Nahost-Konflikt

Ist es wieder so weit, dass jüdisches Leben versteckt werden muss?

Wer angesichts der jüngsten Untaten unparteiisch und neutral bleibt, ist ein stiller Teilhaber des Terrors, argumentiert der Schriftsteller Doron Rabinovici.

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Was geschah, lag jenseits des Vorstellbaren. Erst allmählich wird das Ausmaß der Untaten deutlich. Während ich diese Zeilen schreibe, steigen noch die Zahlen jener, die hingemetzelt wurden. Derzeit stehen wir bereits bei mehr als 1300 Opfern. Manche der Hinterbliebenen erzählen von Videos, die ihnen die Mörder ihrer Nächsten zusandten. Sie filmten die Bluttat mit den Handys der Opfer und verschickten sie an die Angehörigen. Ein Vater sagt unter Tränen, er sei erleichtert, jetzt vom Tod seiner Tochter erfahren zu haben, denn schlimmer noch, so bricht es aus ihm hervor, seien die Qualen derer, die den Schergen, ihrer Folter und ihren Vergewaltigungen in Gaza ausgeliefert sind.

Die dschihadistischen Mordbanden verbrannten Wehrlose – selbst Neugeborene – bei lebendigem Leib. Sie brachten Minderjährige vor den Augen ihrer Mütter und Eltern in Gegenwart ihrer Kinder um. Sie vernichteten ganze Familien und entvölkerten einzelne Kibbuzim. Bei all diesen Massakern vergaßen sie nie, ihre Schlachtrufe zu johlen und ihre Videos zu drehen.

Manche erinnert die Situation an den Krieg im Jahr 1973, aber das hier war eben kein rein militärischer Angriff, bei dem Soldaten der einen Armee jene der anderen überraschen. Auch ähnelten diese Massaker nicht, wie einige nun meinen, den monströsen Anschlägen von 9/11. Die Hamas ist eben nicht nur ein Netzwerk des Terrorismus, das von einer fernen Basis aus operiert. Sie wirkt nicht im Verborgenen. Sie ist zwar auch eine Terrororganisation, doch zugleich herrscht sie über ein eigenes Territorium, das unmittelbar neben dem Judenstaat liegt. Sie stellt dort eine Regierung mit verschiedenen Ministerien. Sie befehligt militärische Einheiten in Uniform.

Während die Hamas ihre Raketen auf jüdische Städte abfeuerte, stürmten ihre Mordbanden die Grenze. Sie griffen zu Land, aus der Luft und übers Wasser an. Es gelang ihnen, einzelne Siedlungen tagelang besetzt zu halten. Erst allmählich konnten die israelischen Streitkräfte das Gebiet rund um Gaza wieder vollkommen unter die eigene Kontrolle bringen. Immer noch wird nach eingedrungenen Terroristen gesucht. Unterdessen kam der Norden des Judenstaates vom Libanon aus unter Beschuss. Die Hisbollah dort ist mächtiger noch als die Hamas, ihr Herrschaftsgebiet ist größer, ihre Arsenale sind gewaltiger als jene der dschihadistischen Gesinnungsgenossen in Gaza.

Die Massenmorde an jenem Samstag, den 7. Oktober, waren nicht Teil eines legitimen Freiheitskampfes und waren auch kein unbedachter Exzess. Das Ziel war von Anfang an, so viele Wehrlose wie möglich abzuschlachten. Es ging darum, Kriegsverbrechen zu begehen. Diese Strategie wohnt der Ideologie der Hamas seit jeher inne. So ist es auch in ihrer Gründungscharta von 1988 festgelegt. Hier werden alle klassischen antisemitischen Mythen aufgerufen, die von den Juden als Unheil der Welt künden, das ausgelöscht werden muss. Im Artikel sieben dieses Papiers steht geschrieben: „Die Stunde des Gerichtes wird nicht kommen, bevor Muslime nicht die Juden bekämpfen und töten, so dass sich die Juden hinter Bäumen und Steinen verstecken, und jeder Baum und Stein wird sagen: ‚Oh Muslim, oh Diener Allahs, ein Jude ist hinter mir, komm und töte ihn!‘“ Das ist das Programm zur Vernichtung des Staates Israel, doch auch jeglicher jüdischen Existenz schlechthin.

Schon lange vor der Gründung Israels hetzten die islamistischen Führer gegen Juden. Die Hamas entstand indes erst in den 1980er-Jahren. Von Anfang an ging es ihr darum, jede Möglichkeit zur Verständigung und Einigung zwischen der palästinensischen und der israelischen Nation zu vereiteln. Den Beginn des Friedensprozesses von Oslo im Jahr 1993 unterminierte und durchkreuzte sie mit einer Welle fürchterlicher Selbstmordattentate.

Zwischen Hebron und Tel Aviv, zwischen dem israelischen Kernland und den besetzten Gebieten unterscheidet die Hamas seit jeher nicht. Die jüngsten Massaker richteten sich großteils gegen Kibbuzim, die den linken Parteien der Zivilgesellschaft zugerechnet werden können und die gegen die Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten sind. Jene jungen Menschen, die beim Trance-Festival niedergemetzelt wurden, feierten Liebe und Gewaltlosigkeit, aber eben deswegen sind sie Feindbilder der Dschihadisten. Umgebracht wurden an jenem Wochenende auch viele israelische Araber. Die Hamas unterdrückt ebenso die eigene Bevölkerung in Gaza. Sie verfolgt, foltert und ermordet ihre politischen Gegner. Ihr geht es nicht um Freiheit, sondern um die islamistische Theokratie in ganz Palästina.

Die Hoffnungen, die Organisation könnte allmählich gemäßigter werden, um den eigenen Herrschaftsbereich Gaza nicht immer wieder der Zerstörung preiszugeben, sind nun völlig zerschlagen. Sie ist jetzt radikaler denn je, und es ist, als sei sie mit dieser apokalyptischen Position zur derzeit bestimmenden Fraktion palästinensischer Politik aufgestiegen.

Es gilt, gegen den Hass auf Juden und auf Israel anzukämpfen.

Angesichts der jüngsten Untaten ist, wer unparteiisch und neutral bleibt, ein stiller Teilhaber des Terrors. Fraglos gibt es gute Gründe, die israelische Politik zu kritisieren. Hunderttausende Israelis gingen heuer zu Recht gegen die eigene Regierung auf die Straße. Aber es ist zynisch, wenn hierzulande nicht wenige die dschihadistischen Massaker kleinreden, indem sie auf die Militäraktionen der israelischen Armee verweisen. Nie schickte das israelische Militär seine Truppen los, um Massenmorde, Vergewaltigungen, Folterungen und die Schändung von Leichen zu zelebrieren. Oft warnt Israel die Bevölkerung in Gaza, ehe ein Haus bombardiert wird, um die Zahlen unschuldiger Opfer niedrig zu halten. Nicht die Zivilisten, sondern die Täter der Hamas sind das Ziel dieser Luftangriffe. Unabdingbar bleibt, Unschuldige, soweit irgend möglich, zu schonen, aber zynisch ist, wenn die israelischen Opferzahlen gegen die palästinensischen aufgerechnet werden – als ginge es hier um nichts als eine ausgewogene Bilanz.

Der Staat Israel wurde gegründet, damit nach Jahrhunderten der Verfolgung jüdische Gemeinden nicht mehr wehrlos Pogromen und Massakern ausgeliefert sind. Nach Auschwitz zweifelte kaum irgendwer, dass die Juden einen eigenen Staat bräuchten, um sicher leben zu können.

Der dschihadistische Terror will die Juden indes wieder zu Freiwild machen. Nicht nur in Israel. Die Hamas rief am vergangenen Freitag zum weltweiten „Tag des Zorns“ auf, was nichts als ein internationaler Freibrief zur Gewalt ist.

In Wien – aber auch in anderen europäischen Städten – ziehen ihre politischen Anhänger durch die Straßen. Sie feiern den Massenmord an den Juden. Sie grölen antisemitische Parolen.

In vielen westlichen Ländern erhöhen die Regierungen die Ausgaben für die Sicherheit jüdischer Institutionen. In Großbritannien wurde seit dem Überfall der Hamas ein Anstieg der antisemitischen Vorfälle um 400 Prozent verzeichnet. In Amsterdam blieben am Freitag die jüdischen Schulen geschlossen. Ist es wieder so weit, dass jüdisches Leben versteckt werden muss?

Nach dem islamistischen Terroranschlag auf die Redaktion des französischen Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ im Jänner 2015 ging zu Recht eine Welle der Solidarität durch die europäische Zivilgesellschaft. In jenem Augenblick der Trauer wurde nicht mehr darüber debattiert, ob Charlie Hebdo seine Karikaturen von Mohamed zu Recht veröffentlicht oder nicht. Angesichts der mehr als 1300 Opfer im Judenstaat bleiben jedoch allzu viele, die sich sonst zu Wort melden und an Gedenktagen erklären, nie wieder dürfe Antisemitismus geduldet werden, auffällig still. Dabei ginge es jetzt darum, Zivilcourage zu beweisen. Es gilt, gegen den Hass auf Juden und auf Israel anzukämpfen.