Nahost-Konflikt

Ursula Plassnik: „Man darf den Polarisierern nicht auf den Leim gehen“

Die Diplomatin und ehemalige ÖVP-Außenministerin Ursula Plassnik über die fünf brennendsten Fragen rund um den Nahostkonflikt.

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Die israelischen Streitkräfte sollen die Hamas auslöschen. Was kann danach kommen?

Selbst ewige Idealisten quält die Ausweglosigkeit der aktuellen Lage. Der brutale Terrorangriff der Hamas hat Israel in seinen Grundfesten erschüttert. Ein Staat setzt sich in einer asymmetrischen Auseinandersetzung gegen eine Terrororganisation zur Wehr. Ein anderer Teil der Tragödie ist: Niemand kann sich die Zukunft des Gazastreifens vorstellen, niemand hat einen einigermaßen realistischen Plan – während dort mehr als zwei Millionen Menschen nicht mehr wissen, wie sie von einem Tag zum anderen überleben sollen, über den Tunnelsystemen der Hamas-Terroristen, unter den israelischen Bomben. Ohne Aussicht auf eine lebbare Lösung, einen Platz, an dem sie in Sicherheit sind.

Gaza ist das größte Freiluftgefängnis der Erde. Niemand kann einfach raus. Jetzt sieht das die ganze Welt. Auch die Israelis sind – nicht zuletzt durch die brutalen Geiselnahmen – zum Hinsehen gezwungen. Kein Sicherheitszaun, keine Barriere schützt sie mehr davor, dem menschlichen Leid und politischen Elend ihrer palästinensischen Nachbarn direkt in die Augen zu sehen. Den anderen jenseits von Zaun und Mauer wieder als Menschen zuzulassen, würde auch bedeuten, seinen Schmerz und seine Hoffnung wahrzunehmen.
 

Gaza ist das größte Freiluftgefängnis der Erde. Niemand kann einfach raus. Jetzt sieht das die ganze Welt. Auch die Israelis sind – nicht zuletzt durch die brutalen Geiselnahmen – zum Hinsehen gezwungen.

Aus der Trauerarbeit wissen wir um die Phasen unterschiedlicher Gefühle nach dramatischen Verlusterlebnissen, noch dazu, wenn sie uralte Traumata wiedererwecken. Es ist fast nicht möglich, dem drängenden Verlangen nach Vergeltung und Strafe zu entkommen. Ich hätte gern die Hoffnung, dass wir der menschenverachtenden Vernichtungswut der Hamas-Attentäter nicht zugestehen, unser Denken und Handeln zu bestimmen. Ein Franzose, der im Bataclan-Terror Frau und Kind verlor, hat es auf den Punkt gebracht: „Vous n’aurez pas ma haine“ – meinen Hass bekommt ihr nicht. Auch die israelische Erfahrung weiß, dass nach Unrecht und Vernichtung wieder Menschlichkeit und Recht zukunftsbestimmend werden können.

„Recht, nicht Rache“, wäre vielleicht ein brauchbarer Ansatz. Es darf keine Rückkehr zu „Aug um Auge, Zahn um Zahn“ geben, nirgends auf der Welt, Vergeltung gebiert weitere Gewalt. Langfristig wird es ohne Sicherheit für die Palästinenser auch für Israel keine dauerhafte Sicherheit geben. Den Hamas-Terroristen darf es nicht gelingen, diese Gewissheit auch noch zu zerstören. Könnten die Ereignisse seit dem 7. Oktober die ungeheure Verletzlichkeit aller Menschen bewusst machen?

 

Werden Juden und Araber nach dem Hamas-Terror jemals wieder miteinander leben können?

Geschichte und Gegenwart des Nahen Ostens zeigen, dass Juden und Araber und Perser durchaus friedlich miteinander leben, arbeiten, studieren können, wenn sie nicht politisch oder durch Missbrauch ihrer jeweiligen Religionen gegeneinander aufgebracht werden. Fast ein Viertel der israelischen Gesellschaft sind ja Araber, sie haben jetzt schon Anteil am Erfolg Israels. Terror als Steigerungsstufe blinder Gewalt gibt es entsetzlicherweise in jeder Gesellschaft. Sogar die Israelis hatten Terroristen und Mörder in den eigenen Reihen. 1995 hat ein jüdischer Extremist auf offener Bühne Friedensnobelpreisträger Jitzchak Rabin erschossen, weil er so eine Lösung mit den Palästinensern verhindern wollte.

