Die Ausgesperrten

Stimmenverleih: 835.000 Zuwanderer sind vom Urnengang ausgeschlossen

Demokratie. Mehr als 800.000 Zuwanderer sind vom Urnengang ausgeschlossen

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In der Wiener Berufsschule für Gastgewerbe in der Längenfeldgasse sind die bevorstehenden Parlamentswahlen nicht gerade ein Hit. Die Jugend hat anderes im Sinn. Mit vibrierender Ungeduld in der Stimme müht sich Klassenvorstand Waltraud Stiefsohn, den angehenden Kellnerinnen und Kellnern die Bedeutung einer Nationalratswahl näherzubringen. "Wer macht die Gesetze? Was ist ein Budget? Wer von euch darf überhaupt wählen?“ - Was für eine Frage! Jeder hier ist mindestens 16 Jahre alt, und sofort fahren die Hände in die Höhe. Einige senken sie allerdings rasch wieder. Verlegenheit macht sich breit. "Bist du deppert! Acht von uns dürfen net wöhn, und zehn dürfen schon?“, ruft es aus der ersten Bank.

Wer eben noch mit schwerem Kopf auf dem Pult lümmelte und klargemacht hat, dass er keineswegs daran denke, zur Wahl zu gehen ("Kenn mich nicht aus“ - "Keine Zeit“ - "Was wird schon sein“), blickt jetzt irritiert um sich. Bisher gehörten alle irgendwie dazu. Es hatte keine Rolle gespielt, wer einen österreichischen Pass besitzt und wer nicht. Die Jugendlichen hier, die man gern mit dem Begriff "Migrationshintergrund“ schubladisiert, kamen schon als Kleinkinder nach Wien. Einer wurde sogar in Wien geboren. Auch er darf nicht wählen. Das versteht nun wirklich niemand. Der Vorschlag, drei Jahre sollten doch genügen, um in Österreich wählen zu dürfen, würde in dieser Berufsschulklasse wohl eine Mehrheit finden.

Seit einem Jahr wählen auch Strafgefangene
Hierzulande ist das Wahlrecht an ein Mindestalter von 16 Jahren und an die österreichische Staatsbürgerschaft gebunden. Nur daran. Selbst Demente, geistig Behinderte und psychisch Kranke, die unter Kuratel eines Sachwalters stehen, sind wahlberechtigt. Sie müssen nur mit eigener Hand das Kreuz machen. Es handelt sich um rund 200.000 Menschen. Seit einem Jahr wählen auch Strafgefangene, wenn der Richter nichts anders verfügt hat. Bei der kommenden Nationalratswahl werden rund 835.000 in Österreich lebende Menschen, die älter als 16 Jahre sind, nicht wählen dürfen. In Wien ist jedem Fünften die politische Mitbestimmung verwehrt. In ihrer übergroßen Mehrheit handelt es sich dabei nicht um Menschen, die sich nur vorübergehend in Österreich aufhalten, sondern um solche, die hier zur Schule gehen oder arbeiten, Steuern zahlen, die als ihren Lebensmittelpunkt Österreich gewählt haben.

Vom politischen Prozess ausgeschlossen
Nach Berechnungen von Ramon Bauer, einem wissenschaftlichen Mitarbeiter am Demografie-Institut der Akademie der Wissenschaften, wächst die österreichische Wohnbevölkerung seit zwei Jahrzehnten stetig an, doch die Zahl der Wahlberechtigten stagniert. Selbst 45.000 hierzulande geborene Kinder, die heuer das Wahlalter erreicht haben, dürfen nicht wählen. Fast ein Drittel der in Wien lebenden ausländischen Staatsbürger zwischen 30 und 44 Jahren, die mitten im Leben stehen, an ihrem beruflichen Aufstieg arbeiten und Kinder in die Welt setzen, bleibt vom politischen Prozess ausgeschlossen. Dieselbe Altersgruppe mit österreichischer Staatsbürgerschaft schrumpft hingegen. Und das hat, so nebenbei, auch ungünstige Auswirkungen für die Altersstruktur der Wähler: Bei Wiener Wahlen könnte bald nur noch die Generation 60 plus den Ton angeben. Auf "Standard online“ warnte der Politologe Gerd Valchars schon davor, dass "das allgemeine Wahlrecht in Österreich kein allgemeines mehr ist“.

Man könnte dem begegnen, indem man den Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft erleichtert. Doch viele Zuwanderer wollen sich zwar politisch engagieren oder zumindest wählen, aber nicht auf den Reisepass ihres Herkunftslandes verzichten, aus sentimentalen Gründen oder aus pragmatischen.

Hälfte „Biber”-Redaktion nicht wahlberächtigt
Eine verkehrte Welt musste auch die Redaktion des "Biber“, des "Magazins für neue Österreicher“, erleben. Die jungen Menschen, die in einem Büro im Wiener Museumsquartier ihrem journalistischen Ehrgeiz nachgehen, waren doch etwas überrascht, als sich herausstellte, dass die Hälfte der Redaktion nicht wahlberechtigt ist. Biografisch ist das nicht zu erklären. Für Amar Rajkovic etwa, den stellvertretenden Chefredakteur, war Marko Mestrovic, der Fotochef des Magazins, immer schon der Urwiener, der sich auskannte und auch so sprach. Beide waren Anfang der 1990er-Jahre mit ihren Familien aus Bosnien geflüchtet. Der eine darf wählen, der andere nicht. Auch die Journalistin Marina Delchewa, die Politiker interviewt, politische Kommentare verfasst und seit 20 Jahren in Wien lebt, ist nicht wahlberechtigt. Sie könnte sich in Österreich einbürgern lassen. Doch ihre Generation denkt schon in größeren Räumen. Sie sieht sich als EU-Bürgerin. Warum soll sie eine kostspielige Prozedur und einen nervigen Behördenlauf auf sich nehmen?

Wahlwexel-Jetzt.org
Um auf das Unrecht aufmerksam zu machen, organisiert die Initiative "www.wahlwexel-jetzt.org" eine Art Stimmenverleih. Dabei gibt ein österreichischer Wahlberechtigter aus Solidarität seine Stimme einem Nicht-Wahlberechtigten. Wer mitmacht, verpflichtet sich, über die Briefwahl dem Wunsch seines Wahl-partners Genüge zu tun. ÖVP und FPÖ mutmaßen darin einen Verstoß gegen das freie und geheime Wahlrecht. Bei der Wien-Wahl 2010 war Unterstützer Andreas Görg, Sohn des früheren Wiener ÖVP-Obmanns Bernhard Görg, deshalb angezeigt worden. Das Verfahren wurde eingestellt.

Die Philosophin Heide Hammer und der Sozialarbeiter Camaran Jaff sind ebenfalls ein "Wahlwexel“-Paar. Beide leben schon gleich lang in Wien. Doch Jaff war 1992 nach einer Odyssee als kurdischer Flüchtling aus dem Irak in Traiskirchen angekommen. "Wir sind in der Gruppe der Vorsichtigen“, sagt Hammer. Sie wollte keinem die Stimme leihen, von dem sie nicht weiß, ob es eine halbwegs übereinstimmende politische Grundhaltung gibt. Die FPÖ zu wählen wäre für sie nicht in Frage gekommen. Eine untypische Patenschaft hat die Rassismusforscherin Fanny Müller-Uri, eine der Organisatorinnen der Kampagne, übernommen. Sie wird ihre Stimme der deutschen Sozialwissenschafterin Madeleine Drescher geben. Die Deutsche arbeitet und lebt seit acht Jahren in Österreich.

Müller-Uri sagt, sei finde es bedenklich, dass viele interessierte Bürger von Wahlen zwangsweise ausgeschlossen sind und noch viel mehr Österreicher gar nicht mehr wählen gehen, weil sie sich nicht vertreten fühlen.

Sie werde sich nicht anmaßen, ihre "Wahlwexel“-Partnerin in eine bestimmte Richtung zu drängen. Die neue linke Kraft, die ihr vorschwebe, die gebe es ohnehin nicht. So sei sie Patin geworden für eine Person, mit der sie streiten und diskutieren kann. Wichtiger als eine einzelne Stimme sei die symbolische Kraft der Aktion mit dem willkommenen Nebeneffekt, dass "ich mir zum Glück keine Gedanken mehr machen muss“.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling