Unsicher im öffentlichen Raum: Nicht belästigen reicht nicht

Für Anna Jandrisevits ist sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum eine alltägliche Erfahrung. Wer schweigt, ist Teil des Problems.

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von Anna Jandrisevits 

Es beginnt schon morgens. Ich stehe vor meinem Kleiderschrank, es wird heiß heute. Ich krame in den Schubladen, finde einen kurzen Rock und ein knöchellanges Leinenkleid. Ich halte den Rock an meine Hüfte, begutachte mich im Spiegel, und die Gedanken schleichen in meinen Kopf: "Wenn ich diesen Rock anziehe, muss ich heute mit mehr Blicken, Pfiffen und unangenehmen Situationen rechnen." Ich werde auf der Straße am Rock herumzupfen – als könnte er mich davor schützen, wenn er nur ein paar Zentimeter tiefer an meinen Knien anliegt. "Will ich mir das heute antun?" Es gibt zwei Optionen: Ich ziehe den Rock an, um die Wahl meiner Kleidung nicht von Männern abhängig zu machen. Oder ich ziehe das Leinenkleid an, das viel weniger Luft zum Atmen lässt. Das Absurde an diesem Entscheidungsprozess: Er ist oft umsonst. Mein Körper wird immer sexualisiert. Selbst dann, wenn ich eine Jacke überziehe, um Arme und Ausschnitt zu bedecken.

Sexuelle Belästigung beginnt oft schon im Schulalter: Man fühlt sich ohnehin unsicher im eigenen Körper; ist noch zu naiv, um Muster zu erkennen. Als mich das erste Mal ein Autofahrer anhupte, dachte ich irritiert, er kenne mich. Ich war vielleicht 13 Jahre alt. Irgendwann habe ich gelernt, mich zu wehren, wie viele andere Frauen, bestärkt von der #MeToo-Bewegung, die vor nunmehr fünf Jahren begann. Es hat sich zwar viel getan, aber meinen Alltag hat es nicht wirklich verändert.

Die meisten Erfahrungen mit sexueller Belästigung mache ich auf der Straße. Neben meinem früheren Arbeitsplatz war monatelang eine Baustelle. Jeden Tag musste ich daran vorbei und stand vor der Wahl: Entweder ich wechselte die Straßenseite oder ich ging schnellen Schrittes an den Bauarbeitern vorbei und hoffte, sie würden mich in Ruhe lassen. Fehlanzeige. Manche begutachteten mich von oben bis unten, machten anzügliche Geräusche oder redeten über mich. Ich kam mir vor wie ein Tier im Zoo. Selbst nach dem Vorbeigehen spürte ich die Augen fremder Männer im Hinterkopf. Es sind Blicke, die sich anfühlen, als würden sie den Körper durchbohren. Derartige Erfahrungen sind auch sonst Teil meines Alltags. Sexuelle Belästigung passiert mir in dunklen Gassen genauso wie in belebten Einkaufsstraßen.

Viele Männer machen den öffentlichen Raum unsicher und entreißen ihn uns. Es geht nicht um Flirten oder Komplimente, sondern um eine verdrehte Anspruchshaltung – um Machtdemonstration. Sie beginnt nicht bei sexueller Belästigung, sondern bei Alltagsbegegnungen. Männer, die auf dem Gehsteig bis zur letzten Sekunde annehmen, dass ich ausweiche, um ihnen Platz zu machen; oder eine Hälfte meines Sitzes einnehmen, weil sie breitbeinig neben mir in der U-Bahn hocken.

All diese Einschüchterungen und Sexualisierungen prägten schon in der Schulzeit mein Männerbild. Bis heute reagiere ich zuerst mit Abwehrhaltung, selbst wenn ein fremder Mann mich "normal" anspricht. In manchen Situationen, etwa nachts, denke ich automatisch an Gefahrenabwehr. "Schreib mir, wenn du zu Hause bist" – ein Satz, den ich schon Dutzende Male gesagt und gehört habe, wenn ich mich von Freundinnen verabschiede. Heimweg, das bedeutet für mich auch: Meinen Standort mit einer Freundin teilen. Jemanden anrufen, wenn mir der Taxifahrer ein ungutes Gefühl gibt. Auf der Straße Ausschau nach einer Frau halten, an die ich mich wenden kann. Die Kopfhörer nicht benutzen. Den Schlüssel fest in der Hand halten, noch weit entfernt von der Haustür.

Mit meinen Erfahrungen bin ich nicht allein. Eine Studie des Instituts für Familienforschung stellte schon 2011 fest: Drei Viertel der Frauen in Österreich wurden im Erwachsenenalter sexuell belästigt. Bei Männern ist es ein Viertel. Spätestens seit der #MeToo-Bewegung sprechen mehr Betroffene von ihren Erfahrungen und wehren sich. Mit den Vorwürfen gegen Wolfgang Fellner wurde erstmals ein großer #MeToo-Fall in der Medienszene publik. Zuletzt löste die Regisseurin Katharina Mückstein eine Debatte in der österreichischen Filmbranche aus, als sie Erfahrungen sexueller Belästigung auf Instagram teilte. Jede einzelne Stimme stärkt die gesellschaftliche Bewusstseinsbildung.

Im Vergleich zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz werden Vorfälle im öffentlichen Raum weitaus weniger thematisiert. Ich war 17, als mir ein junger Mann auf der Rolltreppe an den Po fasste und ich ihn konfrontierte, in der Hoffnung, er würde es nie wieder tun. Er lachte nur. Die Wut kochte in mir hoch. Ich wusste: Er würde die Begegnung am nächsten Tag vergessen haben, während ich zu Hause meine Hose sofort in die Wäsche warf. Als hätte die Berührung sie dreckig gemacht. Bis heute werde ich nervös, wenn jemand dicht hinter mir auf der Rolltreppe steht. Manchmal versuche ich Männer mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Ich starre zurück, damit sie spüren, wie sich das anfühlt. Oder ich frage sie, was ihr Problem ist. Aber oft ignoriere ich die Blicke oder Geräusche, weil es mir am wenigsten Kraft raubt.

Zahlreiche Gesetze ermöglichen es heute, sich gegen manche Formen der Belästigung am Arbeitsplatz und im öffentlichen und digitalen Raum zu wehren. Doch Vorfälle werden kaum angezeigt – ein Verfahren ist zeitlich, emotional und finanziell belastend und ohne Zeug:innen oder Beweise zum Scheitern verurteilt. Am Arbeitsplatz kann ich mich gegen anzügliche Kommentare oder sexistische Witze rechtlich wehren. Im öffentlichen Raum muss man mir gegenüber erst handgreiflich werden, damit ich laut Strafgesetzbuch als sexuell belästigt gelte. In Frankreich oder Portugal ist "Catcalling", die verbale sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum, hingegen strafbar.

 Es fehlt an Sensibilisierung, und zwar schon im Jugendalter."

Was fehlt, ist ein breiter gesellschaftlicher Diskurs. Alle müssten sich beteiligen – vor allem auch Männer. Es fehlt an Sensibilisierung, und zwar schon im Jugendalter. Während die Mädchen in meiner Schulklasse Selbstverteidigungskurse besuchten, spielten die Buben Fußball. Kein Wunder, dass sie später schweigen, nicht zuhören oder Erfahrungsberichten keinen Glauben schenken, wenn sie sich nie mit der Lebensrealität von Frauen auseinandersetzen mussten. Doch wer denkt, er leistet seinen Beitrag, indem er jungen Frauen nicht hinterherpfeift, sich selbst nicht "zu den Bösen" zählt, denkt falsch. Nicht sexuell zu belästigen, ist das absolute Minimum.

Sagen Sie lieber Ihrem männlichen Arbeitskollegen, dass er Ihre Kollegin nicht so lüstern anstarren soll. Stellen Sie Ihren besten Freund zur Rede, wenn er einer Frau hinterherpfeift. Erklären Sie Ihrem Stammtisch, warum sexistische Witze nicht lustig sind. Konfrontieren Sie auch den Mann im Fitnessstudio, der unentwegt andere beim Sporttreiben angafft. Und bieten Sie Frauen Ihre Hilfe an, wenn diese gerade belästigt wurden. Wenn Sie mehr darauf achten, wird Ihnen auffallen, wie oft es zu solchen Situationen kommt. Sexuelle Belästigung gehört zur Lebensrealität vieler Frauen und ist eine Form von Gewalt. Sie hat ihre Wurzeln in ungleichen Machtverhältnissen, die bis heute anhalten. Jede einzelne Form von Sexismus trägt dazu dabei, dass Gewalt an Frauen strukturell verankert bleibt. Gerade in Österreich, dem Land der Femizide, sollte man sich dessen bewusst sein.

ANNA JANDRISEVITS (24)

Anna Jandrisevits ist Chefin vom Dienst bei "Die Chefredaktion", einem Onlinemedium auf Instagram von und für Jugendliche und junge Erwachsene. Zuvor war sie Redakteurin bei "Puls24" und "biber".

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