Sicherheit, Frieden, Grenzen, Territorium, Regierung sind durch Verhandlungen lösbar, weil sie politische Themen sind. Davon trennen sollte man Identität und Religion, die beide nicht verhandelbar sind.

Nach der schrecklichen Disruption durch die mörderischen Hamas-Attentate sollte man jetzt auch auf politischer Ebene in Israel und den arabischen Staaten offen ansprechen, dass Terrorismus und Extremismus letztendlich Sackgassen sind. Sie bringen keine Lösungen, nur Verzweiflung und Leid. Sicherheit, Frieden, Grenzen, Territorium, Regierung sind durch Verhandlungen lösbar, weil sie politische Themen sind. Davon trennen sollte man Identität und Religion, die beide nicht verhandelbar sind.

 

In der Solidarität mit der Ukraine war Europa geeint wie kaum zuvor, nicht jedoch bei Israel und Gaza. Was bedeutet das für seine Rolle in Krisen?

Die Europäer könnten die Wahrnehmung für die drängende Notwendigkeit dauerhafter kooperativer gemeinsamer Sicherheit für Israelis und Palästinenser gerade jetzt schärfen. Die EU-Länder sind übrigens weit weniger gespalten, als das oft vermittelt wird: Unverbrüchlich an der Seite Israels, konsequent gegen Terrorismus und Terroristen, die weltweit größten humanitären Unterstützer der palästinensischen Zivilbevölkerung, unermüdliche Vermittler und Wiederaufbauer. Diese einheitlichen Linien hat der Europäische Rat vom 26. und 27. Oktober sehr klar formuliert. Operatives sicherheitspolitisches Krisen-Management ist hingegen nicht die Kernkompetenz der EU, weder in Nahost, noch anderswo. Der Überfall Putins auf die Ukraine zwingt uns diesbezüglich einen Lernschub auf.


Warum distanzieren sich die arabischen Staaten, wenn überhaupt, nur sehr zögerlich vom Hamas-Terrorismus? 

In der arabischen Welt regiert eine überaus fragile Schein-Stabilität. Nach dem Scheitern des arabischen Frühlings und angesichts der eigenen gravierenden Versäumnisse wissen die autoritären Herrscher Bescheid über die Unzufriedenheit ihrer Bevölkerung. Sie fürchten „die Straße“, weil sie selbst bei Armutsbekämpfung, Demokratisierung und Wirtschaftsentwicklung jämmerlich versagt haben. Mit Teil-Ausnahmen in manchen Petro-Monarchien. Die 22 Länder der Arabischen Liga waren nicht in der Lage, den sogenannten Islamischen Staat (Daesh) aus eigener Kraft zu besiegen. Genauso wenig bringen sie die vom Iran unterstützen Bedrohungen Hisbollah und Hamas unter Kontrolle. Israel hingegen ist eine schier unglaubliche Erfolgsgeschichte, nicht nur regional, sondern weltweit. Was die Menschen in diesem Land in nur 75 Jahren geschaffen haben, ist einzigartig. Eine lebendige Demokratie, die Integration von Juden buchstäblich aus aller Herren Länder, die Bewässerung der Wüste, eine blühende Landwirtschaft, leistungsstarke Spitzenforschung, eine High Tech-Nation.

Die 22 Länder der Arabischen Liga waren nicht in der Lage, den sogenannten Islamischen Staat (Daesh) aus eigener Kraft zu besiegen. Genauso wenig bringen sie die vom Iran unterstützen Bedrohungen Hisbollah und Hamas unter Kontrolle. Israel hingegen ist eine schier unglaubliche Erfolgsgeschichte, nicht nur regional, sondern weltweit.

Gibt es einen Punkt, an dem Bewunderung nicht mehr Ansporn für eigene Bemühungen ist, sondern in Neid und Missgunst umschlägt? Umso dringender wäre es für Israel, seine Nachbarn einzubeziehen, um eine gemeinsame Erfolgsgeschichte zu entwickeln. Das erkennen auch die Nachbarn selbst an: Mit Ägypten und Jordanien gibt es Friedensverträge, und seit den Abrahams Accords wird Israel auch von den Vereinigten Emiraten, Marokko, Bahrain und dem Sudan anerkannt. Selbst Saudi-Arabien war dabei, über den eigenen Schatten zu springen. All das sollen die blutrünstigen Hamas-Terroristen auf immer zerstört haben? So viel Macht wollen ihnen Israel, aber auch die Arabischen Staaten einräumen? Warum nicht gemeinsam den Terrorismus bekämpfen und die Hamas militärisch ausschalten? Nur weil die arabischen Potentaten mutlos und übervorsichtig sind? Weil sie lieber zuschauen, wie die Palästinenser geschunden werden, als sie bei sich aufzunehmen und im eigenen Land ernsthafte Reformen anzugehen?

 

Der Nahostkonflikt bringt viele Staaten gegen den Westen auf. Erleben wir den Übergang in eine Welt ohne westliche Vorherrschaft?

Jede große Krise, etwa auch die Pandemie, zieht gleichsam den Schleier weg vor großen ungelösten Fragen. Im Weltdorf erleben wir das Entstehen einer Art Allianz gegen den Westen. Sie wird angeführt vom spätimperialistischen Russland, dem aufstrebenden Neo-Hegemon China und der repressiven Theokratie Iran. Eine recht heterogene Gruppe mit wenig innerem Zusammenhalt. Die Länder des Globalen Südens befinden sich in einem Selbstfindungsprozess mit vielen Widersprüchen, aber auch neu erwachtem Machtbewusstsein. Der Überfall Putins auf die Ukraine hat diese Neu-Formierung offengelegt. Wenn die internationale Staatengemeinschaft in Bezug auf die israelische Reaktion auf den Terrorangriff Verhältnismäßigkeit in der UNO einfordert, ist das kein Verrat an Israel, sondern Völkerrecht. Ein tiefverwurzelter Grundsatz jeder Rechtskultur. Wie es im nationalen Strafrecht den Begriff der Notwehr-Überschreitung gibt, so ist auch im internationalen Recht in der Selbstverteidigung nicht alles erlaubt. Auch da gibt es genau definierte humanitäre Schranken. Kein Wunder, dass da international nicht nur alte und neue Bruchlinien zu Tage treten, sondern auch die neue Vielfalt innerhalb der westlichen Gesellschaften. Frankreich hat, nur als Beispiel, europaweit mit fast einer halben Million Menschen die größte jüdische, aber auch muslimische Minderheit, mit geschätzt fünf Millionen Menschen. Da sind Spannungen in den Vorstädten quasi vorprogrammiert.

Die Länder des Globalen Südens befinden sich in einem Selbstfindungsprozess mit vielen Widersprüchen, aber auch neu erwachtem Machtbewusstsein. Der Überfall Putins auf die Ukraine hat diese Neu-Formierung offengelegt.

In der UNO sehen sich die Israelis seit Langem – übrigens nicht ganz zu Unrecht – unfair behandelt. Es gebe eine „automatische Mehrheit gegen Israel“, so ein Sprecher des Außenministeriums. Die 22 Staaten der Arabischen Liga haben viel Einfluss. Die Israel-freundliche Organisation „UN Watch“ hat 140 Resolutionen der UNO-Vollversammlung gezählt, die sich von 2015 bis 2022 direkt oder indirekt kritisch mit Israel auseinandersetzen. Allen anderen Ländern und Konflikten wurden in derselben Zeit gerade einmal 68 Resolutionen zuteil. So gesehen verwundert es nicht, wenn das Verhältnis Israels zur UNO, das traditionell angespannt ist, in Zeiten höchster emotionaler Belastung explosiv wird. Die Zukunft des Westens im Weltdorf wird von seiner Fähigkeit zur Selbstbehauptung mitbestimmt. Man darf den Polarisierern nicht auf den Leim gehen. Das gilt auch für Journalisten und Analytiker der Krise. Viele leisten momentan Unvorstellbares, etwa Tim Cupal, der ORF-Korrespondent in Israel. Die Wahl der Worte bewirkt Weichenstellungen nicht nur im Kopf, sondern auch in der Realität. Die alten Selbstverständlichkeiten sind dahin. Wer morgen mitmachen will beim Gestalten der Regeln, wird nicht nur die eigenen Interessen und Ansprüche im Blick haben dürfen, sondern auch die der übrigen Mitgestalter. Das europäische Lebensmodell bietet dafür eine solide Grundlage, gerade weil es das Ergebnis von jahrhundertelangen Kriegen und Konflikten ist.