Bundeskanzler Christian Kern und Wiens Bürgermeister Michael Häupl

SPÖ Wien: Die Hintergründe einer gelähmten Partei

Christa Zöchling über eine gelähmte Wiener Sozialdemokratie, die nicht nur persönliche Animositäten zur Ursache hat, wie SPÖ-Chef Christian Kern vermutet.

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Selbst ein Klaus Maria Brandauer hätte sich schwer getan. Im Publikum herrschte keineswegs volle Aufmerksamkeit und Konzentration. In Reihen nächst der Bühne wurde gestrickt, es wurde gekaut, getratscht, gekramt und auf dem iPad nach Filmen gesurft. Man ahnte, die Stunden werden lang. Man reckte den Hals und hielt fieberhaft Ausschau nach irgendwas, irgendwem. Die Reihen waren dicht besetzt. Anfangs. Dann lichtete es sich. Ein Kommen und Gehen. Allmählich verlagerte sich das Geschehen zu den Buffets im Foyer der Messehalle D, in der seit Jahren die Parteitage der Wiener Sozialdemokraten stattfinden, auch jener in der vergangenen Woche, der erst zu später Stunde mit der Bekanntgabe von massiven Streichungen führender Genossen und langen Gesichtern zu Ende gegangen war.

Diese Wiener Sozialdemokratie, immer noch die größte Stadtpartei der Welt, hat eine große Vergangenheit, aber keine rosige Zukunft, jedenfalls keine, an die alle gemeinsam glauben würden. Zu viel war in den vergangenen Wochen passiert. Jetzt schweigt man erschöpft.

Es sind nicht nur persönliche Animositäten, wie Kanzler Christian Kern in Interviews vermutet, die eine Lähmung der Wiener Partei heraufbeschwören. Dahinter stehen Wirklichkeiten. Es prallen Weltsichten aufeinander. Die der Nachkommen aus dem Arbeitermilieu, immer noch kleine Leute, die sich selbst nie kleine Leute nennen würden, stolz darauf, dass sie es – mithilfe der SPÖ – geschafft haben und nun auch Ferien in der DomRep (Dominikanische Republik) machen. Die in neueren Gemeinde- und Genossenschaftsbauten wohnen, in ehemaligen Arbeiterbezirken diesseits und jenseits der Donau, die man nicht zufällig Flächenbezirke nennt, weil hier alles weit auseinandergezogen ist. Die mit dem Auto in den Supermarkt fahren (müssen), die sich über die autofreie Mariahilfer Straße giften und über Vorschläge für Lastenfahrräder. Das ist der Michael-Ludwig-Flügel, verallgemeinernd gesagt.

Zweiter Häupl nicht in Sicht

Die anderen sind die besser Gebildeteren, Migranten mit Uni-Abschluss, Kreative, Künstler und Kunstliebhaber in den innerstädtischen Bezirken, für die Radwege, Abkehr vom Massenkonsum, Nachhaltigkeit und gehobener Multikulturalismus ein urbanes Lebensgefühl verkörpern. Bürgermeister Michael Häupl hat das einzigartige Kunststück fertiggebracht, beide Weltsichten gleichzeitig in sich zu tragen, doch ein zweiter Häupl ist derzeit nicht in Sicht.

Manche denken an Christoph Peschek zurück. Er war einmal die „Zukunftshoffnung der SPÖ“ (© Häupl) gewesen. Lehrlingssprecher, Gemeinderat. Peschek hatte davon gesprochen, den Menschen ihre Würde zurückzugeben, die fremdbestimmt an ihrem Arbeitsplatz immer stärker unter Druck geraten. Er war der Meinung, dass die SPÖ auch in einer rot-grünen Koalition nicht nur die besser verdienenden und besser Gebildeten im Blick habe dürfe. Man hat ihn ziehen lassen. 2015 hat er alle Parteifunktionen zurückgelegt. Er ist heute Rapid-Manager.

SPÖ-Chef Kern hatte in seiner Parteitagsrede alarmierende Töne angeschlagen. Selbst die einst stolzen französischen Sozialisten seien jüngst bei den Präsidentschaftswahlen untergegangen. Das könne auch der SPÖ eines Tages passieren. Ob die traditionellen Antworten noch passen? Die Routine sei „unser schlimmster Feind“, sagte Kern.

Kerns Botschaft an die Mittelschicht wurde sowohl am Wiener Parteitag als auch beim 1.-Mai-Aufmarsch auf dem Rathausplatz reserviert aufgenommen. „Wir sind da für die, die früh aufstehen und zur Arbeit gehen“, verkündet Kern neuerdings bei jedem seiner Auftritte. „Wir müssen all jene stärken, die in der Früh aufstehen und arbeiten gehen“, sagt aber auch ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner.

"Neue Proletarier"

„Die neuen Proletarier sind die Migranten“, verblüffte stattdessen Häupl vor Kurzem im profil-Interview. Was bedeutet das? Ist die SPÖ eine Partei, in der gut situierte Akademiker für arme Unterschichtler kämpfen und dabei die normalen Leute vergessen? Der Begriff Mittelschicht findet sich jedenfalls kein einziges Mal in der dicken Antragsmappe der Wiener SPÖ. Eine junge Wiener Delegierte machte triumphierend darauf aufmerksam.

Man ist sich nicht einig über die Frage des Umgangs mit der FPÖ. Nicht einmal in Wien. Seit einem Jahr ist eine Arbeitsgruppe der Bundes-SPÖ damit beschäftigt, einen Kriterienkatalog für zukünftige Koalitionen, auch für eine eventuelle Koalition mit der FPÖ, zu erstellen. Man kann davon ausgehen, dass das Ergebnis vage und nach allen Seiten interpretierbar ausfallen wird, oder die Sache weiter auf die lange Bank geschoben wird.

Die Wiener SPÖ hat vergangenes Wochenende einen Pflock eingeschlagen, indem sie einer Zusammenarbeit mit der FPÖ eine Absage erteilte. Das ist der antifaschistische Grundkonsens, der zuverlässige Kitt, der bei allen Stürmen noch immer zusammenhält. In dem etwas unglücklich formulierten Antrag, der auch von Ludwigs Bezirk unterstützt wurde, heißt es: „Die FPÖ vertritt ein differenziertes Menschenbild. Sie steht dafür, dass es Menschen gibt, die mehr wert sind als andere Menschen.“ – Der dabei „an den Tag gelegte Rassismus“ sei „der fast natürliche Effekt dieses differenzierten Menschenbildes“, während die SPÖ, für die jeder Mensch gleich viel wert sei, die Gegenthese dazu bilde. Logisch ist das richtig, sprachlich klingt es so, als sei einem ein plumpes Menschenbild lieber als ein differenziertes. „In meinem Leben, im Spital, auf Ämtern, mache ich da ganz andere Erfahrungen. Keine Rede von gleich viel wert“, schimpfte prompt ein Parteitagsdelegierter. Er sagte das natürlich nicht öffentlich. Ein Tabu ist auch Sozialpolitik im Verhältnis zur FPÖ. Man kann davon ausgehen, dass in Teilen der Basis von SPÖ und Gewerkschaft ein Wahlkampfschlager der Freiheitlichen – „Unser Geld für unsere Leut“ – ziemlich gut ankommt.

"Feministische Perpektive"

Auch bei der leidigen Kopftuchdebatte stoßen Unterschiede in Biografien und Lebenswelten aufeinander. Man ist sich weitgehend einig, dass man kein allgemeines Kopfverbot für erwachsene Frauen haben möchte. Doch die Begründung dafür, auf dem Landesparteitag von jungen Frauen als „feministische Perspektive“ vorgebracht – keiner rede darüber, dass sich Frauen „in High Heels hineinzwängen; weibliche Nacktheit errege empörenderweise weniger Aufsehen als ein Stück Stoff“ –, ließ Älteren, für die Frauenministerin Johanna Dohnal eine Ikone gewesen war, die Zornesröte ins Gesicht steigen. Ans Rednerpult ging keine von ihnen. Man solle kein Öl ins Feuer gießen, hieß es. So sei die Parteitagsregie …

Diskutiert wurde eigentlich nur ein einziges Thema auf diesem lauen Parteitag, und der Verlauf war symbolträchtig. Es ging um das Verhältnis der Wiener SPÖ zum Boulevard, seine Finanzierung durch Inserate der Stadt Wien, seine Begünstigung von Gratisblättern durch die Entnahme-Boxen an den U-Bahn-Eingängen. Der Antrag der Sektion 8, diese Boxen seitens der Stadt Wien zu kündigen, weil sie für „Österreich“ und „Heute“ „künstliche Reichweiten“ schafften, mit denen millionenschwere Werbeeinnahmen lukriert würden, ließ die verfeindeten Lager sofort wieder zusammenrücken: „Wir wollen keine Zeitungen verbieten“, „Das wäre Zensur“, den „sauberen Boulevard“ unterstützen, „Da müsste man auch Kolporteure verbieten“, „Wo fängt das an, wo hört das auf?“, „63 Prozent der Menschen, die mit der U-Bahn fahren, wollen diese Zeitungen“, und so fort. Fein orchestriert waren führende Funktionäre ans Rednerpult marschiert, um eine Zustimmung zu diesem Antrag zu verhindern, der nach Ansicht der Sektion 8 ein „kleiner, erster Schritt“ hätte sein sollen.

Sieht man sich das oberste Führungsgremium der Wiener SPÖ, den 25-köpfigen Vorstand, an, und bedenkt man die vielfältigen Abhängigkeiten und Rücksichtnahmen – die Funktionäre sind auch häufig verwandt, verschwägert, verheiratet und geschieden –, dann versteht man, warum sich keiner recht traut, Konflikte auszutragen, von denen man nicht weiß, wie sie ausgehen und wer sie gewinnen wird. Bis auf wenige Ausnahmen kommen diese Menschen beruflich aus der Welt der Partei, der Arbeiterkammer oder des Gewerkschaftsbunds. Sie haben sich dem stressigen Job des Politikers hingegeben, mit wenig Privatsphäre, vielen Abend- und Wochenendterminen, und wollen ihre Mandate und Funktionen naturgemäß bis zur Pensionierung innehaben. Junge haben da kaum Chancen.

„Wir sind schon sehr verlogen“, sagt ein Genosse, der schon alles hinter sich hat. „Mit uns zieht die neue Zeit“, sagt Häupl und setzt nach: „Hoffentlich.“ Neue Zeit? Eher eine bleierne.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling