Österreich

Verschwiegene Politik: Ändert die SPÖ ihren Migrationskurs?

Signale in alle Richtungen, Verschärfungen mittragen, über Probleme möglichst nicht reden: So schlängelt sich die SPÖ in Migrationsfragen seit Jahrzehnten durch. Nun will sie das ändern. Wirklich?

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Stundenlang haben sie hinter verschlossenen Türen in Klagenfurt getagt. Vergangenen Donnerstag stellten sie sich zu dritt den Medienvertretern: SPÖ-Parteichefin Pamela Rendi-Wagner, flankiert vom Wiener Bürgermeister Michael Ludwig und Peter Kaiser, Kärntner Landeshauptmann und so etwas wie der „Gastgeber“ der Klausur. An Gesprächsbedarf herrschte kein Mangel. Auf der Tagesordnung standen Teuerung, Inflation, Gaskrise, Energiewende, Bildung, gesundheitliche Versorgung – und Migration.
Mit dem Thema plagt sich die SPÖ seit Jahrzehnten. Die Spitzen der Partei holten den Migrationsexperten und Buchautor Gerald Knaus als Ezzesgeber in die Runde. Offenbar lieferte er tauglichen Stoff. „Es geht um Humanität auf der einen Seite und Kontrolle auf der anderen“, referierte Rendi-Wagner vor den versammelten Medienleuten. Und: Es brauche eine „europäische Lösung“ der neuen Art. Statt bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag darauf zu hoffen, dass alle 27 EU-Mitglieder an einem Strang ziehen, wolle man Allianzen schmieden und gemeinsam mit Gleichgesinnten – allen voran Deutschland – Herkunfts- und Transitländern wie Marokko oder Tunesien Kooperationsangebote unterbreiten. Sie sollten auch die „schnelle Rückführung“ abgewiesener Asylwerber beinhalten.

Vor mehr als 20 Jahren, als das jahrzehntelang rot regierte Innenministerium an die ÖVP fiel, setzte sich in den Köpfen der SPÖ-Parteistrategen die Überzeugung fest, dass mit dem Einschlagen migrationspolitischer Pflöcke für die SPÖ nichts mehr zu gewinnen ist. Tenor: Ringt man der Einwanderung gute Seiten ab, treibt man der FPÖ Wähler in die Arme. Verteufelt man sie, vergrämt man liberale Milieus. Eine Begebenheit am Rande der SPÖ-Zusammenkunft in Klagenfurt fügt sich trefflich ins Bild: Kaum war der Tagungsort öffentlich geworden, geiferte die FPÖ via Presseaussendung, die Roten tagten „inmitten der Teuerungswelle“ in einem „mondänen Wellnesshotel“. Verzagt fragte sich ein Funktionär, der die Meldung auf seinem Handy las: „Wie soll man da jemals vernünftig reden?“ 

Seit Jahrzehnten schlingert die SPÖ in Einwanderungsfragen hin und her. Liberale Vorstöße – so wie vor wenigen Monaten, als sich der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig für erleichterte Einbürgerungen starkmachte – verpuffen rasch. Am Ende trug die Partei noch alle Verschärfungen brav mit. Dass bei der SPÖ-Klausur der Law-and-Border-Fan in Gestalt des burgenländischen Landeshauptmanns Hans Peter Doskozil fehlte, wurde weithin bemerkt. Auch das ist symptomatisch für eine Partei, die migrationspolitisch schwer einen gemeinsamen Nenner findet. 

Man kann die Spannungen an zwei Personen festmachen. Auf der einen Seite steht der Traiskirchner Bürgermeister Andreas Babler, der gerne „Haltung“ und – auch grenzüberschreitende – Solidarität mit Geflüchteten von den Genossen einfordert. Vis-à-vis: Doskozil, unermüdlicher Mahner vor illegaler Migration und kleingeredeten Integrationsproblemen. So ärgern sich die Parteifreunde wechselseitig, und alle gemeinsam mokieren sich über „die Medien“, die nichts anderes zu tun hätten, als Bruchlinien zu erfinden, wo keine seien. 

Mit der scharfen Rhetorik hielten die Maßnahmen nicht Schritt.

Politikwissenschafterin 

Sieglinde Rosenberger

Dabei lassen sie sich durchaus erklären. Die Sozialdemokratie hatte für Menschen, die vor Verfolgung flüchten, stets ein offenes Herz, während sie sich mit Arbeitsmigranten immer schon plagte, sagt Politikwissenschafterin Sieglinde Rosenberger: „Die Gewerkschaften fürchten Lohndumping angesichts von billigen, unqualifizierten Arbeitskräften.“ Manfred Matzka, Sekretär von SPÖ-Innenminister Franz Löschnak, setzte in den 1990er-Jahren die bis heute nachwirkende Idee in die Welt, dass Armutsmigration den Wohlfahrtsstaat bedroht und daher zu unterbinden ist. Damit weist er sich für den Migrationsforscher Bernhard Perchinig rückblickend als „Architekt einer restriktiven Migrationspolitik“ aus.

Phasen, in denen die Sozialdemokratie versuchte, Migranten das Leben zu erleichtern, gab es. Aber sie währten nur kurz. Mitte der 1990er-Jahre etwa kämpfte der rote Innenminister Caspar Einem erfolgreich für eine Aufenthaltsverfestigung nach fünf Jahren. Die später umgedeutete Parole „Integration vor Neuzuzug“ stammt von ihm und zielte ursprünglich darauf ab, dass Menschen, die dauerhaft im Land leben, auch am Bildungssystem und  Arbeitsmarkt teilhaben sollten. Als in den 1990er-Jahren die Fluchtmigration erstarkte, mit der die Sozialdemokratie weniger haderte, tauchte am Horizont ein politisch-strategisches Problem auf: Je höher die Asylanträge steigen, desto stärker wurden die Freiheitlichen. 

Die FPÖ fuhr einen unverhohlenen Anti-Migrationskurs. Die Grünen waren offen für Einwanderung. Die SPÖ pendelte fortan irgendwo dazwischen. „Die Regierungsparteien forcierten Verschärfungen aus populistischen Motiven. Höchstgerichte hoben viele der Bestimmungen auf und korrigierten so den politischen Kurs“, berichtet Migrationsforscher Perchinig. Die Asylgesetznovelle 2005 etwa hob der Verfassungsgerichtshof weitgehend auf. Mit der ersten schwarz-blauen Regierung unter Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel im Jahr 2000 waren die Migrationsagenden der ÖVP zugefallen. Dabei blieb es heute, sieht man vom kurzen Interregnum Herbert Kickls (FPÖ) als Innenminister ab. 

„Herausforderungen kann man nicht mit Angst und nur gemeinsam begegnen.“

Bürgermeister Michael Ludwig, SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner, Landeshauptmann Peter Kaiser (von links nach rechts)

Der Diskurs verengte sich auf sicherheitspolitische Fragen. Der FPÖ konnten die Hürden für die Einbürgerung und die Grenzzäune nie hoch genug sein. Bald verloren sich auch in den traditionellen, staatstragenden Parteien SPÖ und ÖVP „die letzten migrationsfreundlichen Reste“ (Perchinig). „Allerdings“, so Rosenberger, „hielten die Maßnahmen mit der scharfen Rhetorik nicht Schritt“. Der Grund: 75 Prozent der Migration sind national nicht steuerbar. Zum einen stammt mehr als die Hälfte der Zuwanderer aus EU-Ländern. Für sie gilt die Personenfreizügigkeit. Der Familiennachzug wiederum basiert im Wesentlichen auf dem EU-Migrationsaquis.

Paradoxerweise gehen die stetigen Verschärfungen mit der Ausweitung der zuvor auf Landwirtschaft und Tourismus beschränkten Saisonbeschäftigung einher.

Wirtschaftsforscher warnten, die Saisonniers könnten länger beschäftigte Ausländer aus dem Arbeitsmarkt drängen. Nur die Industriellenvereinigung trommelte für Einwanderung, andernfalls drohe der Nachschub an Arbeitskräften zu versiegen. Beim gewerkschaftlichen Flügel der SPÖ, dem das Matzka-Credo bis heute in den Knochen steckt, ließen die Rufe nach mehr Personal aus dem Ausland die Alarmglocken schrillen.

Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit sind Phrasen und keine Orientierungspunkte mehr.

Volkshilfe-Migrationsexperte

Christian Schörkhuber

Aus diesem Dilemma findet die SPÖ schwer heraus. Einen Niedriglohnsektor will man nicht fördern. Wohlfahrtsstaaten aber funktionieren über Wachstum. Woher soll das in einer alternden Gesellschaft kommen? Über einen späteren Pensionsantritt, steigende Frauenerwerbsquote, höhere Produktivität? Anno 2023 ist die Parteienlandschaft in Migrationsfragen – historisch einmalig – nahezu einhellig. Im türkis-blauen Koalitionspakt unter Kanzler Sebastian Kurz war Migration in den Block „Ordnung und Sicherheit“ gerückt. Hier steckt das Thema seither fest. Kurz, der als ÖVP-Integrationsstaatssekretär für Versachlichung der Integrationsdebatte gesorgt hatte, schwenkte als Außenminister auf geschlossene Migrationsrouten ein. „Heute kommen alternative Stimmen fast nur mehr aus der Zivilgesellschaft“, konstatiert Rosenberger. 

In Dänemark rückten die regierenden Sozialdemokra-ten bei Einwanderungsfragen merklich nach rechts. Davon lässt sich nicht nur der Landeshauptmann Doskozil beeindrucken, sondern auch die ÖVP. Vergangenen Herbst lobte Innenminister Gerhard Karner den Vorschlag der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen, Asylverfahren nach Ruanda auszulagern. Die spärlichen Signale einer offeneren Einwanderungspolitik kommen derzeit aus Portugal und vor allem Spanien, in dessen Agrarindustrie-Sektor Migranten aus Lateinamerika als Schwarzarbeiter rasch unterkommen. 

Sind andere als restriktive Modelle für die SPÖ denkbar? Die – allen voran von Doskozil – hochgehaltene Wohlstandsfestung hat den Makel, dass sie in einer offenen Volkswirtschaft mit enormen Kosten einhergeht. Dichte Grenzen halten auch jene fern, die als Arbeitskräfte händeringend gesucht werden. Auch die feindselige Debatte erweist sich im globalen „War of Talent“ als Nachteil. Das belegen Studien. 

Österreich hatte im Zuge der Flüchtlingswanderung vor sieben Jahren, gemessen an der Bevölkerung, so viele Menschen aufgenommen wie kaum kein zweites Land in Europa, verstand es aber nicht, daraus einen Reputationsgewinn zu schlagen. Im Gegenteil. Aus sämtlichen Parteizentralen tönt es, 2015 dürfe sich „nie mehr wiederholen“. Roland Fürst, Landesparteigeschäftsführer der SPÖ Burgenland, plädiert zwar für einen „Neustart bei Asyl und Migration“, setzt aber nach: „Wir haben 450.000 Beschäftigte, die Vollzeit keine 2000 Euro verdienen. Immer mehr Leute zu importieren für die Drecksarbeit, dafür bin ich als linker Sozialdemokrat nicht zu haben.“ Franz Schnabl, Spitzenkandidat der SPÖ in Niederösterreich, ist für „gezielte, geordnete Arbeitsmigration“, aber auch für Asylverfahrenszentren innerhalb und außerhalb der EU. 

Landeshauptmann Kaiser, von 2013 bis 2018 Flüchtlingsreferent in Kärnten, sagt: „Man kann Herausforderungen nicht mit Angst und nur gemeinsam begegnen.“ Und: „Österreich hatte im Vorjahr 100.000 Asylanträge, Ungarn nur 50. Das ist keine Basis für eine strategische Partnerschaft.“ Man solle sich besser mit Deutschland und der Schweiz verbünden. Das klingt nach einem neuen Wording. 

Allzu viel erwarten sich Beobachter nicht. Bei Migration gehe es, so Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin an der Wirtschaftsuniversität Wien, immer auch um die Lohndifferenz zwischen globalem Norden und Süden. Die Arbeiter von heute, die in der Pandemie gepriesenen Systemerhalter und die prekär Beschäftigten der neuen „Service Class“ sind zu einem erheblichen Teil eingewandert. „Eine Sozialdemokratie, die sich an ihren Prinzipien orientiert, sollte sie in den Blick nehmen, statt Debatten immer nur hinterherzuhecheln.“ Es gelte, Lohndumping zu  verhindern und Arbeitsrechte der in- und ausländischen Beschäftigten gleichermaßen zu wahren. Christian Schörkhuber, Leiter der Flüchtlingshilfe der Volkshilfe Oberösterreich, vermisst in der SPÖ das Fundament: „Die Partei hat sich zusehends entideologisiert. Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit sind Phrasen und längst keine Orientierungspunkte mehr.“ 

Für die akademische Welt sind Flucht- und Arbeitsmigration kaum mehr auseinanderzuhalten. In der politischen Debatte gilt ihre Vermischung als Sakrileg. Echte Flüchtlinge sind ehrbar, Arbeitsmigranten, die sich als Asylwerber tarnen, pfui. Und das, obwohl es für unqualifizierte Arbeitskräfte keine legalen Wege nach Europa gibt und quer durch westliche, hochindustrialisierte Gesellschaften – mehr oder weniger verschämt – Anwerbeabkommen ersonnen werden, um den Mangel an Pflegekräften und Tourismuspersonal zu lindern. Bis zu 30.000 Arbeitskräfte müssen jährlich dazukommen, errechneten Ökonomen. Andernfalls drohen Wohlstandsverluste. 

Im Klagenfurter Seminarhotel erscheint Migrationsforscher Gerald Knaus mit einem Stapel Unterlagen zum profil-Gespräch. Oben auf liegt sein eben im Brandstätter Verlag erschienenes Buch. „Wir und die Flüchtlinge“ heißt es. Tags 
zuvor hatte er dem SPÖ-Parteipräsidium vorgetragen, dass 27 EU-Staaten zu illegalen Pushbacks an den europäischen Außengrenzen schweigen, obwohl keine der staatstragenden Parteien mit der systematischen Rechtsverletzung einverstanden ist. „Ihnen fällt gegen illegale Migration bloß nichts anderes ein, deshalb wird sie in Kauf genommen“, sagt Knaus. Er habe der roten Parteispitze ins Gewissen geredet, wie er das auch bei deutschen Christdemokraten mache, dass die Migrationsagenda von illiberalen Rechtspopulisten wie Viktor Orbán gesetzt wird, wenn es demokratischen Parteien nicht gelingt, Grenzschutz mit dem Geist der Flüchtlingskonvention in Einklang zu bringen. 

Die deutsche Ampelregierung habe die Zeichen der Zeit erkannt. Migranten in Ausbildung erhalten eine Aufenthaltsduldung, die Einbürgerung soll noch leichter werden, ein Facharbeiter-Einwanderungsgesetz ungelernten Arbeitskräften den Weg ins Land ebnen. Schörkuber, Migrationsexperte der Volkshilfe, registriert die Vorhaben mit Wohlwollen: „Österreich hinkt im Bereich Asyl und Migration immer um fünf bis zehn Jahre hinterher.“ Vielleicht brauchen die Genossen in Österreich auch dieses Mal einfach ein bisschen länger.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

war von 1998 bis 2024 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges.