Altherrendoppel

Wer sind Jean-Claude Juncker und Martin Schulz? Und was wollen sie?

Europawahlen. Wer sind Juncker und Schulz? Und was wollen sie?

Drucken

Schriftgröße

Als ehemaliger Fußballer der deutschen B-Liga (Rhenania Würselen) weiß Martin Schulz, dass man in einem TV-Duell seinen Gegner von Anfang an attackieren muss, notfalls auch mit Fouls. Bei der ersten Live-Debatte der europäischen Spitzenkandidaten in ORF und ZDF am vergangenen Donnerstagabend agierte der Sozialdemokrat weit angriffiger als der gelernte Politik-Profi Jean-Claude Juncker, ehemaliger Regierungschef von Luxemburg.

+++ Interview: Die Spitzenkandidaten für die Europawahlen, ­Jean-Claude Juncker und Martin Schulz, über ihre Pläne für das Amt des Kommissionspräsidenten +++

So hielt der Präsident des Europaparlaments seinem christdemokratischen Herausforderer vor, dieser sei ein Vertreter des „alten Europa“, wo Entscheidungen in abgedunkelten Hinterzimmern fielen. Juncker, bekannt für seinen trockenen Humor, konterte mit dem Hinweis, er habe Schulz vor vielen Jahren in einem ebensolchen dunklen Hinterzimmer kennengelernt.

Informelle Große Koalition
Das erste TV-Duell der Spitzenkandidaten für die Europawahlen ergab am Ende keinen klaren Sieger. Das lag schon daran, dass sich der Sohn eines Luxemburger Stahlfabrikarbeiters und der Spross eines deutschen Polizisten mit gegenseitigen Angriffen schwertaten. Denn auch im Europaparlament zogen bisher die beiden großen Fraktionen in einer informellen Großen Koalition bei allen wichtigen Gesetzesentscheidungen an einem Strang.

Schulz wettert gegen Steuerdumping
Nur in der Steuerfrage traten deutlichere Differenzen zutage: Juncker befürwortete einen Steuerwettbewerb in der EU, wovon gerade das heimatliche Großherzogtum profitiert. Schulz wetterte gegen Steuerdumping, aus dem nur Konzerne Vorteile ziehen könnten.
Auch wenn sie in manchen EU-Ländern weitgehend unbekannt sind und ihre Namen gar nicht auf den Stimmzetteln stehen: Am Abend des 25. Mai soll mit der stimmenstärksten Fraktion auch der Name des künftigen Präsidenten der EU-Kommission feststehen. Erstmals dürfen die EU-Bürger dabei mitreden.

Postenbesetzung in geheimen Sitzungen
Demokratiepolitisch ist dies ein Fortschritt. Bislang machten sich die EU-Staats- und Regierungschefs diese Postenbesetzung in geheimen Sitzungen untereinander aus. Seit dem Ende der Amtszeit des französischen Sozialdemokraten Jacques Delors wurden dabei stets schwächere Politiker an die Spitze der EU-Kommission gehievt, um so die Kontrolle über die EU-„Regierung“ zu behalten: 1995 kam der Luxemburger Jacques Santer, dessen gesamte Kommission nach einem Korruptionsskandal zurücktreten musste, dann folgte der italienische Mitte-Links Politiker Romano Prodi. Seit 2004 führt der konservative Portugiese José Manuel Barroso die Geschäfte im Berlaymont-Büroturm in Brüssel.

Am 25. Mai können Bürger auch über die Besetzung des höchsten Amts der europäischen Exekutive entscheiden. Im EU-Vertrag von Lissabon wurde dazu allerdings nur festgelegt, dass der Europäische Rat, also die Staats- und Regierungschefs, bei der Nominierung das Wahlergebnis „berücksichtigen“ sollen.

Dies lässt natürlich Spielraum offen. Denn selbst wenn der Kandidat mit den meisten Parteistimmen tatsächlich von den EU-Granden (mit qualifizierter Mehrheit) gekürt werden sollte, braucht dieser eine einfache Mehrheit im EU-Parlament, also auch die Zustimmung anderer Fraktionen. Bei Schulz könnte noch die britische Labour-Party abspringen. Auch der konservative Premierminister David Cameron meldete Vorbehalte gegen Schulz an, weil dieser eine weitere Vertiefung der EU befürwortet und außerdem Deutscher ist.

Falls der siegreiche Kandidat keine Mehrheit im Parlament findet, hätte der EU-Rat spätestens dann eine Ausrede, doch noch einen anderen, eigenen Kandidaten zu präsentieren. Ein Machtkampf mit dem neu gewählten Europaparlament wäre die Folge. Aber die Europaabgeordneten sind schon oft eingeknickt, wenn der Druck aus ihren Heimatländern ausreichend erhöht wurde.

Dabei wird es schon mit den bestehenden Spitzenkandidaten schwierig genug. In Österreich kennen laut Umfrage der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik 30 Prozent der Befragten weder Schulz noch Juncker. Noch weniger wissen, dass sie mit einer Stimme für die SPÖ oder ÖVP auch die beiden Herren um die 60 mitwählen.

Der Christdemokrat Juncker steht für soziale Marktwirtschaft und für eine Fortsetzung von Budgetdisziplin („Mit neuen Schulden kann man kein Wachstum schaffen.“). Er tritt für einen europäischen Mindestlohn in allen Ländern mit unterschiedlichen Richtsätzen ein und möchte vor allem durch die Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen die Schaffung von Arbeitsplätzen ankurbeln.

Der Sozialdemokrat Schulz hat sich die Schaffung von Wachstum und Jobs zum Ziel gesetzt. Dafür will er Konzerne und Reiche höher besteuern und Spekulanten in die Schranken weisen.

Dass Schulz bereits im Juli 2003 europaweit ­bekannt wurde, verdankt er indirekt Wolfgang Schüssel, obwohl er heftig an den Sanktionen gegen Schwarz-Blau mitgewirkt hatte. Bei einer ­Parlamentsdebatte zur italienischen EU-Ratspräsidentschaft warf Schulz der Regierung von Silvio Berlusconi ausländerfeindliche Politik vor, die schlimmer sei „als alles, worüber dieses Parlament gegen Österreich und die Mitgliedschaft der österreichischen Regierung Beschlüsse gefasst hat“. Berlusconi empfahl Schulz in seiner Replik, sich für die Rolle eines KZ-Schergen in einem NS-Film zu bewerben.

Schulz gilt als Pragmatiker
Trotz seiner bisweilen klassenkämpferischen Töne zählt Schulz nicht zum linken Rand der SPD, sondern gilt als Pragmatiker. Schulz’ Vater war Polizist, die Mutter bei der CDU, er selbst sogar Kleinunternehmer. Seinen Buchladen gab Schulz erst auf, als er für die SPD 1994 ins EU-Parlament wechselte. Von 1987 bis 1998 war er Bürgermeister seiner Heimatstadt Würselen bei Aachen.

„Ich bin ein Junge vom Land”
In seiner Begeisterung über die eigene Karriere („Ich bin ein Junge vom Land. Wer hätte gedacht, dass ich je so weit komme.“) erinnert Schulz an Alfred Gusenbauer, der es als Arbeiterkind aus Ybbs zum Kanzler brachte. Im Gegensatz zum Vorzugsschüler aus Österreich zeigten sich in Schulz’ Biografie aber schon früh Brüche: Schulabbruch, Depressionen, Alkoholentzug mit 24 Jahren. Dass er Emotionen nicht verbirgt, wurde in der ORF-Sendung „Wahlfahrt“ deutlich. Schulz bekam beim Abspielen eines Liedes über das eigene Grätzel feuchte Augen. Schulz, der „Poltergeistvolle“ („Süddeutsche Zeitung“) zählt zu jenen Politikern, die Europa als „Idee“ gern historisch-emotional aufladen. Wie Christoph Kolumbus auf seiner Entdeckungsfahrt befänden sich die Europäer „auf einer Reise, die uns in ein bisher unbekanntes Gefilde bringen wird“. Europa sei „ein Experiment, das es in der Geschichte noch nicht gegeben hat“.

Dass die EU 2012 den Friedensnobelpreis erhielt, war für Schulz ergreifend; dass er allein es war, der die Plakette im Rathaus von Oslo entgegennahm, erregend. Kommissionschef José Manuel Barroso und der Präsident des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, hielten die Reden – was Schulz reichlich egal war: „Die ­Reden interessieren am Ende niemanden. Aber die Bilder mit der Medaille, die gehen um die Welt!“, sagte er dem „Spiegel“.

Europa „vom Kopf auf die Füße“
2012 hatte der wortgewandte sozialdemokratische Fraktionschef das Amt des Parlamentspräsidenten mit der Ankündigung angetreten, kein „Grüßaugust“ sein zu wollen, sondern Europa „vom Kopf auf die Füße“ stellen zu wollen. Mit Hartnäckigkeit an der Grenze zu Querulanz gelang es ihm zumindest ansatzweise, die versprochene „gleiche Augenhöhe mit Rat und Kommission“ zu erlangen. So blockierte das Parlament unter Schulz’ Regie im Vorjahr monatelang den neuen Finanzrahmen der EU von 2014 bis 2020, um Nachbesserungen zu erzwingen.

Zu Schulz’ wichtigsten Kontaktmännern in der EU-Führungselite zählt Werner Faymann. Als einer der ersten Spitzensozis sprach sich der Bundeskanzler für Schulz als gemeinsamen Kandidaten der europäischen Sozialdemokraten aus. Und geht es bei vertraulichen Sitzungen der Regierungschefs hoch her, ist es unter anderen Fay-mann, der Schulz per SMS in Echtzeit aus dem Sitzungssaal informiert.

Jean-Claude Juncker hätte es eigentlich vorgezogen, auch weiterhin Politik im Kreis der europäischen Regierungschefs zu betreiben. 2004, als ihn viele Kollegen zum neuen Kommissionschef küren wollten, lehnte er ab. Er habe es seinen Wählern versprochen, so Juncker.

Vor knapp einem Jahr holte ihn eine Geheimdienstaffäre rund um Bombenanschläge und Schwarzgeldkonten in Luxemburg ein. Nach 19 Jahren als Regierungschef wurde Juncker trotz Wahlsiegs von einer neuen Koalition abgelöst. Doch Juncker hatte noch nicht genug. In einer Kampfabstimmung um die Spitzenkandidatur der EVP bei der EU-Wahl setzte er sich im März gegen EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier durch.

„Als Haus, in dem es keinen Krieg mehr gibt“
Wenn EU-Politik ein Gesicht hat, gehört es Juncker. Wie Schulz will auch der Luxemburger Europa existenziell erklären, „als Haus, in dem es keinen Krieg mehr gibt“. Als Vorsitzender der Euro-Gruppe von 2005 bis 2013 entwickelte er die gemeinsame Währung entscheidend mit. Er koordinierte auch die Hilfsmaßnahmen für Krisenländer. Und als die Mehrheit der heutigen EU-Politiker noch in ihren Jugendorganisationen das Handwerk lernte, erörterte Juncker bereits 1992 mit dem deutschen Kanzler Helmut Kohl den Vertrag von Maastricht. Der gelernte Rechtsanwalt verbrachte sein gesamtes Arbeitsleben in der Politik.

Unter den europäischen Regierungschefs gilt Juncker als wichtigster Mediator in Streitfällen aller Art. Kein Wunder, dass der luxemburgische Premier im Jahr 2000 auf dem Höhepunkt der Sanktionen der EU gegen die schwarz-blaue Bundesregierung ausgeschickt wurde, um mit seinem Freund Wolfgang Schüssel in vertraulichem Gespräch eine Lösung zu finden. Der Vorschlag: Österreich solle sich einem Monitoring durch die EU unterwerfen, danach würden die Sanktionen aufgehoben. Schüssel wies den Plan brüsk zurück und beharrte auf einer bedingungslosen Rücknahme der Maßnahmen. Junckers nächste Kollision mit einem österreichischen Spitzenpolitiker kam erst zwölf Jahre später. Als Maria Fekter einen Beschluss der Finanzminister der Eurogruppe vor Juncker öffentlich machte, zog dieser vor lauter Zorn ohne Statement ab. Fekter erklärte Junckers Furor anschließend mit dessen schmerzhaften Nierensteinen.

Schulz und Juncker hoffen beide auf eine ausreichende Wahlbeteiligung. Und sie warnen vor einer Stärkung von Europagegnern, die europäische Institutionen genau in einem Moment, wo diese angesichts der aktuellen Krisen handlungsfähig sein sollten, lahmlegen könnten.

Der amtierende Präsident der EU-Kommission, Barroso, klagte am vergangenen Freitag, dem Europatag, bei einer Ansprache in Berlin über ein „enormes Dilemma“, das die Zukunft der EU belaste: „Wenn den Menschen eine nationale Entscheidung nicht gefällt, wählen sie im Normalfall die dafür Verantwortlichen ab. Wenn sie eine europäi-sche Entscheidung nicht mögen, wenden sie sich tendenziell gegen Europa selbst.“

+++ Interview: Die Spitzenkandidaten für die Europawahlen, ­Jean-Claude Juncker und Martin Schulz, über ihre Pläne für das Amt des Kommissionspräsidenten +++

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.