IN DER STRASSENBAHN SEINEN SITZPLATZ ANBIETEN? Die sogenannte
Leitkultur ist porös geworden.

Umgangsformen: Warum wir dringend einen neuen "Knigge" brauchen

1788 veröffentlichte Freiherr Adolph Knigge seine wegweisende Aufklärungsschrift "Über den Umgang mit Menschen“. 2017 hätte die Gesellschaft ein neues Regelwerk bitter nötig, meint Christa Zöchling.

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Auch bei uns herrscht eine neue Selbstgerechtigkeit, bis hinein in die Familie und den Freundeskreis. Ist Streiten überhaupt noch möglich – in zivilisiertem Ton?

Natürlich ist das keine Frage der Etikette, sondern Ausdruck einer Haltung. Die Herablassung gegenüber jeder Art von Konvention ist weit verbreitet. Manieren, Respekt, Rücksichtnahme stehen nicht gerade hoch im Kurs. Man kann das leicht übersehen, weil es in der öffentlichen Debatte immer um die Mängel anderer Kulturen geht. Doch auch die eigene – die sogenannte Leitkultur – ist porös geworden: in der Straßenbahn seinen Platz anbieten; die Tür aufhalten; den Vortritt lassen; die Nachbarin grüßen; den Gesprächspartner nicht unterbrechen, ihn nicht seiner Schwächen oder Fehler wegen verhöhnen; Menschen, deren Meinung man ablehnt, nicht wie Aussätzige durch die sozialen Netzwerke hetzen. Man sollte einfach wissen, was sich geziemt. Das klingt verdammt altmodisch und fast schon lachhaft. Aber vielleicht kommt es eben doch auf die Formen an, in denen Menschen sich miteinander ins Benehmen setzen.

Adolph Freiherr Knigge wusste das. Er wuchs selbst in unruhigen Zeiten auf, in einer Gesellschaft im Umbruch, in der Klassen und Schichten im Begriff waren, sich neu zu ordnen, in der moralischer Konsens und allgemeingültige Kultur schwächer wurden. Das Buch, das Knigge berühmt gemacht hat, trägt den schlichten Titel "Über den Umgang mit Menschen". Es erschien am Vorabend der Französischen Revolution, im Jahr 1788, in erster Auflage und ist selbst im modernen Kleindruck noch immer gut 400 Seiten stark. Es war gedacht als Hilfe für den aufsteigenden Bürgerstand.

Im Grunde hatte Knigge über sich und seine Erfahrungen geschrieben. Nach Herkunft war er ein verarmter Adeliger, der sich das Gepränge an deutschen Fürstenhöfen kaum leisten konnte. Ein Entwurzelter, ein geistreicher Unterhalter, gern gelitten unter seinesgleichen, bis er in Hofintrigen hineingezogen wurde und wieder weiter musste. Er engagierte sich in den damals beliebten Freundschaftsorden, in Freimaurerlogen, im Illuminatenorden, doch der Sektengeist wurde ihm bald "ein Greuel".

Bekenntnis zur Freiheit des Denkens

Knigge war kein Revolutionär, aber ein Freigeist, der die Ziele der Französischen Revolution verteidigte, auch dann noch, als sie in den Terror abdriftete. Er wollte den bürgerlichen Freiheiten Gehör verschaffen. In einem "Manifest" rief er kritische Publizisten zur Solidarität und zum Zusammenschluss auf. Radikal war seine Haltung zur Freiheit des Denkens: "Dass ich ein Buch bezahlte, das gibt mir noch kein Befugnis, zu verlangen, dass in dem Buche Sätze stehen sollen, die mir angenehm sind", sagte Knigge. Man wünschte sich, Zeitungen würden heutzutage so gelesen.

Knigge starb 1796. Er war erst 44 Jahre alt.

Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, Etiketteregeln aufzustellen oder einen Ratgeber zu verfassen, wie man seine Konkurrenten aussticht und naive Gemüter für seine Absichten manipuliert.

Der Original-Knigge ist ein philosophisches Werk, das Höflichkeit und Takt im Umgang mit "Leuten von verschiedenen Gemütsarten", unterschiedlicher Schicht und Herkunft und unterschiedlichen Alters, mit Eltern, Kindern, Freunden, Eheleuten und Verliebten, Herrschern und Knechten beschreibt und begründet.

Knigge war ein Mann der Aufklärung und ein Menschenfreund. "Suche keinen Menschen, auch den Schwächsten nicht, in Gesellschaft lächerlich zu machen", war eines seiner Gebote.

Knigge selbst hätte seinem Buch gern einen ausführlicheren Titel gegeben: "Vorschriften, wie der Mensch sich zu verhalten hat, um in dieser Welt und in Gesellschaft mit anderen Menschen glücklich und vergnügt zu leben und seine Nebenmenschen glücklich und froh zu machen". Knigge war überzeugt, dass nur dies dem Leben einen Sinn gebe. Er würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, welches Schindluder bis heute mit seinem Namen getrieben wird.

Oft verfälschtes Original

Der Begriff "Knigge" ist ein Synonym für Benimmbücher aller Art geworden. Das Original wurde geglättet, verharmlost, sogar in sein Gegenteil verkehrt. 100 Jahre nach Knigges Tod war es eine Anstandsfibel für höhere Töchter geworden. Im Original von 1788 heißt es: Was Kaiser, König und Edelmann "sind und haben, haben sie nur durch die Übereinkunft des Volkes". Später stand an dieser Stelle: "durch die Gnade Gottes". Ein Pfarrer hatte sich darüber hergemacht und es um einen Etikette-Teil erweitert.

Im Schlachtenlärm des Ersten Weltkrieges erschien 1916 "Der moderne Knigge" mit dem Versprechen, ein unblutiger Ausgleich sei möglich, wenn sich alle an Knigges Regeln hielten. Zu Kriegsende 1918 wurde ein "Kleiner Knigge für heimkehrende Sieger", 1924 einer für "Schieber" herausgebracht, 1936 ein Knigge, der dem Rassenhass der Nazis frönte. Der erste Nachkriegs-Knigge 1946 war untertitelt mit: "Benimm dich wieder anständig", 1950 hieß es: "Man benimmt sich wieder."

Freiherr Adolph Knigge erkannte etwas, was uns heute zu denken geben sollte: dass soziale Umgangsformen und Kommunikation sich äußerst schwierig gestalten, solange Klassenunterschiede, angestammte Rechte und Privilegien durch Erziehung und Vorurteile genährt werden - und dass es dafür Konventionen gibt.

Andere Nationen hätten es leichter, schrieb Knigge in seiner Einleitung. Nur in deutschen Ländern herrsche "eine so große Mannigfaltigkeit des Konversationstons, der Erziehungsart, der Religions- und anderer Meinungen und Interessen", der Klassenunterschiede und Vorurteile und "kein Punkt, in dem welchem sich das Streben vereinigt".

Knigge im Kontext des derzeitigen Weltgeschehens

Ist es heute nicht auch so? Flüchtlinge, uneiniges Europa, nationale Egoismen, Selbstvergessenheit. Keiner denkt daran, dass im Zeitalter der Industrialisierung europaweit über 50 Millionen Menschen aus ihren Heimatländern ausgewandert waren, überwiegend nach Amerika. Im Grunde kann heute niemand mehr einer einzigen Kultur zugerechnet werden, auch wenn einschlägige Ideologen das Gegenteil behaupten und im Alltag erlebt wird, dass zugewanderte Fremde die Sprache (nicht so schnell oder gar nicht) erlernen, sich mit den sozialen Regeln schwertun oder sie ablehnen.

Gemessen am Knigge’schen Geist fallen die Lernunterlagen des Integrationsfonds "Mein Leben in Österreich" dürftig aus. Den Neuankömmlingen werden Rechte und Pflichten nähergebracht. Begründet werden sie rein pragmatisch, ohne Tiefgang, im Ton mahnend und nicht vertrauensvoll.

Als Anhänger Jean Jacques Rousseaus ging Knigge davon aus, dass der Mensch von Natur aus gut sei und der Sinn des Lebens darin bestehe, "sich und seine Nebengeschöpfe glücklich zu machen".

Böse Menschen könnten auch durch die Gesellschaft verdorben worden sein, meinte Knigge. "Wenn wir dem Gange nachspüren und die Triebfedern erforschen, welche uns zum Handeln bestimmen, welchen Einfluss Erziehung, Schicksale, Körperbau (…) haben, dann werden wir wahrlich oft gestehen müssen, dass der, welcher allgemein als der tugendhafteste Mann bekannt ist, bei gleichen Verhältnissen und Zusammentreffung derselben Umstände grade eben so würde gehandelt haben als der Bösewicht, welchen wir unter dem Schwerte der Gerechtigkeit fallen sehen."

Überraschend modern war Knigge auch in der Sichtweise auf das Individuum: "Die Pflichten gegen uns selbst sind die wichtigsten und ersten und also der Umgang mit unserer eigenen Person gewiss weder der unnützeste noch uninteressanteste. Es ist daher nicht zu verzeihen, wenn man sich immer unter anderen Menschen umhertreibt, über den Umgang mit Menschen seine eigene Gesellschaft vernachlässigt, gleichsam vor sich selber zu fliehen scheint, sein eigenes Ich nicht kultiviert und sich doch stets um fremde Händel bekümmert."

Die therapeutische Gilde hätte an Freiherr Adolph Knigge ihre Freude gehabt.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling