Zeitgeschichte: Der andere Figl

Vor 50 Jahren starb der verklärteste Politiker Österreichs. Er war zu seiner Zeit eine Idealbesetzung, aber fast alle Legenden, die das Bild von Leopold Figl prägen, sind falsch.

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Diese Rede kennen alle: "Ich kann euch zu Weihnachten nichts geben, kein Stück Brot, keine Kohle zum Heizen, kein Glas zum Einschneiden. Wir haben nichts. Wir können euch nur bitten: Glaubt an dieses Österreich.“ Leopold Figls Weihnachtsansprache 1945 vor den Angestellten des Kanzleramts ist Teil des Mythenschatzes der Republik, ein Symbol für die eherne Vaterlandsliebe ihrer Menschen. Bloß: Es gab wohl die Feierstunde, aber diese Rede wurde dort mit Sicherheit nicht so gehalten. Das 23 Sekunden lange Hörstück, das heute auf YouTube unter diesem Titel angeboten wird, stammt aus dem April 1965. Die jungen Journalisten Ernst Wolfram Marboe und Hans Magenschab hatten den bereits todkranken Figl damals ins Studio gebracht, um die legendenumwobene "Weihnachtsansprache“ erstmals auf Tonträger zu bannen. 1945 war das nicht möglich gewesen. Den Inhalt der Rede rekonstruierte man 20 Jahre später grob aus dem Gedächtnis und aus Versatzstücken der Regierungserklärung Figls vom 21. Dezember 1945.

Es ist das eine typische Episode für das Bild, das sich anlässlich der anstehenden Gedenktage - 70 Jahre Kriegsende, 60 Jahre Staatsvertrag, 50. Todestag Figls - wohl noch verfestigen wird. Denn kaum eine der Legenden, die Figl umranken, hält einer genaueren Überprüfung stand, aber sie alle überdauern die Zeitläufte, weil sie so gut zum Bild passen, das sich Österreich von sich selbst macht: Klein, aber zäh, erreichen wir unsere Ziele mit Schläue, Charme und Chuzpe. Und wenn nötig, saufen wir die anderen unter den Tisch, wie damals beim Staatsvertrag. Keine Karikatur ist hierzulande beliebter als jene von H. E. Köhler, erschienen 1955 in der Münchener Satirezeitschrift "Simplicissimus“: Julius Raab zupft als Heurigensänger die Zither und Leopold Figl rät angesichts tief gerührter Sowjets: "Und jetzt noch die, Reblaus‘ - dann sans waach.“

Tatsächlich war Figl bei den Staatsvertragsverhandlungen der Einzige, der betrunken war.

Verklärtes Bild

Vieles stimmt nicht am Bild des Mannes, der - mit Ausnahme Karl Renners - wie kein anderer die Erinnerung an Nachkriegsösterreich prägt. Der "Geist der Lagerstraße“? Ein stark überschätztes Phänomen. Figl, der Liebling der Partei? Die ÖVP ging nie sanft mit ihren Obmännern um, mit Figl verfuhr sie gnadenlos.

"Man leistet Figl keinen guten Dienst, wenn man ihn als eine Art, Lieber Augustin‘ darstellt“, meint der Historiker Helmut Wohnout, der vergangene Woche eine fein recherchierte Arbeit zum Thema "Leopold Figl und das Jahr 1945“ vorlegte (siehe Buch- und Veranstaltungstipp in der aktuellen profil-Ausgabe, Seite 43). Worauf Wohnout, ein ausgewiesener Experte für die Parteigeschichte der Christlichsozialen, hinauswill, ist angesichts der vielen Hagiografien ein kühnes Projekt: das Bild von Leopold Figl vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Das hat der Mythenkanzler verdient. Seine Ära fällt in eine für Nachgeborene schwer vorstellbare Zeit. Noch zwei Jahre nach Kriegsende, im Hungerwinter 1947, herrschten Bedingungen wie heute in afrikanischen Entwicklungsländern. Die Schulen blieben geschlossen, weil es keine Kohle gab. Die erschöpften, von Hunger geschwächten Bergleute konnten nicht mehr. 1600 Kalorien standen ihnen als Schwerstarbeiter täglich zu, benötigt hätten sie 5000.

0,5 Kilowattstunden Strom durfte ein Haushalt in diesem Winter pro Tag verbrauchen - das entspricht der Leistung einer fünf Stunden lang leuchtenden 100-Watt-Birne. Wegen des Mangels an Düngemitteln und Treibstoff wurden 1947 nur noch sieben Tonnen Kartoffeln pro Hektar geerntet. 1937 hatte ein Hektar 17 Tonnen hergegeben. Ähnlich war es beim Weizen.

In Ostösterreich waren im Kältewinter 1946/47 fast 70 Prozent der Kinder unterernährt. Von 1000 Neugeborenen starben 160 im ersten Lebensjahr (heute sind es drei). Unmittelbar nach Kriegsende war die Lage noch katastrophaler gewesen: 42 Prozent aller im Juni 1945 Geborenen starben innerhalb weniger Wochen.

Gewaltige Flüchtlingsströme zogen durchs Land. 113.000 Asylwerber musste die verarmte Republik im tristen Jahr 1947 mitverpflegen. Erst 1953 konnte wieder die Kalorienquote des ohnehin nicht üppigen Vergleichsjahres 1937 erreicht werden.

Zweitpopulärster Kanzler nach Kreisky

Um mit solchen Situationen fertigzuwerden, bedarf es außergewöhnlicher Menschen, Leopold Figl war einer von dieser Sorte. Der schmächtige Bauernsohn mit Ingenieursausbildung an der Hochschule für Bodenkultur bewältigte als Bundeskanzler die gewaltigen organisatorischen Herausforderungen der ersten Nachkriegsjahre durch völlige Hingabe. Im Landesmuseum in Sankt Pölten ist in der Sonderausstellung "Figl von Österreich“ ein Terminkalender Figls ausgestellt. Von früh bis spät empfing der Kanzler im Viertelstundentakt Beamte, Minister, Bauernführer und Hilfesuchende. An den Abenden machte er bei Einladungen und Empfängen guten Wind bei den Alliierten. Wenn Figl selbst 70 Jahre danach in Umfragen als der zweitpopulärste Kanzler nach Bruno Kreisky firmiert, ist das kein Zufall.

Um den ganzen Menschen zu erklären, ist allerdings ein Rückgriff auf die Zeit vor 1945 unerlässlich. Figl, Jahrgang 1902, ist das dritte von zehn Kindern einer Bauernfamilie im Tullnerfeld westlich von Wien. Er darf an das Gymnasium und später an die Hochschule für Bodenkultur. Schon als Jugendlicher lernt er den um elf Jahre älteren Julius Raab kennen, den Bruder eines Freundes. Raab bringt Figl zum Bauernbund und zur CV-Verbindung Norica. Der tiefkatholische Figl, der drei Mal jährlich zu einer Wallfahrt aufbricht, taucht rasch in das politische Biotop ein. 1930 heiratet er Hilde Hemala, die Tochter eines führenden christlichsozialen Gewerkschafters. Auf dem Hochzeitfoto trägt er eine "Biertonne“, die Studentenkappe des CV.

Julius Raab ist zu dieser Zeit bereits Führer der niederösterreichischen Heimwehr, einer paramilitärischen Wehrorganisation gegen die politische Linke. "Wir verwerfen den westlich-demokratischen Parlamentarismus und den Parteienstaat“, heißt es in deren Glaubensbekenntnis, dem sogenannten "Korneuburger Eid“, geschworen in einer düsteren Zeremonie im Mai 1930. Antisemitismus ist bei den Heimwehren üblich. "Frecher Saujud!“, entfährt es etwa dem Nationalratsabgeordneten Julius Raab 1930 während einer Parlamentsrede des Sozialdemokraten Otto Bauer. Figl kommandiert ab 1931 in Niederösterreich die "Ostmärkischen Sturmscharen“, eine gemäßigtere Variante der Heimwehr, die ebenfalls die Aufnahme von Juden strikt ablehnt.

"Christlich und deutsch immerdar!"

Im November 1931 legen Leopold und Hilde Figl ein Gästebuch an. Den ersten Eintrag verfasst der Hausherr selbst: "Christlich und deutsch immerdar! Mögen sich unsere Gäste wohl befinden bei deutscher Gastfreundschaft und christlicher Gesinnung.“

Der merkwürdige Kontrast zwischen überbetontem Österreichertum und pathetischer Deutschtümelei charakterisiert die ideologische Hilflosigkeit des Ständestaats und ist keineswegs eine persönliche Schrulle Figls: "Die besseren Deutschen“ wollte man sein, katholischer, geerdeter.

Als Kanzler Engelbert Dollfuß im März 1933 das Parlament auflöst, ist Figl niederösterreichischer Bauernbunddirektor. Am 12. Februar 1934 nehmen die "Ostmärkischen Sturmscharen“ an den Kämpfen in Wien teil und beschießen Gemeindebauten am Gaudenzdorfer Gürtel in Meidling.

1936 wird Figl Direktor des gesamtösterreichischen Bauernbunds.

Wie aus Aufzeichnungen des US-Geheimdienstes OSS aus dem September 1945 hervorgeht, hält Figl den autoritären Ständestaat auch in der Rückschau für keinen Fehler. Nach einem langen Gespräch mit dem danaligen Staatssekretär vermerkt der amerikanische Vernehmungsoffizier Paul Sweet: "Figl ärgert sich furchtbar darüber, dass Renner und andere führende Mitglieder von dessen Partei immer wieder über den Dollfuß-Faschismus reden. Einen solchen habe es nie gegeben, beteuert Figl., Dollfuß war ein echter Demokrat‘, sagt er.“

Dollfuß ein Demokrat? Der hätte das als Beleidigung empfunden.

Die Faust des Nationalsozialismus trifft Figl weit härter als andere Repräsentanten des Ständestaats. Kanzler Kurt Schuschnigg etwa bekommt am Gelände des KZ Sachsenhausen ein eigenes Häuschen mit Garten und Haushälterin und darf seine Familie mitnehmen. Julius Raab, letzter Handelsminister der Regierung Schuschnigg bleibt überhaupt ungeschoren und gründet in Wien ein Bauunternehmen.

In Konzentrationslagern geschunden

Leopold Figl, eigentlich ein Mann der zweiten Reihe, kommt schon mit dem ersten Transport ins Lager Dachau. Bereits auf der Bahnfahrt dorthin wüten die SS-Männer unter den Häftlingen. Im Oktober 1938 schlagen Aufseher Figl mit Ochsenziemern beinahe tot, weil er, nach seiner Herkunft befragt, Österreich angegeben hatte. Danach kommt er für 45 Tage in den Dunkelarrest, Essen gibt es nur alle vier Tage. 1943 stirbt er beinahe an Typhus. Fast sechs Jahre lang wird Figl - zwischendurch kurz entlassen - in Konzentrationslagern geschunden. Nichts wird ihn und seine Politik mehr prägen als diese Zeit.

Seine Karriere beginnt mit einem Zufall. Die eben gegründete ÖVP will den mit Figl aus dem KZ heimgekehrten Felix Hurdes als Staatssekretär ohne Portefeuille in die provisorische Regierung Renner entsenden. Hurdes lehnt ab, er ist gesundheitlich angeschlagen. Also fällt die Wahl auf den weithin unbekannten Leopold Figl. Der macht seine Sache - die Versorgung mit Lebensmitteln - so gut, dass man ihn immer weiter nach vorne holt. Im September 1945 wird er Parteiobmann. Die ÖVP als "kapitalistische“ Partei habe bei den sowjetischen Besatzern mit einem KZ-Opfer an der Spitze vielleicht bessere Karten, wird intern ein Bonus einkalkuliert.

Figl fährt einen scharfen Anti-Nazi-Kurs: Er drängt auf ein rigides Verbotsgesetz und beruft sich in einem Artikel im ÖVP-Theorieorgan "Österreichische Monatshefte“ auf "die Ideologie von 1789, die endlich die Standesunterschiede zwischen Feudalismus und Bürgertum beseitigt hat“. Für die alten Christlichsozialen war die Französische Revolution Teufelswerk gewesen.

Aber er ist auch ein Mensch in seinem Widerspruch: Wenige Wochen nach diesem Artikel versammelt er am 25. Juli 1945 ehemalige Dollfuß-Mitarbeiter in seiner Wohnung, um an dessen elftem Todestag des Putsch-Kanzlers zu gedenken. "Wir bleiben treu“, schreibt man danach ins Gästebuch.

Die Stimmung für die ÖVP ist vor den Nationalratswahlen am 25. November gut. Figl kommt an. Bei den Betriebsratswahlen in großen Wiener Betrieben (Ankerbrot und Gräf & Stift) kommen die VP-Gewerkschafter auf rund 35 Prozent. Bei den Nationalratswahlen sind es dann 49,8 Prozent.

Damit hat Figl seinen Zenit erreicht. In den folgenden Jahren geht es um das Gewinnen der Sympathien der 1945 noch von den Wahlen ausgeschlossenen 700.000 Ex-Nazis. Ein KZler ist da fast ein wenig hinderlich. Einige in der ÖVP wollten NS-Mitglieder schon 1945 wählen lassen. Figl hatte sich in der Debatte zurückgehalten, die Alliierten waren ohnehin dagegen. Als sich 1949 ÖVP-Granden in Oberweis bei Gmunden mit Exponenten der Alt-Nazis treffen, um geheim über eine gemeinsame Liste zu beraten, informieren sie Figl erst gar nicht.

Bedingunglsoser Vertreter der Großen Koalition

Der ist ein bedingungsloser Vertreter der Großen Koalition. Darin einen "Geist der Lagerstraße“ zu sehen, wäre eine Überinterpretation. Die Sozialdemokraten, mit denen Figl in der Regierung zu tun hat - Renner, Adolf Schärf, Oskar Helmer -, waren nicht im KZ. Und die Parteispitze der Ersten Republik war schon 1934 ins Ausland geflohen, Otto Bauer 1938 im Pariser Exil gestorben. Auf Figls "Prominententransport“ nach Dachau waren nur drei Sozialdemokraten: ein bald wieder entlassener Kleinfunktionär aus dem Burgenland, der Wiener Stadtrat Robert Danneberg und Schutzbundführer Alexander Eifler, die beide ermordet wurden. Franz Olah, ebenfalls Häftling in Dachau, spielte in der Politik erst später eine Rolle.

Der viel beschworene "Geist der Lagerstraße“ war eher die simple Erkenntnis, dass Erste Republik und Ständestaat nicht wirklich Erfolgsmodelle waren. Um das zu sehen, musste man nicht unbedingt im KZ gewesen sein.

Leopold Figl wird in seiner ersten Amtszeit als Kanzler immer wieder mit jüdischen Restitutionsforderungen konfrontiert, stets vorgetragen von der amerikanischen Besatzungsmacht. Figl ist selbst ein Opfer, vielleicht fehlt es ihm gerade deshalb an Empathie. Als etwa im Jänner 1947 wieder einmal eine Forderung im Ministerrat diskutiert wird, meint er: "Die Juden wollen halt rasch reiche Leute werden. Die Österreicher sind nicht so geschäftstüchtig. Richtig ist aber, dass nirgends so wenig Antisemitismus festzustellen ist wie in Österreich, und in keinem Land das Volk von einer solchen Duldsamkeit ist wie bei uns.“

Das kontrastierte etwas mit einem Vorfall, der sich einige Wochen später in Bad Ischl ereignet: Wegen der schlechten Lebensmittelversorgung marschieren Demonstranten zu einem Haus, in dem jüdische KZ-Überlebende untergebracht sind, die von amerikanischen Wohltätigkeitsorganisationen versorgt werden. Mehrere Fensterscheiben gehen zu Bruch, bevor die Gendarmerie die Demonstration auflöst und die US-Militärpolizei die Rädelsführer festnimmt.

Andere Regierungsmitglieder schlagen noch weit wildere Töne als Figl an, etwa Landwirtschaftsminister Josef Kraus (ÖVP) 1948. "Ich weiß nicht, wie gerade jetzt eine Rasse besondere Privilegien bekommen soll. Andere, die nicht weggingen, bekommen keine Unterstützung, die Juden sollen aber eine solche erhalten.“ In derselben Ministerratssitzung wird einstimmig beschlossen, die Frist für die Meldung von Ansprüchen nicht zu verlängern. Es ist der zehnte Jahrestag der November-Pogrome.

"Scheußlichkeiten jenseits unserer Grenzen ..."

An diesem Abend spricht Bundeskanzler Figl auf einer Gedenkveranstaltung der Kultusgemeinde und betont, Österreich beuge das Haupt in Trauer. Aber man dürfe niemals vergessen, "dass all diese Verbrechen und Scheußlichkeiten jenseits unserer Grenzen erdacht und organisiert wurden“.

Glaubt Figl das wirklich? Gut möglich: Er, der so viel mitgemacht hat, kann sich gar nichts anderes vorstellen. Er projiziert sein Schicksal auf das ganze Land und erteilt ihm damit die Absolution: Wir waren das erste Opfer Hitlers. Keinen Gedanken übernahmen die Massen freudiger als diesen.

Im Jänner 1952, wieder einmal geht es um Restitution, entspinnt sich im Ministerrat eine Debatte über die bis dahin noch nie gestellte Frage, wie viele österreichische Juden eigentlich von den Nazis umgebracht wurden. Nicht so viele, meint Figl: Die größten Massaker hätten erst 1942 begonnen "und da waren unsere Juden mit etwas Gepäck und einer Schiffskarte schon fort“. Sieben Jahre nach Kriegsende beschließt die Ministerrat, bei der Kultusgemeinde nachzufragen. Die Antwort - rund 60.000 - überrascht die meisten der Anwesenden.

Figl wollte nach den Wahlen von 1945 seinen Lebensmenschen Julius Raab in die Regierung holen - die Alliierten legten sich quer: Kein ehemaliger Ständestaat-Minister sollte im neuen Österreich regieren. Raab wird Klubobmann. Er war für Figl immer der "Chef“, er hatte ihn in die Politik gebracht, er hatte ihn versorgt, als er kurzzeitig aus dem KZ kam.

Der Baumeister aus Sankt Pölten dominiert bald auch die Volkspartei. "Figl hat offenbar keine Macht mehr in der ÖVP, die Partei wird ausschließlich von Raab geführt“, berichtet die Wiener US-Botschaft nach Washington.

Bei den Nationalratswahlen von 1949 verliert die ÖVP 5,7 Prozent an den erstmals kandidierenden "Verband der Unabhängigen“ (VdU), in dem sich vor allem ehemalige NS-Mitglieder sammeln. Zwei Jahre später unterliegt der schwarze Präsidentschaftskandidat Heinrich Gleissner dem roten General Theodor Körner. Und abermals zwei Jahre später, bei den Nationalratswahlen 1953, wird die SPÖ stimmen-, wenngleich nicht mandatsstärkste Partei.

Die ÖVP verlangt vom KZ-Überlebenden Leopold Figl, den VdU in die Regierung zu holen. "Figl war das in der Seele zuwider“, schreibt Bruno Kreisky in seinen Memoiren. Aber er versucht es und scheitert am "Nein“ des Bundespräsidenten.

Raab wird Kanzler, Figl Außenminister

Hinter seinem Rücken einigen sich die Parteispitzen darauf, Julius Raab zum Kanzler zu machen, Figl wird in der Sitzung des Parteivorstands davon in Kenntnis gesetzt, mehr nicht. Er nimmt Hut und Mantel und stürzt aus dem Saal. Spät am Abend wird ihn Julius Raab in der Wohnung in der Peter-Jordanstraße besuchen, um sich bei belegten Brötchen und Wein mit ihm auszusprechen.

Figl wird Außenminister. Ein Glücksfall, wie viele meinen. Tatsächlich hatte er als Kanzler ein tragfähiges Verhältnis zu allen vier Besatzungsmächten aufgebaut, man mochte ihn. Waren die denkwürdigen Moskauer Staatsvertragsverhandlungen im April 1955 womöglich wirklich so weinselig abgelaufen, wie es der Karikaturist darstellte? Mitnichten. Die in den 1970er-Jahren aufgetauchten Mitschriften von Vizekanzler Adolf Schärf geben ziemlich genau Aufschluss, wie die Dinge in Moskau abliefen.

So wollte Kanzler Raab Figl zuerst gar nicht mitnehmen, auch Kreisky könnte zu Hause bleiben. Schärf lehnte ab. In Moskau werden die Verhandlungen vor allem von Julius Raab geprägt. Während Schärf und Kreisky Vorbehalte gegen die Neutralität äußern, ist der schwarze Kanzler von Beginn an dafür.

Und Figl? Er kommt bei Schärf nicht sehr vorteilhaft weg. "20.30 Uhr, Diner an der Botschaft. Figl betrunken“, heißt es im Eintrag von 12. April; und am folgenden Tag vermerkt Schärf: "Figl ist tatsächlich betrunken und muss vor Ende der Diners zum Schlafen gebracht werden.“

Dennoch hat der Außenminister vier Wochen später in Wien seinen großen Auftritt. Politisch bedeutsamer als sein mächtiges "Österreich ist frei!“ im Marmorsaal des Belvedere ist eine Aktion am Vorabend der Unterzeichnung. Bei einer letzten Lesung des Vertrags durch die fünf Außenminister, erklärt Figl plötzlich zum blanken Entsetzen der anwesenden Diplomaten, er könne den Vertrag nicht unterschreiben, solange in der Präambel von der Mitverantwortung Österreichs für den Krieg die Rede sei. Das sei er seinen toten KZ-Kameraden schuldig. Zum Erstaunen aller stimmt Sowjetaußenminister Molotow der Streichung zu. Österreich ist frei - auch von aller Schuld.

Erst 36 Jahre später wird sich ein Bundeskanzler, Franz Vranitzky, im Parlament ausdrücklich zu dieser Mitverantwortung bekennen.

Dass er am Ende seiner Karriere Landeshauptmann in seinem geliebten Niederösterreich wird, mag Figl mit dem Umstand versöhnt haben, dass ihn sein Freund Julius Raab noch einmal opferte, nämlich 1959, als er der SPÖ nach deren Wahlsieg ein Ministerium abtreten musste. Raab entschied sich für das Außenministerium, in das nun Bruno Kreisky einzog.

Am 9. Mai 1965, die Feiern zum zehnten Jahrestag des Staatsvertrags laufen gerade an, stirbt Leopold Figl an Nierenkrebs. "Kein anderes Staatsbegräbnis war so wie dem Poldl seins“, hätten die Menschen im Spalier beim Nachhausegehen gesagt, schreiben die Zeitungen. Aber vielleicht ist das auch wieder so eine Legende.

Ausstellung

"Figl von Österreich“ Niederösterreichisches Landesmusum St. Pölten. Läuft bis 26. Oktober 2015

Neue Bücher

Helmut Wohnout: "Leopold Figl und das Jahr 1945 - Von der Todeszelle auf den Ballhausplatz.“ Residenz Verlag, 224 Seiten, EUR 21,90.

Birgit Mosser-Schuöcker: "Leopold Figl - Der Glaube an Österreich.“ Amalthea Verlag; 256 Seiten, EUR 24,95.