Djeina, 15: "Wenn Ausländer nichts auf die Reihe kriegen, warum gibt es dann so viele Geschäfte von Türken und Chinesen?"

Wahlrecht: Die Ausgesperrten

1,2 Millionen Menschen, die in Österreich leben, haben kein Wahlrecht. Was bedeutet das für sie? Und was bedeutet es für die Zukunft der Demokratie?

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Khuseyn Iskhanov, 63, war Politiker und saß bis zum zweiten russisch-tschetschenischen Krieg im Parlament in Grosny. Vor 15 Jahren floh er mit seiner Frau und sechs Kindern nach Österreich. Dass er in seiner neuen Heimat immer noch nicht wählen darf, setzt ihm zu. „Ohne politische Stimme fühle ich mich obdachlos“, sagt er.

Michael Carli, 54, kam in Innsbruck zur Welt, handelt mit sardischen Lebensmitteln und ist Landessprecher der Grünen Wirschaft Tirol. Seine Mutter und seine Schwester besitzen die italienische und die österreichische Staatsbürgerschaft. Er hingegen hat – dank einer legistischen Volte der Geschichte – einen einzigen, nämlich italienischen, Pass. Wählt Österreich ein Parlament, hat er kein Stimmrecht.

Nobert Scheele, 56, ist für das Österreich-Geschäft des Textilkonzerns C&A verantwortlich und lebt – mit Unterbrechungen – seit nunmehr 30 Jahren hier. Seine Kinder kamen in Wien zur Welt, erbten von ihren Eltern aber deutsche Pässe. Wenn Scheele wieder einmal eine Weile in der Schweiz arbeitet oder eines seiner Kinder ein Auslandssemester einlegt, fängt eine zehnjährige Wartefrist für die Einbürgerung von vorn an zu laufen. Bis seine Kinder in ihrem Geburtsland erstmals wählen dürfen, werden sie Mitte 30 sein. Scheele sieht das nicht ein: „Man will, dass die Jungen mobil sind, und bestraft sie dafür.“

Skala der politischen Exklusion

Ishkanov, Carli und Scheele markieren unterschiedliche Positionen auf einer Skala der politischen Exklusion. Österreichweit dürfen 1,2 Millionen Menschen im wahlfähigen Alter an Nationalratswahlen nicht teilnehmen. Das wäre nicht der Rede wert, wären sie bloß kurz im Land. Vier von zehn aber leben schon länger als zehn Jahre hier – oder wurden, wie Scheeles Kinder, sogar hier geboren. Das Heer der Ausgesperrten ist mittlerweile so zahlreich wie die Wahlberechtigten von Tirol, Vorarlberg und dem Burgenland zusammengenommen.

Vergangene Woche stellte die Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch in mehreren Städten Wahlurnen für eine „Pass egal“-Wahl auf. Die Aktion sollte auf eine demokratiepolitische Absurdität hinweisen: Während die Bevölkerung stetig wächst, schrumpft das Wahlvolk – vor allem in den Städten. Im boomenden Wien leben zwar so viele Menschen wie in ganz Niederösterreich. Trotzdem liegt Niederösterreich bei den Wahlberechtigten voran, weil in Wien inzwischen 30 Prozent der über 16-jährigen Einwohner von Nationalratswahlen ferngehalten werden.

Die Folgen sind gravierend. So werden etwa die 183 Sitze im Parlament nach einem bestimmten Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. Gerd Valchars – Politikwissenschafter mit Schwerpunkt Migration – errechnete, wie ein Plenum aussähe, bei dem alle, die in Österreich dauerhaft leben, auch mitbestimmten: „Wien hätte sechs Mandate mehr, Niederösterreich drei weniger.“ Da Städte in der Regel linker, grüner und liberaler wählen, würden auch Wahlergebnisse systematisch verzerrt, meint Tamara Ehs, die an der Universität Wien die Problemzonen der Demokratie erforscht. Wer den Gesetzen eines Staates unterworfen sei, sollte auch an ihrer Entstehung mitwirken dürfen. So sah es Hans Kelsen, einer der Väter der österreichischen Verfassung. Von der Problematik sind zusehends Junge betroffen. Im 15. Wiener Gemeindebezirk, dem Stadtteil mit dem höchsten Ausländeranteil, leben über 9000 Menschen, die zwischen 16 und 24 Jahre alt sind, davon hat fast die Hälfte keine österreichische Staatsbürgerschaft. Für die Zukunft des politischen Systems verheißt das nichts Gutes.

Soziale Schieflage

Dazu kommt eine alarmierende soziale Schieflage. In Ländern wie Österreich, wo Parteien von der öffentlichen Hand stark gefördert werden, schien die politische Gleichheit in Stein gemeißelt zu sein. Doch vor zwei Jahren wiesen die deutschen Wissenschafter Lea Elsässer, Svenja Hense und Armin Schäfer in einer aufwendigen Studie nach, dass Reiche und Arme vor allem in außenpolitischen, ökonomischen und sozialen Fragen nicht nur recht unterschiedliche Ansichten haben, sondern damit im Deutschen Bundestag auch unterschiedlich Gehör finden – Reiche sehr, Arme gar nicht. Der Befund habe wie eine Bombe eingeschlagen, sagt Martina Zandonella vom Wiener Sora Institut: „Plötzlich stand die Idee von politischer Gleichheit und damit nicht weniger als der Kern der Demokratie infrage.“

In Österreich steht eine vergleichbare Erhebung noch aus. Es wären jedoch ähnliche Ergebnisse zu erwarten. In Wien ist heute fast die Hälfte der Bewohner nicht mehr im Landtag repräsentiert, weil sie entweder nicht wählen darf oder der Politik den Rücken kehrt. Wer aber bleibt am Wahlsonntag daheim? Politikwissenschafterin Ehs ging der Frage für Wien nach. Fazit: Menschen, die lange arbeitslos sind, geringe Bildung haben, wenig verdienen, gehen auch seltener zur Wahl. Politiker jedoch hören auf beständige Klientel. Das wiederum entmutigt Wählerinnen und Wähler, die ohnehin glauben, dass sie von einer Elite regiert werden, die vor allem auf sich selbst schaut. Wo wenige wählen gehen, werden weniger Plakate aufgehängt; der politische Verdruss steigt, die Wahlbeteiligung sinkt weiter: „Am Ende werden nur jene serviciert, die ökonomisch besser gestellt sind“, erklärt Ehs.

Einbürgerungen wirken dem politischen Ausschluss entgegen. Österreich aber ist für angehende Staatsbürger ein besonders hartes Pflaster. 2005 drückte eine Gesetzesnovelle die Zahl der Einbürgerungen nach unten; sie pendelte sich bei unter 0,7 Prozent ein. „Von 150 Einwohnern ohne österreichischen Pass wird ein Einziger eingebürgert“, sagt Alexander Pollak von SOS Mitmensch. Viele scheitern – so wie der 63-jährige Ishkanov – mit ihrem Antrag schlicht deshalb, weil sie nicht genug verdienen. Aus Angst, neue Österreicherinnen und Österreicher könnten dem Staat auf der Tasche liegen, wurden die finanziellen Hürden so hoch geschraubt, dass 60 Prozent der heimischen Arbeiterinnen und 40 Prozent der Mindestpensionistinnen sich glücklich schätzen müssen, den rot-weiß-roten Pass bereits zu besitzen; sie würden ihn heute nicht mehr bekommen. Der Tiroler Lebensmittelhändler Carli wiederum könnte die Kosten für seine Einbürgerung zwar aufbringen, doch als er sich vor Jahren dafür interessierte, habe man ihm bei der zuständigen Behörde erklärt, „dass man mir die Prüfung in Deutsch nachsehen kann, nicht aber in Geschichte“. Carli hatte in Geschichte maturiert und fühlte sich „wirklich gepflanzt“. Damals habe er das Thema Staatsbürgerschaft für sich abgehakt.

"Angst, abgeschoben zu werden"

Vor dem „Pass egal“-Wahlzelt auf dem Wiener Minoritenplatz ist vergangene Woche Djeina (Name von der Redaktion geändert), 15, anzutreffen. Sie besucht die erste Klasse einer Handelsakademie in Wien. Tags zuvor warben Vertreter aller Parteien in der Bibliothek ihrer Schule dafür, dass junge Leute sich politisch einbringen. Die Tschetschenin selbst war dieses Mal noch knapp zu jung zum Wählen; beim nächsten Mal wird es ihr am richtigen Geburtsort fehlen. Djeina war zwei, als sie nach Österreich kam. Es sei „schade“, dass die FPÖ und die ÖVP so tun, als würden „Ausländer nichts auf die Reihe kriegen“, sagt sie: „Warum gibt es dann so viele Geschäfte von Türken und Chinesen?“ Timur, 17, hat ebenfalls tschetschenische Wurzeln, ist aber in Österreich geboren. Hier wolle er „groß rauskommen“, sagt er. Jeder könne es schaffen, er habe „Ideen im Kopf“ und besuche eine Start-up-Schule. In seiner Klasse sei er der Einzige, der am Sonntag nicht wählen durfte. Er habe einige TV-Duelle gesehen, hätte auch gerne seine Stimme abgegeben. Sein Antrag auf Einbürgerung sei eingebracht, gehört habe er von der Behörde seither nichts: „Ich habe Angst, abgeschoben zu werden. Man weiß nie, wie sich die Dinge im Land entwickeln.“

Unter 84.000 Wienerinnen und Wienern mit einem österreichischen Geburtsort und einem nichtösterreichischen Pass sind viele Kinder, die erst ins wahlfähige Alter kommen. Ilkim Erdost ist Geschäftsführerin der Wiener Jugendzentren. Mit Workshops und Jugendparlamenten arbeitet sie gegen den Ausschluss und bekommt von 16-jährigen Burschen und Mädchen immer öfter zu hören: „Warum soll ich da mitmachen? Ich habe eh nichts zu reden.“ Lösen ließe sich das Problem auf vielerlei Art. Man könnte – so wie in Neuseeland – Stimmrecht und Staatsbürgerschaft entkoppeln. Wahlergebnisse wie beim jüngsten „Pass egal“-Urnengang wären langfristig nicht zu befürchten. Hier votierte jeder Zweite der fast 3000 Teilnehmer für die Grünen; die SPÖ kam auf 27,5 Prozent, während ÖVP und FPÖ es nicht einmal ins Parlament geschafft hätten. Studien zeigen, dass Migranten und Mehrheitsbevölkerungen im Laufe der Zeit immer ähnlicher wählen. Man könnte aber auch Einbürgerungen erleichtern. Nur aussitzen lässt sich das Problem nicht. Mit jedem Jahr, das verstreicht, wächst die Gruppe der Ausgeschlossenen um einen Prozentpunkt.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges