Bald ist es vorbei

US-Wahl 2012: Bald ist es vorbei

US-Wahl. Es war nicht alles gut. Wenn überhaupt

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Man wird ja wohl noch träumen dürfen. Schließlich hat dieses Land irgendwann sogar einen eigenen Traum nach sich benannt. Müsste also möglich sein. Man möchte zum Beispiel vom amerikanischen Wähler träumen. Davon, dass er sich sorgt um sein Land, das früher das großartigste, wichtigste und mächtigste Land der Welt war, heute aber in einer tiefen Krise steckt. Dass er überlegt, was das Beste für sein Land wäre. Dass er verschiedene Lösungsansätze gegeneinander abwägt, sich irgendwann für den besten entscheidet und wählen geht.

Dann wacht man auf. Aus dem Traum gerissen von amerikanischen Wählern, die mit einem über Politik sprechen oder das, was sie dafür halten. Von amerikanischen Fernsehsendungen, in denen es um Politik geht oder das, was im US-Fernsehen als Politik durchgeht. Vom jüngsten Twittergewitter. Von den E-Mails, die Barack Obama einem mittlerweile dreimal täglich schickt und die immer aufs Selbe hinauslaufen: fünf Dollar, bitte; gern auch mehr. Wovon auch immer: Man wacht auf. Und sieht, dass es zwar die Krise gibt, die Sorgen um das Land, das beschädigte Selbstbewusstsein, die miesen Wirtschaftsdaten und sogar ein, zwei Lösungsansätze. Auch die Wahl gibt es ganz zweifellos. Nur den amerikanischen Wähler, von dem man geträumt hat, den gibt es nicht.

Amerika, im Herbst 2012. Zweieinhalb Monate Wahlkampf. Zwei Milliarden US-Dollar Wahlkampfkosten. Zwei Wirbelstürme. Zwei Kandidaten. 538 Wahlmänner. Rund 240 Millionen Wahlberechtigte. Etwa 125 Millionen aktive Wähler. Und so viele Fragen: Wer sind sie? Was denken sie? Und wenn ja, warum?

Amerika, im Spätsommer. Über Florida zieht gerade der Tropensturm Isaac, in Tampa leidet Richard Clark aus Georgia. Clark wurde als Sohn eines Air-Force-Soldaten in Deutschland geboren und spricht noch ein paar Brocken Deutsch: „Hallo, wie geht es?“ Ja, wie geht es eigentlich? Clark ist als Delegierter zum republikanischen Parteitag in Tampa und ziemlich desillusioniert. „Ich bin nicht sicher, ob dieses Land noch eine Demokratie ist.“ Clark favorisiert den republikanischen Links-rechts-Abweichler Ron Paul, wurde aber von der Parteitagsregie recht rüde hinter die Kulissen geschoben. Interne Konflikte passen leider nicht zur Parteitags-Show. Clark darf nicht öffentlich sagen, was er denkt. Er sagt es trotzdem: „Irgendwer hat entschieden, dass es Romney werden muss, und das wird durchgezogen.“ Clark meint nicht die anderen Delegierten, er meint mysteriöse Fädenzieher in Washington, die sich mit Romney eine telegene Marionette gebastelt hätten. Clark ist näher dran am Innenleben der US-Parteipolitik als 99 Prozent aller Wahlberechtigten, aber er weiß auch nicht sehr viel mehr als sie. Er weiß nur: Etwas stimmt hier nicht. Das kann doch alles nicht wahr sein. Also wird es sich wohl um eine Verschwörung handeln.

Es gibt diese Geschichte in vielen verschiedenen Versionen, in allen politischen Lagern, an jeder Ecke: Irgendwer hat irgendwo irgendwas entschieden, von dem der Rest nicht weiß, was dahintersteckt. Die da oben machen, was sie wollen. Und sie machen es in betrügerischer Absicht. Eine andere Variante erzählt, zum Beispiel, Paul Bialczyk, der im Edsel & Eleanor Ford-Museum in Grosse Pointe Shores, Michigan, den Park betreut, aus einer polnischen Familie stammt und mit ernstem Blick durch dicke Brillengläser erläutert, wie geheime Mächte Barack Obama ins Weiße Haus bugsiert haben. „Ich weiß nicht genau wie, aber ich weiß mit Sicherheit: Er ist nicht gewählt worden.“ Außerdem weiß er: Obama ist kein Amerikaner und heckt einen islamistischen Umsturz aus. Ernster Blick: „Wir müssen etwas tun!“ Zum Beispiel Mitt Romney wählen. In Zeiten größter Unsicherheit macht sogar Starrsinn Sinn.

Natürlich könnte man das alles als Spinnerei abtun. Wenn es nicht so weit verbreitet wäre. Wenn es sich nicht um eine Grundstimmung handeln würde, die sich durch diesen Wahlkampf zieht. Nicht immer tritt sie in so radikaler Ausformung auf, aber immer hat sie denselben Effekt: Die Bürger der Vereinigten Staaten glauben nicht mehr an ihre Demokratie. „Bei euch in Europa kann man den Politikern noch vertrauen“, vermuten viele, mit denen man hier spricht. Man lässt sie lieber in dem Glauben, sie haben sonst nicht viel, wovon sie noch träumen könnten. Immerhin: Ein wenig Vorfreude wird zuletzt doch noch spürbar. Die Wähler freuen sich auf die Wahl, aber nicht um der Wahl willen, sondern weil am nächsten Tag zumindest die Fernsehwerbungen wieder nur von Schlaftabletten und Hundekuchen erzählen werden und nicht dauernd von den Lügen des einen Kandidaten und den Versprechen des anderen Kandidaten, die vom einen Kandidaten gleich im nächsten Spot zu Lügen erklärt werden. In den letzten Wahlkampftagen, gerade ist der Wintersturm Sandy über New York gezogen, machte ein YouTube-Video Karriere, das die vierjährige Abigael Evans zeigt, die mit ihrer Mutter Elizabeth zum Supermarkt fährt. Im Radio: eine Politiksendung. Plötzlich bricht das Kind in Tränen aus: „Ich mag nicht mehr. Ich hab genug von Bronco Bamma und Mitt Romney.“ Ihre Mutter kann sie beruhigen: „Bald ist es vorbei, Abby.“

Die Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika können es nicht immer benennen, aber immer fühlen: Irgendwas stimmt hier nicht. Irgendwas läuft hier ganz falsch.

Vor vier Jahren, Abigael Evans war damals noch zu jung zum Radiohören, versprach Bronco Bamma, dass sich Amerika ändern kann, dass Politik wieder mehr bedeuten wird als Wählerfang. Dass er dieses Versprechen nicht einlösen konnte, hat ihm politisch mehr geschadet als alle verlorenen Arbeitsplätze. Vier Jahre später präsentierte Mitt Romney seine eigene Version von „Change“, indem er sich bei der möglicherweise wahlentscheidenden ersten TV-Konfrontation mit dem Amtsinhaber live vor 65 Millionen Zuschauern völlig neu erfand, vom konservativen Hardliner zum mitfühlenden Randgruppenanwalt verwandelte. Sogar dem Präsidenten verschlug diese Chuzpe die Sprache. Den Zusehern verschlug es mehr: die letzte Sicherheit. Ist eine Wahl noch eine Wahl, wenn es nichts mehr gibt, was man wählen könnte, weil jede Zahl mit einem „not true“ beantwortet wird und jedes Zitat mit einem „never said“?

Die mit Abstand beliebteste Journalistensportart in diesem Wahlkampf war das „Fact-Checking“. Die Medien waren voll davon, das Internet sowieso, das Ergebnis verlässlich zweideutig. Für jede Zahl eine Gegenzahl, für jede Aussage mindestens zwei Bedeutungen. Die zweitbeliebteste Sportart hieß „Spinning“. Zum Standardrepertoire jeder Wahlkampfveranstaltung gehörte ein so genannter Spin-Room, in dem Kandidaten, Wahlkampfmanager und andere Meinungsmacher den Journalisten ihre frisch gesponnene Realität ausdeuten. Jedes gecheckte Faktum ist dabei nur Material für weitere Spinnereien. Ansonsten gilt die goldene Regel: Wer das Geld hat (zum Beispiel, um TV-Spots zu buchen oder überdimensionale Billboards, auf denen „Don’t believe the liberal media“ steht), macht die Realität. Für zwei Milliarden Dollar gibt es ziemlich viel Realität zu kaufen.

Das Datum, an dem der US-amerikanische Präsidentschaftswahlkampf ruiniert wurde, lässt sich übrigens sehr konkret angeben. Am 21. Jänner 2010 entschied der US Supreme Court im Fall Citizens United vs. Federal Election Commission zugunsten Ersterer: Das parteiunabhängige (aber dafür gut mit der National Rifle Association befreundete) Komitee unterstand, so die obersten Richter, dem von der Verfassung gewährleisteten Recht auf freie Meinungsbeeinflussung.

Interessenvertretungen dürften nicht daran ge­hindert werden, ihre Interessen auch durch Wahlkampf­spenden oder politische Werbespots zu vertreten. Präsident Obama erklärte damals: „Ich kann mir nichts vorstellen, was dem öffentlichen Interesse so sehr schaden würde (wie dieses Urteil).“ Das kann wohl niemand, der im Amerika des Wahlkampfs 2012 auch nur in die Nähe eines TV-Geräts gekommen ist – sofern dieses Gerät in einem der Swing-States stand. Alle anderen Staaten wurden als gegebene Rot- beziehungsweise Blau-Hochburgen angenommen und wahlkampfstrategisch weitgehend ignoriert – wer keine Wahlmänner einbringt, interessiert nicht. Demokratie für alle? Was soll das bringen? Demokratie ist ein Strategiespiel, das Motto: Wahlen nach Zahlen.

Bill Clinton
, der diesen Wahlkampf prägte wie kein zweiter lebender Ex-Präsident (George W. Bush verbessert angeblich derzeit sein Golf-Handicap und malt Hundeporträts), hat in seiner Antrittsrede als 42. US-Präsident im Jänner 1993 eine schöne und deshalb viel zitierte Idee formuliert: „Es läuft nichts falsch in Amerika, das nicht von dem, was richtig ist an Amerika, geheilt werden kann.“ Im Herbst 2012 fragt sich dasselbe Amerika: Was ist hier eigentlich noch richtig und falsch? Sigmund Freud hätte das wohl Traum-Verschiebung genannt.