Stalingrad

Schlacht um Stalingrad: Die Gnade der späten Heimkehr

Vor 80 Jahren gingen 110.000 Wehrmachtssoldaten in Stalingrad in Kriegsgefangenschaft. Nur 6000 kehrten zurück, darunter 1200 Österreicher. Ihr Schicksal beschäftigt ihre Familien bis heute.

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Am 31. Jänner 1943, drei Tage vor seinem 30. Geburtstag, geriet der Militärarzt und Unteroffizier Wilhelm Hatzl in Stalingrad-Mitte in russische Kriegsgefangenschaft. Im Oktober 1950 kehrte er in seine Heimatstadt Wien zurück. In seinen Erinnerungen findet sich ein seltsam anmutender Satz: "Die Leute, die in Gefangenschaft ständig nur an zu Hause gedacht haben, die sind eigentlich sehr leicht zugrunde gegangen, krankheitsanfällig gewesen."Hatzl starb im Jahr 2006. Seine Urenkelin geht in die Maturaklasse des Gymnasiums in Volders bei Innsbruck. Für ihre vorwissenschaftliche Arbeit recherchiert sie die Kriegsgefangenschaft ihres Urgroßvaters. Als Quelle dienen Tonbänder, die nach dessen Tod in einem Schrank gefunden wurden.

Die Aufnahmen entstanden im Verlauf des Forschungsprojekts "Österreichische Heimkehrer aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft erzählen" des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung in Graz. 1995 gab Wilhelm Hatzl, Obermedizinalrat, Facharzt für Chirurgie in Wien, den Wissenschaftern ein langes Interview. Das Transkript findet sich im Boltzmann Institut. profil konnte Einsicht nehmen.

Institutsleiterin Barbara Stelzl-Marx, Professorin für europäische Zeitgeschichte an der Universität Graz, meint: "Stalingrad wurde im kollektiven Gedächtnis Österreichs über die Generationen hinweg tradiert, weil viele Familien Angehörige dort verloren haben."

110.000 Wehrmachtsoldaten der 6. Armee gingen vor 80 Jahren in Stalingrad in Kriegsgefangenschaft. In der fünfmonatigen Schlacht um die Stadt an der unteren Wolga-sie liegt etwa 1000 Kilometer südlich von Moskau-starben 150.000 deutsche und 500.000 sowjetische Soldaten. Unter den Wehrmachtsangehörigen befanden sich viele Österreicher, da zur 6. Armee Verbände zählten, die in Österreich aufgestellt worden waren, wie die 100. Jäger-Division, die 297. Infanterie-Division und die 40. Infanteriedivision. Am 2. Februar 1943 kapitulierte die seit dem 22. November eingekesselte Armee unter dem Kommando von General Friedrich Paulus.

Stalingrad wurde im kollektiven Gedächtnis Österreichs über die Generationen hinweg tradiert.

Barbara Stelzl-Marx, Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung

Nur 6000 Wehrmachtssoldaten sollten aus Stalingrad in ihre Heimat zurückkehren, unter ihnen 1200 Österreicher. Die meisten von ihnen stammten aus Wien und Niederösterreich.

Das Schicksal der 6. Armee wurde vom NS-Regime zu Propagandazwecken missbraucht. Nach Kriegsende wurde der Helden-und Opfermythos weitergepflegt.

Die Erinnerungen von Wilhelm Hatzl handeln weniger von Heldenmut als vom nackten Überleben.

Am Anfang kannte Hatzl keine Zweifel. Wie in seinen Erinnerungen zu lesen ist, war seine Einstellung zum Krieg "absolut positiv". Und auch zum Regime: Der junge Arzt war bei NSDAP und SA. 1942 wurde er eingezogen, im August verließ er Wien in Richtung Ostfront. Sein kleiner Sohn war gerade ein Jahr alt geworden, seine Frau schwanger.

Überleben dank Glaube und Zufällen

Als die 6. Armee eingekesselt wurde, arbeitete er als Chirurg in einem Feldlazarett. Die Verwundeten, die er operierte, kamen direkt aus den Schützengräben, verlaust, mit schwarzen Gesichtern. Zum Essen gab es nur Röstbrot, hin und wieder Leberkäse von geschlachteten Pferden.

Nach der Gefangennahme in Stalingrad marschierte Hatzl mit 40 Kameraden mehrere Tage lang im Schneesturm zum Sammellager Beketowka. Nur ein Dutzend der Männer kam dort an, der Rest war unterwegs erschossen worden, an Erschöpfung gestorben oder erfroren.

Die ersten Tage verbrachte Hatzl in Baracken, in denen 30 Mann auf Fußböden schliefen, teils mit eingefrorenen Füßen. Die Gefangenen litten an Typhus, Skorbut, Tuberkulose. Laut Historikern starben in Beketowka bereits in den ersten drei Monaten 24.000 Wehrmachtssoldaten. Die medizinische Versorgung war katastrophal. Hatzl selbst arbeitete als Arzt, operierte - wie kurz zuvor noch in der Schlacht.

Laut seiner Schilderung verbesserte sich nach einigen Wochen die Lage. Es gab Suppe und Salzheringe. Schon bald wurde er in ein anderes Lager in der Nähe von Nischni Nowgorod verlegt. Hatzl erkrankte an Bauchtyphus, kam ins Lazarett: Betten, weiße Bezüge, elektrisches Licht. Er wähnte sich im Himmel. Nach seiner Genesung arbeitete er als Chirurg. Unter seinen Patienten waren Wehrmachtssoldaten aus dem Arbeitslager, die an Dystrophie litten und Bluttransfusionen erhielten.

In der Folge wurde er mehrfach verlegt. In einem Lager entwickelte sich zwischen den deutschen und den russischen Ärzten sogar Freundschaften. Die deutsche Lagerkapelle spielte für russische Offiziere. Als einer von wenigen Gefangenen sprach Hatzl Russisch. Er hatte es sich mit einem von Wärtern geliehenen Wörterbuch selbst beigebracht. Aus Zigarettenpapier und Uniformstoffen bastelte er zwei kleine Bücher, in die er Vokabel notierte.

In einem Lager in Usta erlebte Hatzl das Kriegsende im Mai 1945. Ab dem Jahr 1946 war es Kriegsgefangenen in der Sowjetunion erlaubt, Postkarten in die Heimat zu schicken. Für viele Familien war es das erste Lebenszeichen der Vermissten. Monatlich schrieb Hatzl nun an seine Frau, sie schrieb zurück. "Damals ging's uns schon gut",ist in den Aufzeichnungen zu lesen. Die Ärzte durften das Lager sogar unbeaufsichtigt verlassen. Doch im nächsten herrschte wieder Hungersnot.

Informationen aus der Heimat gab es keine. Ein Techniker, der im Krieg Apparaturen zur Ortung von U-Booten hergestellt hatte, baute heimlich ein Radio. Auch deutsche Sender konnten empfangen werden. So erfuhren die Gefangenen davon, dass im fernen Nürnberg ein Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des Dritten Reichs begonnen hatte.

Hatzl schildert, dass er und seine Landsleute etwa ein Jahr nach Kriegsende sich wieder als Österreicher zu fühlen begannen. Auch die Russen hätten die Österreicher von den Deutschen unterschieden. Im Herbst 1948 wurde Hatzl schließlich in ein Arbeitslager in Moschaisk, 100 Kilometer von Moskau, transportiert. 1949 kam es zu einer Welle von Prozessen, viele Kriegsgefangene wurden zu 25 Jahre Zwangsarbeit verurteilt und abtransportiert-und kehrten nie wieder zurück.

In Verhören durch Offiziere des sowjetischen Innenministeriums NKWD geriet Hatzl unter Verdacht, bei der SS gewesen zu sein. Sein Glück: Aus Wien ging beim NKWD ein Akt ein, der ihn entlastete. In einem der letzten Lager, in dem er interniert war, gab es eine der Antifa-Schulen, in denen die Kriegsgefangenen zum Sozialismus umerzogen werden sollten.

Im Oktober 1950, nach fast acht Jahren Kriegsgefangenschaft, wurde Wilhelm Hatzl schließlich freigelassen. Der Zug voller ehemaliger Kriegsgefangener fuhr über Kiew nach Wiener Neustadt. Dort sah er seine Frau wieder. Im Bahnhof in Wien warteten sein Sohn und seine Tochter, die er noch nie gesehen hatte.

Daheim arbeitete Hatzl wieder als Chirurg im Krankenhaus Lainz. Sein Enkel Andreas Wein, Musiker in Innsbruck, sagt, der Großvater habe nie viel über seine Gefangenschaft erzählt. Aufgrund seiner Russisch-Kenntnisse half Hatzl später bei der Emigration russischer Juden über Wien nach Israel und organisierte die medizinische Erstversorgung. Der russische Botschafter war öfter zu Gast in der Wohnung der Hatzls in der Wiener Favoritenstraße.

Krieg und Gefangenschaft blieben ein Teil seines Lebens. Andreas Wein erinnert sich, wie er seinen Großvater zur Stalingrad-Kapelle in Aigen in Ennstal begleitete, die von Heimkehrern errichtet worden war. Als 1997 auf Initiative des Wiener Bürgermeisters Helmut Zilk nahe Stalingrad ein Denkmal für alle Gefallenen errichtet wurde, war Hatzl bei der Eröffnung dabei.

Mehrfach besuchte er Russland. Die Amerikaner mochte er weniger. Er machte sie-ohne Angabe von Gründen-dafür verantwortlich, nicht schon früher freigekommen zu sein.

Als er sich am 17. August 1942 von seiner Frau am Wiener Nordwestbahnhof verabschiedete, versprach er ihr, zurückzukommen. Nach einigen Jahren in Gefangenschaft, "dem furchtbaren Elend", das er sah, habe er sich darauf eingestellt, "ein Leben in Russland weiterzuführen". Gerade das habe ihm über die lange Zeit hinweggeholfen.

Sein Großvater sei ein unerschütterlicher Charakter gewesen, der die Dinge nahm, wie sie waren, sagt Andreas Wein.

Sabine Nachbaurs Großvater, Walter B., hat Stalingrad ebenfalls überlebt. Er war Spritfahrer und Ladekanonier in der Sturmgeschütz-Abteilung 177. Ihr Großvater war ein gläubiger Mensch, sagt sie, er habe den festen Glauben und Willen gehabt, wieder nach Hause zu kommen.

Sabine Nachbaur ist Historikerin, Spezialfach Zeitgeschichte. Das Leben ihres Großvaters interessiert sie zweifach, privat und wissenschaftlich. Dass er Stalingrad überlebte, sei auch eine Abfolge von Zufällen gewesen, Momente, in denen er einfach Glück hatte. Ein Bild aus dem Krieg zeigt seinen durchschossenen Wehrmachtshelm, die Kugel hatte seinen Kopf nur gestreift. Als er nicht mehr konnte, bewahrte ihn ein Aufenthalt auf der Krankenstation vor dem sicheren Tod bei Arbeitseinsätzen, ein anderes Mal war es ein Kamerad, der ihm Wasser brachte und damit das Leben rettete.

Ihr Großvater habe unter gesundheitlichen Folgeschäden aus seiner Gefangenschaft gelitten und sei überzeugt gewesen, nicht alt zu werden. Im Lager litt er, wie fast alle, an Unterernährung. Er starb 2010 mit 89 Jahren.

"Er wollte das Thema sachlich verarbeiten"

Krieg und Gefangenschaft waren immer ein Thema, auch mit den Enkeln; die schlimmen Erlebnisse ersparte er ihnen - vielleicht auch sich selbst. Aus Erzählungen weiß Sabine Nachbaur, dass ihr Großvater in den Nächten nach seiner Rückkehr vor Angst geschrien habe. Vor seinem Tod, als er bereits krank gewesen sei, habe ihn eine große Unruhe erfasst. Die alten Bilder kamen wieder hoch.

Walter B. stammte aus Bregenz. Nach dem Ende der Gefangenschaft im Juni 1947 war ein sofortiger Eintritt in den Textilhandel der Familie aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich. Erst nachdem er sich etwas erholt hatte, stieg er in das Geschäft seines Vaters ein und wurde Textilkaufmann. Ein Jahr nach der Rückkehr heiratete er und wurde bald darauf Vater. Ein neues, normales Leben begann.

Ihr Großvater war ein geselliger, kommunikativer Mann, erzählt Nachbaur. Er pflegte sein Leben lang engen Kontakt mit Freunden aus der Kriegsgefangenschaft.

Als Heimkehrer verfolgte er alle historischen Beiträge in Radio und TV, trat selbst als Zeitzeuge im Fernsehen auf. Dazu verfasste er Leserbriefe. "Er wollte das Thema sachlich verarbeiten", sagt seine Enkelin. Seine Gefühle, wie es ihm dabei ging, drückte er nicht aus. Er sammelte Zeitungsartikel und besaß wissenschaftliche Werke, aber auch Romane über Stalingrad.

Die EU war für ihn vor allem ein großes Friedensprojekt. Politisch zählte er sich zum dritten Lager. Denkmale für NS-Deserteure sah er skeptisch, ebenso die Ausstellungen zu Verbrechen der Wehrmacht.

Sabine Nachbaur diskutierte viel mit ihm: "Er konnte diese Perspektiven auf die Geschichte nicht nachvollziehen und hatte den Eindruck, dass die Würdigung von Deserteuren und die Aufarbeitung von Wehrmachtsverbrechen die unvorstellbaren Leiden der österreichischen und deutschen Kriegsgefangenen in den Hintergrund rücken ließen."

Walter B. war wie Wilhelm Hatzl zunächst im Lager Beketowka. Wasser kam aus Tümpeln oder vom Schnee vor der Baracke, es gab keine Heizung, bei bis zu 30 Grad minus. Im Lauf der Jahre wurde er mehrmals verlegt, einmal in ein Lager in Sibirien.

Auch B. sprach ausführlich mit Wissenschaftern des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung. Er beschrieb, wie zu Beginn der Gefangenschaft einige Soldaten voller Verzweiflung Fleisch aus den Leichnamen gefallener Kameraden schnitten und roh aßen. Wen die Wächter dabei erwischten, der wurde erschossen. "Bomben und Granaten können einen wahnsinnig machen, aber Hunger, der macht den Menschen wahnsinnig, ohne dass er es selbst merkt." Für eine Schüssel Suppe würden "die besten Kameraden zum Verräter". Durst sei noch schlimmer, denn an Hunger könne man sich gewöhnen. Die Arbeitseinsätze in einem Steinbruch seien hart gewesen. Im November 1943 wog der 22-Jährige bei einer Körpergröße von 1,83 Meter 41 Kilogramm.

Die späte Heimkehr aus dem Krieg war eine Gnade. Sabine Nachbaur: "Unsere gesamte Familie verdankt ihre Existenz der Rückkehr meines Großvaters als einer von wenigen aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Seine Erlebnisse prägen uns alle, bewusst oder unbewusst. Niemand weiß, was für ein Mensch mein Großvater ohne Krieg gewesen wäre. "Er habe eine zentrale Rolle im Leben seiner Kinder und Enkelkinder gespielt.

Das Interesse an Stalingrad und am Schicksal der Kriegsgefangenen sei ungebrochen, sagt die Leiterin des Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, Barbara Stelzl-Marx: "Vor fünf Jahren, zum 75. Jahrestag der Schlacht, erhielten wir mehr als 500 Anfragen zum Schicksal von Kriegsgefangenen und Vermissten."

Mittlerweile kommen die Fragen von den Urenkeln.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.