Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) und ihr SPÖ-Vize Franz Schnabl werben im Wahlkampf beide mit einem Ausbau der Kinderbetreuung. Wenn sie ihr Versprechen wahr machen, wird es noch vieler solcher Fotos geben – dieses zeigt sie bei der Eröffnung eines Kindergarten-Zubaus in Stetten mit Lokalpolitikern.
Österreich

Was Niederösterreich zum "Kinderösterreich" noch fehlt

Im Niederösterreich-Wahlkampf verspricht Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner den großen Ausbau der Kinderbetreuung. Wie realistisch das ist – und woran die Pläne nichts ändern werden.

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Auf den Montag hat sich Verena D. ein halbes Jahr lang vorbereitet. Die 37-jährige Mutter geht am 16. Jänner das erste Mal seit der Geburt ihrer Tochter wieder ins Büro: 15 Stunden die Woche, fünf Stunden pro Arbeitstag. Vor sechs Monaten versammelte  Verena D. ihren Mann, ihre Eltern und ihre Schwiegereltern zu Hause im niederösterreichischen Industrieviertel, um diesen Tag zu besprechen. Es ging um eine grundsätzliche Frage, die sich viele Mütter und Väter stellen: Wohin mit dem Kind? In den Kindergarten darf die kleine Tochter nicht, sie ist erst 17 Monate alt. In die Krippe soll sie nicht, sie kostet fast 500 Euro. In Karenz kann der Papa nicht, „weil er der Hauptverdiener ist“, erzählt Verena D.

Auch sie möchte wieder ins Erwerbsleben einsteigen und muss es auch. „Es ist bei den derzeitigen Preisen finanziell nicht anders möglich. Wir haben viele Fixkosten und leben auch von Rücklagen. Aber wenn einmal die Waschmaschine eingeht, steht man dann da und weiß nicht weiter.“ Ein Thermenausflug oder ein richtiger Urlaub sei so nicht möglich.“ Und man will sich ja auch einmal was leisten können.“

Die Rettung waren die Großeltern: Sie sind fit, in Pension und in der Nähe. „Da sind wir in einer glücklichen Lage. Die ganz Jungen, bei denen die Eltern nicht da sind oder noch arbeiten, beneide ich nicht. So traurig es klingt – da verstehe ich wirklich, wenn sie sagen: Ich will kein Kind oder nur eines. Es ist schlicht nicht leistbar.“

Die meisten Eltern kennen das Problem, nicht nur in Niederösterreich: Nach der Karenz sind die Kinder, je nach Modell, ein bis zwei Jahre alt. Doch für die Altersgruppe der unter Dreijährigen mangelt es an Betreuungseinrichtungen, nicht einmal für jedes dritte Kleinkind gibt es einen Platz. Die Folge wurde vielfach thematisiert, oft kritisiert, aber kaum geändert: Fast immer sind es die Mütter, die für das Versäumnis büßen, die Betreuung übernehmen und im Beruf zurückstecken. Ihr Frust hat sich herumgesprochen. Im niederösterreichischen Landtagswahlkampf wollen nun – fast – alle Spitzenkandidaten dieses Problem lösen. Wie glaubwürdig ist das? Und wie realistisch?

Wenn Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) Niederösterreich nun zu „Kinderösterreich“ machen will, wie sie bei Wahlkampfevents sagt, dann ist das auch ein Eingeständnis, dass es Aufholbedarf gibt. Jetzt soll alles besser werden, verspricht Mikl-Leitner den Jungfamilien. Die Kinderoffensive ist aber mehr als bloße Parteitaktik: Mikl-Leitner vertrat in der Frage schon Mitte der 2000er-Jahre als Familienlandesrätin progressivere Ansichten als viele Traditionalisten in ihrer Partei. Der ÖVP dämmerte im Vorfeld der Wahl wohl, dass die Unzufriedenheit bei Eltern wächst – nicht nur in Niederösterreich übrigens, auch der ebenfalls wahlkämpfende Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser (SPÖ) setzt auf eine Kinderbetreuungsoffensive. 

„Die fehlende preiswerte Betreuung spielt eine große Rolle in der Entscheidung, dass unser Sohn ein Einzelkind bleiben wird“, erzählte eine Jungfamilie aus Niederösterreich den Wissenschaftern des Österreichischen Instituts für Familienforschung im Jahr 2019. Damals wurde unter knapp 2000 Eltern der Bedarf für Kinderbetreuung erhoben. Ein Drittel der Väter und Mütter bemängelten, dass sie kein Angebot für Kleinkinderbetreuung in der Umgebung finden können, obwohl sie eigentlich Bedarf dafür hätten. Die Studie ist ein Zeitdokument der Verzweiflung. Da berichten Mütter davon, dass es sich für sie nicht auszahlt, zu arbeiten, weil der Verdienst von der kostenpflichtigen Betreuung aufgefressen würde: „25 Stunden zu arbeiten, heißt 30 Stunden Kinderbetreuung à 15 Euro die Stunde. Nach Abzug dieser Kosten und Spritkosten muss man draufzahlen!!!!!“

Katharina Mader, Ökonomin bei der Arbeiterkammer

Katharina Mader, Ökonomin bei der Arbeiterkammer: „Es ist nicht ganz realistisch, dass es ab 2024 Plätze für alle Zweijährigen geben wird.“

Kostenfrei ist in Niederösterreich nur der Vormittag für Kinder ab zweieinhalb Jahren, ab September 2024 soll das für alle Kinder in öffentlichen Betreuungseinrichtungen gelten, das stellt zumindest die Landes-ÖVP in Aussicht. Für den Nachmittag müssen Eltern in Landeskindergärten monatlich 50 Euro aufwärts dazuzahlen, je nach Einkommen – daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Fast die Hälfte der Kinder unter drei Jahren, die in einer Krippe spielen und lernen, tun dies in privaten Einrichtungen. Das kostet etwa 500 Euro monatlich, da sind die Beiträge für das Mittagessen noch nicht eingerechnet.

Eltern mit traditionellem Familienbild, die in ländlichen Gebieten leben, sind mit dem Betreuungsangebot zufriedener als Städter, die sich als moderner einstufen. Das liegt auch daran, dass bei Eltern am Land öfter die Großeltern fürs Kindersitten einspringen. Das legt zumindest die Studie nahe.

Bis Niederösterreich als „Kinderösterreich“ durchgeht, muss sich bei der Betreuung von Kleinkindern und den Öffnungszeiten einiges tun. In diesen Bereichen hat das Land den größten Aufholbedarf. Eine Anleitung, wie das gehen kann, liefern diese drei Buchstaben: VIF. Der Vereinbarkeitsindikator für Familie und Beruf wurde von der Arbeiterkammer entwickelt und zeigt, was ein Kindergarten können muss, um beiden Eltern einen Vollzeitjob zu ermöglichen. Er sollte den Kindern ein Mittagessen anbieten, mindestens 45 Stunden pro Woche geöffnet haben, wobei an vier Tagen pro Woche mindestens neuneinhalb Stunden nötig sind. Dazu sollte die Einrichtung nicht länger als fünf Wochen im Jahr geschlossen sein.

Für die meisten Eltern ist das bestenfalls ein Wunschtraum: Weniger als die Hälfte der Kinder unter sechs Jahren werden in Niederösterreich nach diesen Vereinbarkeitskriterien betreut – im Bundesländer-Ranking liegt „Kinderösterreich“ im hinteren Drittel. Wobei man im Land betont, dass während der Pandemie die Betreuungsquote höher war.

Ab dem Kindergartenherbst 2024 soll es besser werden: Die Landeskindergärten sollen auch für Zweijährige offenstehen. Bis 2027 will das Land 400 Millionen Euro investieren und die Gemeinden dazu motivieren, weitere 350 Millionen Euro lockerzumachen. Damit sollen mehr Gruppen mit besserem Betreuungsverhältnis geschaffen werden und die Schließtage im Sommer auf eine Woche reduziert werden.

33,3 Prozent der Eltern in Niederösterreich finden kein passendes Angebot für Kleinkinderbetreuung (unter drei Jahren) vor.

Der Landtag nahm bei seinem Beschluss im Dezember 2022 auch die VIF-Kriterien ins Gesetz auf, ihnen wurde allerdings das Wort „bedarfsorientiert“ vorangestellt. Das heißt: Nur wenn sich ausrechend Eltern melden, müssen die Öffnungszeiten so ausgeweitet werden, dass Vollzeitarbeit möglich wird.

Katharina Mader, Ökonomin in der Frauenabteilung der Arbeiterkammer, kritisiert den Ansatz: „Bei der Elementarpädagogik schafft nicht Nachfrage das Angebot, es ist umgekehrt: Dort, wo die Gemeinden aufmachen, sagen die Familien auch: Ich brauche den Platz.“

Mader begrüßt zwar die Ausbauinitiative, sagt aber: „Es ist nicht ganz realistisch, dass es ab 2024 Plätze für alle Zweijährigen geben wird.“ Schon jetzt würden viele Eltern mit Zweieinhalbjährigen auf Wartelisten vertröstet. Das größte Problem sieht Mader darin, dass es „keine anständige Bedarfserhebung gibt“: „Dabei wäre es relativ einfach, die Eltern im Zuge der Karenzmeldung zu fragen, ab wann das Kind einen Platz brauchen wird.“

In Frankenfels, einer kleinen Gemeinde im Pielachtal mit knapp 2000 Einwohnern, präsentiert man den Nachwuchs der Öffentlichkeit stolz auf der Website – samt Strampler und Kuscheltier. Wo Miriam, Fabian und ihre Altersgenossen in ein paar Monaten oder Jahren betreut werden, lässt sich aber noch nicht genau abschätzen. Auch nicht für ÖVP-Bürgermeister Herbert Winter.

Der Vorstoß seiner Partei kam für ihn überraschend, erzählt er. „Wir sind dabei, zu erheben, wie es in den nächsten Jahren weitergeht.“ Sorgen bereitet Winter Raum und Finanzierung: „2018 haben wir den Kindergarten von drei auf vier Gruppen erweitert. Selbst wenn die Anzahl der Plätze gleich bleibt, die Gruppen aber verkleinert werden, brauchen wir mehr Platz.“ Ob man das Gebäude erweitern kann, werde erst geprüft. Bisher werden Kinder, die jünger als zweieinhalb Jahre sind, in der Nachbargemeinde betreut.

„Finanziell wird es ganz sicher eine Herausforderung“, sagt Winter. „Es gibt eine Unterstützung vom Land. Aber wir wissen noch nicht, wie wir umbauen und welche Landesbeteiligung es geben wird. Über Zahlen kann man noch gar nichts sagen.“ Im Büro von Landesrätin Christiane Teschl-Hofmeister, ÖVP, beruhigt man: „Für die Errichtung einer neuen Gruppe wird es eine erhöhte Förderung von 27 Prozent auf rund 48 Prozent der anerkennbaren Baukosten geben.“

Deutlicher formuliert Sylvia Kögler ihre Kritik. Die SPÖ-Bürgermeisterin von Grafenau-St. Valentin erzählt von ihrer Ambivalenz: „Als Sozialdemokratin begrüße ich das neue Gesetz in allen Facetten. Aber die ÖVP hat jahrelang die Chance dafür vertan und forciert es plötzlich zwei Monate vor der Wahl.“ Kleinere Gruppen, weniger Schließtage, jüngere Kinder: Bis wann die Gemeinde welche Vorgaben erfüllen müsse, wisse sie nicht. „Bis September 2024 geht sich das sowieso alles nicht aus.“

Kögler hat ohnehin schon ein Problem bei der Kinderbetreuung in ihrer Gemeinde. Am selben Tag, als der Landtag das neue Gesetz beschloss, erhielt sie eine schlechte Nachricht von der Erzdiözese Wien: Der Pfarrkindergarten im Ort werde geschlossen. 15 Kinder ab zweieinhalb Jahren müssen also im Landeskindergarten untergebracht werden. Für die Zukunft braucht Kögler daher drei neue Kindergartengruppen. Eine zu errichten, würde 600.000 Euro kosten. „Da sind die Kosten für das zusätzliche Personal noch nicht einmal mitgerechnet.“

50,3 Prozent der Kinder essen nicht in ihrer Krippe oder ihrem Kindergarten zu Mittag. Das heißt, sie werden um die Mittagszeit abgeholt.

Auch in den Kindergärten ist noch vieles ungewiss: „Die Eltern fragen uns jetzt schon, wann ihre zweijährigen Kinder kommen dürfen, aber wir haben keine Informationen dazu“, erzählt eine Pädagogin profil – unter Wahrung ihrer Anonymität. „Wir wissen nicht, ob wir sie aufnehmen können, ob die Räumlichkeiten reichen und ob wir genügend Personal bekommen.“ Zweijährige würden oft auch mehr Betreuung brauchen.

Die Frau, eine erfahrene pädagogische Fachkraft, betreut 22 Kinder im Alter zwischen zweieinhalb und sechs. Die Arbeit sei belastend für jüngere Kolleginnen. „Sie kommen mit 19 und entscheiden sich nach zwei, drei Jahren, doch noch ein neues Studium zu beginnen.“ Der Druck und die Verantwortung seien zu groß, das Gehalt zu gering.

In Niederösterreich wird jede pädagogische Fachkraft von einer Betreuerin unterstützt. Sie hat in vielen Fällen keine zusätzliche Ausbildung, dafür aber Zusatzaufgaben: „Die Betreuerinnen müssen nebenbei noch reinigen. Wenn ich weiß, dass der Geschirrspüler in der Küche läuft und ich noch das Klo putzen muss, kann ich mich nicht auf die Kinder konzentrieren.“ Die Pädagogin würde sich wünschen, dass solche Aufgaben ausgelagert werden.

Der Druck auf den Ausbau des Angebots wird jedenfalls größer, nicht nur von Eltern und Betreuerinnen. „Wir haben nicht nur einen Fachkräftemangel, sondern auch massiven Arbeitskräftemangel“, sagt Sabine Herlitschka, Vizepräsidentin der Industriellenvereinigung. „Die Dringlichkeit lässt einen fragen: Wo gibt es welche Potenziale?“ Das seien zum Beispiel Frauen, die wieder ins Berufsleben einsteigen oder die ihre Arbeitszeit aufstocken wollen. „Das steht und fällt aber damit, ob ein Angebot für frühkindliche Betreuung geschaffen wird, vorhanden ist sowie ganzjährig und ganztätig verfügbar ist.“

„Man muss es auch als Investition sehen und weg von der Kostenlogik kommen. Es gibt Studien, die zeigen, dass sich die Kosten für die Kinderbetreuung zu zwei Drittel rasch wieder amortisieren würden“, sagt Herlitschka. Denn durch mehr Betreuungsplätze und durch mehr gut ausgebildetes Personal könnten auch mehr Frauen mehr bezahlte Arbeit leisten.

Es gibt kaum ein Thema, das die Antwort auf so viele Probleme gleichzeitig wäre – und bei dem trotzdem nur sehr langsam etwas weitergeht.

Iris Bonavida

Iris Bonavida

ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.

Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.