Liebesgrüße nach Moskau

Wie Österreichs Politelite die EU-Sanktionen gegen Russland unterläuft

Ukraine-Krise. Wie Österreichs Politelite die EU-Sanktionen gegen Russland unterläuft

Drucken

Schriftgröße

Talent zur Vergoldung internationaler Krisen zeigte Österreich schon immer. Nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan boykottierten mehrere westliche Staaten, wie die USA und die Bundesrepublik Deutschland, die Olympischen Spiele 1980 in Moskau. Andere, wie Italien oder die Schweiz, ließen ihre Athleten aus Protest unter der olympischen statt der nationalen Fahne antreten oder sagten die Teilnahme an der Eröffnungszeremonie ab. Das neutrale Österreich verzichtete auf jegliche Sanktion – was durchaus gewürdigt wurde: Nachdem Dressurreiterin Elisabeth Theurer auf ihrem Pferd Mon Cherie wegen der Absenz ernstzunehmender Konkurrenten locker zu Gold getrabt war, überreichte ihr der sowjetische Silbermedaillengewinner eine rote Rose – zum Dank für die erwiesene Solidarität in schwierigen Zeiten.

34 Jahre und eine manifeste (Krim-) sowie eine latente (Ostukraine-) Okkupation später trägt die formal immer noch neutrale Republik Österreich die Sanktionen des Westens gegen Russland mit – und zwar uneingeschränkt, wie Kanzler Werner Faymann und sein Vize Reinhold Mitterlehner offiziell betonen. Doch tatsächlich unterlaufen hochrangige Repräsentanten der politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes seit Monaten den härter werdenden Kurs der Europäischen Union – aus unterschiedlichen Motiven und in unterschiedlicher Intensität. Neutralisten (der Bundespräsident), Beschwichtiger (der Wirtschaftskammer-Chef) und regelrechte Putin-Apologeten (der FPÖ-Obmann) stellen sich gegen Merkel, Cameron und Hollande. Droht Österreich auf die falsche Seite der Geschichte zu geraten?

Wie sonst solle denn der oberste Interessensvertreter der österreichischen Unternehmerschaft agieren, heißt es derzeit aus dem Umfeld von Christoph Leitl. Der Präsident der Wirtschaftskammer ist der schärfste ernstzunehmende Kritiker der seiner Meinung nach „unsinnigen“ Sanktionen. Leitl: „Die Reaktion der EU ist nicht situationsadäquat.“ Der Westen habe den russischen Präsidenten in dessen „Empfindsamkeit gestört“.

Gedämpfter reagierte der Präsident der Industriellenvereinigung, Georg Kapsch: „Sanktionen sind nicht der richtige Weg.“ Die Unternehmensgruppe des IV-Chefs ist selbst ein Opfer von Putins Gegenmaßnahmen. Im August hatte das russische Verkehrsministerium das Projekt eines landesweiten Mautsystems für Lkw gestoppt, für das sich Kapschs TrafficCom beworben hatte. MAN muss einen Großauftrag über 500 Lkw abschreiben.

Seine These, die Sanktionen würden nichts bewirken, wirtschaftlich aber enorm schaden, begründet Leitl mit drastischen Zahlen. Rund 55.000 Jobs seien in Österreich direkt oder indirekt vom Handel mit Russland abhängig.

Das Wirtschaftsforschungsinstitut entwarf ein wahres Schockszenario: Demnach könnten Moskaus Revanchemaßnahmen Österreich einen volkswirtschaftlichen Schaden von bis zu 775 Millionen Euro bescheren. Bereits betroffen ist etwa das oberösterreichische Unternehmen Backaldrin, das Kornspitz-Teigmischungen nach Russland exportiert. Vorstandschef Wolfgang Mayer: „Wir suchen nach Lösungen, wie wir unsere Ausfälle in Russland kompensieren können.“

Als Reaktion auf die „illegale Annexion der Krim“ und die „vorsätzliche Destabilisierung eines unabhängigen Nachbarlandes“ hatte die EU seit März eine Reihe von politischen Sanktionen gegen die russische Föderation beschlossen, darunter das Einfrieren von Vermögen russischer und ukrainischer Amtsträger samt Einreiseverbot. Bislang sind 119 Personen und 23 Institutionen davon betroffen. Präsident Wladimir Putin wurde vom G7-Treffen in Brüssel ausgeladen, den EU-Mitgliedsländern wurde empfohlen, keine bilateralen Treffen mit Russland mehr abzuhalten.

Die wirtschaftlichen Strafmaßnahmen betreffen vor allem Geschäfte mit russischen Banken, den Export von Waffen sowie die Ausrüstung für den Erdölsektor. Der Gassektor bleibt von Ausfuhrverboten vorläufig ausgeklammert.

Von russischer Seite erfolgte als Gegenreaktion eine Reihe von Einfuhrverboten gegen EU-Agrarprodukte, darunter Fleisch, Milchprodukte, Fisch, Obst und Gemüse. Zwar machten diese EU-Exporte im Vorjahr einen Wert von fünf Milliarden Euro aus. Insgesamt sind aber nur 4,2 Prozent der gesamten Agrarausfuhren der Union betroffen.

Österreich exportierte 2013 landwirtschaftliche Produkte im Wert von 237 Millionen Euro nach Russland. Davon sind Warengruppen im Wert von 103 Millionen Euro vom russischen Embargo erfasst. Freilich dürfen heimische Bauern Entschädigungen im Rahmen der gemeinsamen EU-Agrarpolitik erwarten.

Im Finanzbereich setzte Österreich in Brüssel einige Ausnahmeregelungen durch. So sind in Österreich niedergelassene Filialen russischer Banken von Sanktionen ausgenommen. Auch das Geschäft österreichischer Banken in Russland, etwa der Raiffeisen Bank International, läuft vorerst weitgehend ungestört weiter. Generaldirektor Karl Sevelda: „Bis dato hatten die Sanktionen keine signifikanten Auswirkungen auf unser Geschäft. Die mittelfristigen Auswirkungen werden allerdings von der weiteren Entwicklung der Krise abhängen.“ Für die Bank steht einiges auf dem Spiel. 2013 erwirtschaftete sie in Russland rund 46 Prozent ihres Vorsteuergewinns.

Im Gegensatz zu Christoph Leitl halten sich dessen Sozialpartner auf Arbeitnehmerseite zurück. Vom ÖGB ist keine Stellungnahme zu den Folgen der Sanktionen auf die heimische Beschäftigungslage überliefert. Arbeiterkammer-Präsident Rudolf Kaske relativiert allzu pessimistische Prognosen und fordert „eine faktenbasierte Diskussion“. Kaske: „Die Exporte nach Russland betrugen im Rekordjahr 2013 knapp über ein Prozent des österreichischen Bruttoinlandsproduktes. Das Problem soll damit keinesfalls negiert werden. Es geht aber darum, die Dimension richtig einzuschätzen.“

Auch im Außenministerium werden Leitls drastische Äußerungen gegen die EU-Sanktionen skeptisch beurteilt und eher in Zusammenhang mit den anstehenden Wirtschaftskammerwahlen gesetzt. „Leitls Attacken klammern die völkerrechtswidrigen Handlungen Putins völlig aus“, so ein Top-Diplomat. Außenminister Sebastian Kurz beteuert ebenfalls, „dass man nicht tatenlos zusehen kann, wenn Russland eindeutig Völkerrecht bricht“.

Anders als Leitl akzeptieren die deutschen Arbeitgeberverbände die Vorgaben ihrer Bundesregierung beinahe vorbehaltlos. Ulrich Grillo, Präsident des mächtigen Bundesverbandes der Deutschen Industrie: „Der BDI und ich persönlich sind zu der Überzeugung gelangt, dass das Verhalten der russischen Regierung im ukrainischen Sezessionskonflikt spürbare Konsequenzen haben muss. Der wirtschaftliche Schaden, der Deutschland und den anderen EU-Staaten durch neue Sanktionen entsteht, wird mehr als aufgehoben, wenn es gelingt, dem Völkerrecht in Europa und Rechtsgrundsätzen generell Geltung zu verschaffen.“

Hierzulande wettern Vertreter staatlicher oder staatsnaher Unternehmen wie Gerhard Roiss, OMV, und Siegfried Wolf, Aufsichtsratschef der Industriebeteiligungs-Holding ÖIAG (Telekom Austria, Post, OMV), offen gegen die von der Bundesregierung mitgetragenen Sanktionen. Wolf, in Personalunion Aufsichtsratsvorsitzender von Russian Machines des Putin-treuen Oligarchen Oleg Deripaska, sieht Europa im „Kielwasser der USA“, wovon die EU sich „befreien“ müsse.

Den Antiamerikanismus teilt der ÖIAG-Aufsichtsratsboss mit den wildesten Putin-Apologeten im freiheitlichen Lager. FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache: „Vieles, was Russland macht, ist zu kritisieren. Aber ist Russland wirklich überall im Unrecht und die USA im Recht?“ Österreichs Regierung befinde sich auf einer „neutralitäts- und wirtschaftspolitischen Geisterfahrt zum Schaden Österreichs“. Und die EU, so Strache weiter, müsse sich entscheiden, ob sie eine „Friedensunion“ oder eine „Eskalationsunion“ sein wolle. Der Wiener FPÖ-Obmann Johann Gudenus rechtfertigte seine bizarre Teilnahme am Moskauer Internationalen Forum „Mehrkindfamilien und die Zukunft der Menschheit“, wo er vor „der mächtigen Homosexuellenlobby“ gewarnt hatte, im Nachhinein als Aufklärungsmission: „Ich wollte dem Gastgeber mitteilen, dass große Teile der österreichischen Bevölkerung, das ist unser Eindruck, die Sanktionen nicht mittragen.“

Womit Gudenus durchaus recht hat: Laut einer aktuellen profil-Umfrage lehnen 53 Prozent der Österreicher weitere Sanktionen gegen Russland ab. Eine Mehrheit in der Bevölkerung dürfte wohl nicht ganz verstehen, warum ein Konflikt in einer Region am Rande Europas in Österreich Arbeitsplätze kostet und warum dies die EU nicht nur in Kauf nimmt, sondern sogar „provoziert“ (Strache).

Der Erklärungsaufwand für die Regierungsspitze, warum europäische Werte nationale Wirtschaftsinteressen überlagern, ist entsprechend groß – gerade für den Wirtschaftsminister und neuen Vizekanzler Reinhold Mitterlehner: „Ich bin kein Freund von Sanktionen, weil sie der Wirtschaft schaden. Aber in der jetzigen Situation können wir nicht Pro und Kontra in wirtschaftlicher Hinsicht abwägen. Jetzt stehen andere Werte im Vordergrund, und man muss eine einheitliche Linie haben.“

Und die einheitliche europäische Linie lautet: Verschärfung der Maßnahmen, solange Putin im Ukraine-Konflikt keine glaubwürdigen Schritte zur Deeskalierung setzt. So wurde der Zugang russischer Banken zum EU-Kapitalmarkt vorvergangene Woche weiter eingeschränkt. Im Gegensatz zu Brüssel wünscht sich das offizielle Österreich freilich mehr Kommunikation als Sanktion.

Die Botschafterin in Moskau, Margot Klestil-Löffler, zog gegenüber profil sogar historische Vergleiche: „Reden, reden und noch einmal reden, von Angesicht zu Angesicht. Der persönliche Dialog muss viel intensiver geführt werden. Wir brauchen eine Art ,Wiener Kongress‘ als Friedensplattform.“ Kanzler Werner Faymann schwärmte Freitag vergangener Woche nach seinem 20-minütigen Telefonat mit Präsident Putin gar von einer „Vermittlerrolle“ Österreichs „in der Tradition Kreiskys“. In der Sanktionenfrage blieb der Kanzler freilich auf EU-Linie: „Es ist wichtig, dass wir uns politisch wehren.“

Der optimistische Glaube, beim Reden würden Feinde zueinander finden, vereint Kanzler und Bundespräsident. Bei der Eröffnung des Linzer Brucknerfestes gab sich Heinz Fischer davon überzeugt, „dass wir das Richtige tun, wenn wir gesprächsfähig bleiben und der Konfrontationsdynamik möglichst wenig Raum geben“. Allzu deutliche Schuldzuweisungen und Unterscheidungen zwischen Tätern und Opfern vermied das Staatsoberhaupt in den vergangenen Monaten. Die Sanktionen bezeichnete Fischer als „notwendiges Übel, wenn alle anderen Mittel versagen“. Das Verhalten von Wladimir Putin umschrieb er in einem „Standard“-Interview als „misstrauensbildend“.

Fischers deutscher Amtskollege Joachim Gauck bevorzugt Klartext: Gegenüber der „Rheinischen Post“ warf er Putin Freitag vergangener Woche Völkerrechtsbruch vor. Originalzitat Gauck: „Ich kann nicht nachvollziehen, dass wir in vorauseilendem Gehorsam die Empfindsamkeiten Russlands ernster nehmen sollten als das Selbstbestimmungsrecht der ukrainischen Bevölkerung.“ Ein Staatsbesuch in Russland sei in der aktuellen Situation daher nicht möglich. Und mit einer Einladung an Putin nach Berlin ist wohl auch nicht zu rechnen.

In Wien wurde der russische Präsident am 24. Juni bei seinem eintägigen Besuch dagegen herzlich empfangen, bei seinem Abstecher in die Wirtschaftskammer sogar mit stehenden Ovationen. Und als Putin bei Christoph Leitls Begrüßungsansprache ein Witzchen riss, amüsierten sich auch der Wirtschaftskammer- und der Bundespräsident vortrefflich.

Dass Österreichs Gesprächsfähigkeit auch auf kommunaler Ebene unberührt von internationalen Krisen bleibt, demonstrierte vorvergangene Woche die Stadt Wien anlässlich der „Moskau Tage“ inklusive Wirtschaftsforum. Eine krisenbedingte Absage der Veranstaltung stand nie zur Debatte – im Gegenteil: Bürgermeister Michael Häupl zeigte sich laut Darstellung seiner russischen Gäste erfreut darüber, dass „die Beziehungen zwischen beiden Städten nicht von der derzeitigen heiklen politischen Situation beeinflusst“ seien. Der Leiter der Moskauer Delegation, Stadtrat Sergej Tscherjomin, lobte seinerseits „den ökonomischen Pragmatismus“ der Wiener Stadtregierung, die „nicht an politischen Emotionen leidet“.

Die Prager Kollegen leisteten sich dagegen einen krisenbedingten Gefühlsausbruch: Anfang September stellte die Stadtregierung aus Protest gegen die Vorgänge in der Ukraine ihre Partnerschaft mit Moskau ein.