uns gegrüßt. Sie haben auch nachgefragt, wie es mir geht.

profil: Der Anlass Ihres Wechsels war das Wahlrecht. Finden Sie es richtig, dass die SPÖ mit einer relativen Mehrheit an Stimmen die absolute Mehrheit an Mandaten bekommt? Akkilic: Ich war immer der Meinung, die Grünen hätten das Wahlrecht nicht gegen Ende der Legislaturperiode, sondern am Anfang verhandeln sollen. Vielleicht war ich nicht laut genug. Ich wollte jedenfalls nicht gegen die SPÖ stimmen.

profil: Warum nicht? Akkilic: Erstens wollte ich keine Geschäftsordnungsänderung ohne Konsens mit dem Koalitionspartner der Grünen zulassen, andererseits will ich die Freiheitlichen nicht unterstützen. Wäre die Wahlrechtsreform mit den Stimmen der Grünen, der FPÖ und der ÖVP beschlossen worden, hätte die SPÖ automatisch vier Mandate verloren. Wer hätte diese zwei Mandate wohl bekommen?

profil: Dass die Grünen die Erhöhung des ohnehin schon exorbitant hohen Werbebudgets der Stadt Wien und Inseratenmillionen für Boulevard-Zeitungen mitbeschlossen haben, verursacht keine Gewissensbisse? Akkilic: Es war natürlich ein Problem. Wir haben ständig diskutiert und gesagt, dass wir das vorher immer angeprangert haben, dass man mit diesen Geldern auch was anderes machen könnte. Die Grünen wollten die Koalition nicht daran scheitern lassen.

profil: Es heißt, Ihre Themen – Migration, Deradikalisierung – wurden bei den Grünen nicht ernst genommen. Machen die Grünen eine Bobo-Politik? Akkilic: Ich würde das anders formulieren. Doch ich bin mit meinen Themen tatsächlich nicht so durchgekommen, wie ich mir das gewünscht habe. Es gibt bei manchen Grünen die Einstellung, wenn man Flüchtlings- und Migrationspolitik zu sehr thematisiert, dann führt das zwangsläufig dazu, dass man sich mit den Freiheitlichen verstärkt auseinandersetzen muss, und so würde man Werbung für sie machen. Ich halte diese Einschätzung für falsch.

Als ich in die Schule kam, konnte ich kaum Deutsch. Die anderen Kinder haben sich die Nase zugedrückt, sie haben mir gedeutet: Du stinkst.

profil: Sie sind jetzt Mitglied der SPÖ, deren Spitzenfunktionäre in den 1990er-Jahren die restriktiven Ausländergesetze beförderten. Wie passt das zusammen? Akkilic: Damals wäre ich niemals zur SPÖ gegangen – obwohl ich an jedem 1. Mai marschiere: Da geht es um Arbeiterrechte, für mich ein Pflichttermin. Aber ich muss zugeben: Ohne Terezija Stoisits, die damals Menschenrechtssprecherin der Grünen war, wäre ich wahrscheinlich auch nicht zu den Grünen gegangen. In den vergangenen fünf Jahren habe ich auf Augenhöhe mit der SPÖ-Stadträtin Sandra Frauenberger zusammengearbeitet, auch mit Tanja Wehsely. Sie repräsentieren nicht mehr die alte SPÖ aus Löschnaks Zeiten. Sie kritisieren, wenn es darauf ankommt, auch die Bundespartei. Ich will da auch nicht aufgeben: Flüchtlinge müssen arbeiten dürfen. Ich hoffe, dass sich die Wiener SPÖ in dieser Hinsicht auf Bundesebene durchsetzen wird.

profil: Heute schotten sich viele Migranten ab, schöpfen ihre Identität aus der Religion. Sie sind selbst ein Gastarbeiterkind. Was ist in den vergangenen 30 Jahren schiefgelaufen? Akkilic: Als ich 1979 zu meinen Eltern aus der Türkei nach Österreich kam, wohnten wir in einer Substandard-Wohnung ohne Wasser und Klo. Dabei war uns immer erzählt worden, wie schön das Leben hier ist, wie leicht, alles auf Knopfdruck. Als ich in die Schule kam, konnte ich kaum Deutsch. Die anderen Kinder haben sich die Nase zugedrückt, sie haben mir gedeutet: Du stinkst. Hätte ich nicht eine Lehrerin gehabt, die nach dem Unterricht die Klasse aufforderte, mit mir Deutsch zu üben – wer weiß? Österreich war nicht auf uns vorbereitet. Und meine Eltern wollten auch gar nicht bleiben, wir Kinder schon. Stichwort „Abschottung“: Das begann, als sich religiöse Einrichtungen zusammenschlossen – Diskriminierungserfahrung, Rassismus und Chancenungerechtigkeit bilden die Grundlage dafür. Das hat auch mit der Entwicklung in den Herkunftsregionen zu tun. Es hat beispielsweise einen direkten Eingriff der türkischen Politik in Österreich gegeben. Manche religiöse Einrichtungen werden, wie bekannt, von der Türkei finanziert.

profil: Sie waren viele Jahre lang Streetworker. Wann ist Ihnen eine Radikalisierung durch den politischen Islam aufgefallen? Akkilic: Es fing mit 9/11 an. Es gab damals Jugendliche, die sagten: Den Amerikanern geschieht recht. Ich glaube, wir haben da als Politiker etwas verschlafen. Plötzlich erzählten uns die Jugendlichen, dass sie den ganzen Sommer über in einem Internat verbracht haben. Es stellte sich heraus: Das Internat war eine Moschee, und sie hatten zwei Monate lang mit einem Hodscha (islamischer Religionsgelehrter, Anm.) gelernt. Während wir die Werte Gewaltfreiheit, Frauenrechte und Demokratie vermittelten, lernten sie religiöse Werte. Ihr Leben bekam dadurch eine andere Dimension.

profil: Soll die Politik handeln, wenn fünfjährige Mädchen in einem islamischen Privatkindergarten Kopftuch tragen? Akkilic: Die Frage ist: Wer lehrt dort den Koran? Welche Haltung steckt dahinter, dass sich ein Kind verhüllen muss? Darüber muss man sprechen.

Ich bin nicht Winston Churchill.

profil: Wie soll man mit dschihadistischen Rückkehrern umgehen? Akkilic: Sie unter Beobachtung des Verfassungsschutzes zu stellen, verhilft nicht zur Wiedereingliederung. Diese Jugendlichen müssen erzählen, was in Syrien oder Irak passiert ist. Sie werden von keinen strafbaren Handlungen erzählen und sich selbst belasten, das können wir nicht erwarten, aber sie können erzählen, wie sie behandelt wurden und damit andere Jugendliche von diesem Irrsinn abhalten. Wir können auch nicht erwarten, dass ein Vater zu den Behörden geht und sein Kind verrät. In Wien haben wir daher ein Netzwerk aufgebaut, in dem alle relevanten Stellen, vom Stadtschulrat bis zur Jugendabteilung, zusammenarbeiten und an Deradikalisierung und Prävention arbeiten. Allein die Hotline des Bundes hilft da nicht, da braucht es ein ausgeklügeltes Programm ­ für Rückkehrer und Rückkehrerinnen, wie beispielsweise in Dänemark.

profil: Angesichts der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer: Trauen Sie sich, den Wienern zu sagen: Um Menschen zu retten, müssen wir sofort 2000, 3000 Flüchtlinge aufnehmen? Akkilic: Ja. Ich glaube, gerade die Wiener Bevölkerung hat Erfahrung mit Flucht und Auswanderung. 49 Prozent der Wiener haben Migrationshintergrund. Wenn wir Flüchtlinge isoliert irgendwo unterbringen, sie nicht arbeiten lassen, schaffen wir freilich ein Feindbild. Wir dürfen auch heute nicht davon ausgehen, dass diese Flüchtlinge morgen oder übermorgen zurückkehren werden – das war bereits vor Jahrzehnten ein Irrtum der sogenannten „Gastarbeiterpolitik“. So sieht die Welt nicht aus. US-Präsident Barack Obama sagt, der Krieg gegen IS werde 30 Jahre dauern. Diese Flüchtlinge werden hier heiraten, Kinder bekommen. Wollen wir den Prozess beschleunigen oder aufhalten? Wenn wir ihn aufhalten, bekommen wir größere Probleme. Außerdem muss gesagt werden, dass Zuwanderung der Stadt Wien seit jeher Chancen bietet. Migrantinnen und Migranten haben viele Potenziale, die man aufgreifen muss.

profil: Werden Sie auf wählbarer Stelle für die SPÖ kandidieren? Und welche Koalition wünschen Sie sich für Wien? Akkilic: Die Parteigremien werden sich damit befassen. Rot-Grün ist noch immer eine Herzensangelegenheit für mich.

profil: Ist für Sie eine Rückkehr zu den Grünen vorstellbar? Akkilic: Ich bin nicht Winston Churchill.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling