Die Schule des Buben in Baden

Nach Suizid eines Flüchtlingsbuben: Pranger statt Trauer

Die Suche nach Schuldigen am Suizid eines afghanischen Buben lenkt von den Flüchtlingskindern ab, die noch leben. Ein Nachruf – und ein Appell.

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Als ihm die Worte fehlten, stieß er im Internet auf ein Gedicht, das von "Vögeln auf ihrem freien Flug ins Paradies" handelt. Aarian*, 19, dachte an den fröhlichen kleinen Buben, mit dem er auf der Wiese vor dem Flüchtlingsheim Fußball gespielt hatte, und postete die Zeilen auf Facebook. Darunter schrieb er: "Ohne dich ist nichts mehr so, wie es war."

Der fröhliche kleine Bub lebt nicht mehr. Am 12. November, einem Sonntag, nahm Ramin* sich das Leben. Er erhängte sich an Gürteln in seinem Zimmer und starb wenige Stunden später im Spital. Elf Jahre war er alt. Sein Freund Aarian sitzt in der hintersten Ecke einer Pizzeria in der Nähe der Unterkunft im niederösterreichischen Pfaffstätten und stochert in seinem deutschen Wortschatz unsicher nach Worten, die dem Unfassbaren gerecht werden. "Höflich und nett" sei der Bub gewesen sei, sagt er immer wieder; einmal habe sich der kleine Ramin beim Kinderfest eine rote Schaumstoffkugel auf die Nase gesteckt und mit Bällen jongliert. Keines der anderen Flüchtlingskinder habe so gut Deutsch gesprochen wie er.

Wenige Tage, bevor der junge Afghane aus dem Leben schied, passte der Jüngere den Älteren auf dem Weg ins Fitnesscenter ab: "Wohin gehst du?" Aarian trainiert drei bis vier Mal in der Woche in Traiskirchen. "Wenn ich älter bin, gehe ich mit dir", sagte Ramin. Vergangene Woche ließen sein Freund und die anderen Bewohner des Paul-Weiland-Hauses der Diakonie Luftballone in den Himmel steigen und klebten Bilder von Ramin an eine Wand. Aarian sagt, zwei davon möge er besonders: Eines zeigt Ramin im roten Clownskostüm; auf dem anderen hält er einen goldenen Pokal, den er beim Fußballspielen gewonnen hatte.

Dieses Bubenleben war in der Berichterstattung fast unsichtbar geblieben. Kaum war der Suizid des jungen Afghanen öffentlich geworden, zog das Land Niederösterreich die Kommunikation an sich. Ramin war im Nu zum Fall und sogleich auch zum Streitfall geworden, zu dem weder Lehrer noch Betreuer sich äußern durften. Vor seiner Schule in Baden und vor der Diakonie-Unterkunft in Pfaffstätten lauerten Journalisten. Eltern lotsten ihre Kinder an ihnen vorbei. Fußballtrainer drehten das Handy ab, freiwillige Helferinnen und Flüchtlinge verstummten – manche waren traurig, viele hatten auch Angst. Statt Nachrufen und menschlicher Bestürzung gab es Redeverbote und "professionelle" Öffentlichkeitsarbeit.

Es ging dabei weniger um Ramin als um die Frage, wer ihn auf dem Gewissen hat. Bald kursierten Versionen von mörderischem Versagen. Einmal stand der Bezirkshauptmann am Pranger, der den älteren Bruder, 23, mit der Obsorge für sechs Geschwister überfordert habe; einmal waren es Polizisten, die Ramin und ein anderes Kind im Heim ablieferten (angeblich waren sie bei einem Ladendiebstahl ertappt worden – eine Anzeige gibt es nicht) und ihm vielleicht Angst vor einer Abschiebung einjagten. Oder hat ihn der älteste Bruder zu hart angepackt? Am Ende liegt es an dem 19-jährigen Aarian, der auch noch wie ein Kind aussieht, dem Gedenken an Ramin ein wenig Farbe einzuhauchen und jedes Mal, wenn das Gespräch auf das Warum zusteuert, traurig die Schultern hochzuziehen: "Ich weiß es nicht. Man kann es nicht wissen."

Wer sich um ihr Wohl sorgt, sollte den toten Buben betrauern und sich danach um die lebenden Kinder kümmern. Denn hier liegt einiges im Argen.

Dieses Eingeständnis ist kaum zu ertragen. Jeden Tag passieren ähnliche Dinge, ohne dass ein fröhlicher Bub sich danach erhängt. Die Jagd nach Schuldigen und ihre mediale Hinrichtung soll den Kinderselbstmord begreiflicher machen. Doch die Zuspitzung treibt auf einen Abgrund zu: Wer einen Elfjährigen in den Tod gedrängt haben soll, steht als vermeintlicher Mörder da und wird verurteilt, bevor ein Gericht zum Zug gekommen ist. Die Öffentlichkeit kann sich danach in dem selbstherrlichen Gefühl wiegen, hier sei vermeintlich Gerechtigkeit geübt worden. Das aber lenkt von den Kindern ab, für die es noch nicht zu spät ist. Wer sich um ihr Wohl sorgt, sollte den toten Buben betrauern und sich danach um die lebenden Kinder kümmern. Denn hier liegt einiges im Argen.

Laut Asylkoordination leben rund 3000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Österreich. Ramin war mit sechs Geschwistern vor rund zwei Jahren hierher gekommen. Im Vorjahr übersiedelten sie in das Paul-Weiland-Haus der Diakonie. Die Bezirkshauptmannschaft in Baden betraute den 23-jährigen Bruder mit der Obsorge für die jüngeren Geschwister, drei Buben und drei Mädchen zwischen sieben und 15 Jahren, unter ihnen ein neunjähriger Bub mit Trisomie 21 (Down-Syndrom). Mehrfach meldeten Betreuer des Hauses, der junge Mann sei überfordert; man bat die zuständige Bezirkshauptmannschaft, die Obsorge zu übernehmen. Doch das half nicht. Zwei Tage, bevor das offizielle Mandat von Flüchtlingskoordinator Christian Konrad auslief, erreichte ihn ein Hilfeschrei der Diakonie. Konrad bat den Badener Bezirkschef Heinz Zimper daraufhin per E-Mail, sich der Sache anzunehmen – ebenfalls vergeblich. Zimper antwortete drei Wochen später lapidar, man habe einen Hilfeplan erstellt, der laufend adaptiert werde; außerdem lehne der älteste Bruder eine getrennte Unterbringung des behinderten Buben ab.

Das Gesetz steht freilich darüber. Auch wenn der Bruder von seiner eigenen Tadellosigkeit noch so überzeugt ist, muss die Behörde einschreiten, sobald Kinder vernachlässigt und an ihrer Entwicklung gehindert werden. Das Problem: Bei Flüchtlingen werden Belastungen toleriert, die Experten bei österreichischen Kindern für undenkbar halten. Das kritisieren Kinder- und Jugendanwälte, SOS-Kinderdorf, das UN-Kinderhilfswerk (Unicef) und heimische NGO-Vertreter seit Jahren. Im Februar berichteten profil und Ö1 über einen 18-jährigen Afghanen, der mit der Verantwortung für zwei krebskranke Schwestern überfordert war. Betreuer schalteten die Jugendhilfe ein, die Volksanwaltschaft initiierte ein Prüfverfahren. Der Bruder bekam danach immerhin mehr Unterstützung – die Obsorge blieb trotzdem bei ihm.

In der Praxis bedeutet jede Entscheidung im Einzelfall eine Gratwanderung.

In der Praxis bedeutet jede Entscheidung im Einzelfall eine Gratwanderung. Mit Ramins tragischem Tod hat dies am Rande zu tun. Gesetzt den Fall, die Bezirkshauptmannschaft Baden hätte die Obsorge für seine Geschwister tatsächlich übernommen und die minderjährigen Kinder in einer dafür geschaffenen Einrichtung untergebracht (was ihre Betreuer befürworteten), und gesetzt den Fall, Ramin hätte sich hier das Leben genommen: Wieder wären Schuldige gesucht worden – nur hätte man dieses Mal auf die herzlosen Behörden gezeigt, die sieben Geschwister aus Afghanistan auseinanderrissen.

Vor Ramins ehemaliger Schule in Baden flatterte vergangene Woche eine schwarze Fahne im Wind. Die Direktorin will sich nicht äußern: "Wir haben hier viel Trauerarbeit zu leisten, das erfordert meine ganze Kraft", sagt sie am Telefon. In der Fußgängerzone steht ein Dreiecksständer mit der neuen Ausgabe der "Badener Zeitung". Ein Narrentreffen in Traiskirchen wird vermeldet, die Gefahr durch geflickte Schlaglöcher und unter dem Titel "Flucht nimmt tragisches Ende" Ramins Tod. Der Elfjährige spielte im Fußballverein Casino Baden in der U12-Mannschaft und schoss als Stürmer bei insgesamt 18 Mannschaftsbewerben drei Tore. Sein Spielerprofil vermerkt als "letztes Spiel" den 7. November. 34 Menschen sahen dabei zu.

Hilfe bei Suizidgedanken:

www.suizid-praevention.gv.at Telefonseelsorge: 142, täglich von 0 bis 24 Uhr Kriseninterventionszentrum: 01/406 95 95 (Montag bis Freitag, von 10 bis 17 Uhr); auch persönliche und E-Mail-Beratung: www.kriseninterventionszentrum.at Sozialpsychiatrischer Notdienst / PSD: täglich von 0 bis 24 Uhr, Tel.: 01/31330

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges