Wie gerecht ist unser Bildungssystem?

In Österreich sind die Bildungsmöglichkeiten besonders ungleich verteilt.

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Geht es um gerechte Bildungschancen, ist Österreich Nachzügler. Ob die Eltern ein Studium absolviert oder einen Lehrabschluss gemacht haben, die Höhe des Haushaltseinkommens - all das sind Faktoren, die mitentscheiden, welche Chancen ein Kind am Bildungsmarkt hat. Ein Bericht der OECD zur Chancengleichheit in der Bildung aus dem Jahr 2018 ergab, dass in Österreich die Bildungsmöglichkeiten besonders ungleich verteilt sind: Hierzulande sind die Leistungen stärker vom sozioökonomischen Hintergrund abhängig als im OECD-Schnitt, Kinder aus bildungsfernen Schichten erreichen noch seltener einen Hochschulabschluss. Dabei ist fast allen Menschen in Österreich Bildungsgerechtigkeit ein großes Anliegen. Für 87 Prozent der Österreicher ist eine Gesellschaft dann gerecht, wenn Kinder die gleichen Chancen bekommen, unabhängig davon, was ihre Eltern gelernt haben oder verdienen - das ergibt eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Ifes im Auftrag der Arbeitkammer (AK). Anlässlich des 100. Geburtstags der AK wurde im Jänner und Februar eine Telefon-und Online-Umfrage unter 2000 Personen ab 16 Jahren zum Thema Gerechtigkeit durchgeführt.

Überraschenderweise empfinden Menschen, die selbst einen formalen Bildungsabschluss mit einer Matura oder höheren Ausbildung erreicht haben, die Chancen nur eine Spur gerechter (55%) als jene, die einen formal niedrigeren Bildungsabschluss haben (51%). "Wenn man die tatsächliche Chancenverwertung im Bildungssystem ansieht, erstaunt dieses Ergebnis. Ich vermute, dass Chancen im Bildungswesen eher als etwas Individuelles angesehen werden, nach dem Motto: Jeder kann alles erreichen, wenn er sich nur genug anstrengt, sagt Ifes-Geschäftsführerin Eva Zeglovits: "Die 87 Prozent Zustimmung beim Kernwert zur Bildungsgerechtigkeit zeigen aber, dass es einen sehr großen Anspruch an die Gesellschaft nach gleichen Bildungschancen für alle gibt. Dass im Vergleich dazu nur 51 Prozent das Bildungssystem als sehr oder eher gerecht empfinden, ist kein vernachlässigbarer Wert."

Die Umfrage zeigt auch ein Gefälle zwischen Älteren und Jüngeren sowie Stadt und Land auf: Am gerechtesten empfinden Personen, die über 70 Jahre alt sind, die Chancen im Bildungswesen (65%), die Personen bis 30 Jahre sehen das System am kritischsten: In dieser Altersgruppe empfinden nur 49 Prozent das Bildungssystem als sehr oder eher gerecht. In sehr kleinen Gemeinden erleben die Menschen das Bildungssystem als gerechter als in Städten ab 50.000 Einwohnern. "Das liegt vermutlich auch daran, dass das Bildungssystem am Land segregierter ist als in der Stadt", sagt Zeglovits.

AK-Präsidentin Renate Anderl leitet von den Umfrageergebnissen großen Handlungsbedarf ab: "Bildung wird bei uns immer noch vererbt, und die frühe Trennung der Kinder in unterschiedliche Schulformen vergrößert Ungleichheiten bei den Bildungschancen. Gerecht ist: Alle Kindern werden so gefördert, dass sie ihre Talente voll entfalten können, unabhängig vom Bildungsabschluss, Wohnort oder Geldbörsel der Eltern." Um mehr Chancengerechtigkeit im Bildungssystem zu erreichen, brauche es eine Schulfinanzierung nach dem Konzept des Chancen-Index, sagt Philipp Schnell, Referent in der Abteilung Bildungspolitik der AK Wien. Damit werden besonders belastete Schulen gezielt unterstützt und gefördert. Das türkis-grüne Regierungsprogramm sieht dazu ein Pilotprojekt vor: Vorerst soll der Chancen-Index an 100 Schulen erprobt werden. "Das ist begrüßenswert, aber 100 Schulen sind zu wenig."