Lotte und Hugo Brainin: Am liebsten spricht er über ihren Widerstand gegen den Nationalsozialismus

Zeitzeuge Hugo Brainin: "Sich hüten vor den Massen"

Hugo Brainin, 93, über Flucht und Rückkehr und warum ein gewisser Anstand das Wichtigste ist im Leben.

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Lieber als über sein eigenes Leben erzählt Hugo Brainin von seinem bereits verstorbenen Bruder Norbert, der ein begnadeter Geiger war und 1947 das berühmte Amadeus-Quartett in London gründete. Am liebsten aber spricht er über seine große Liebe, seine Frau Lotte Sontag, die so krank ist, dass sie selbst nicht mehr erzählen kann. Brainin bewundert ihren Heldenmut, ihre Widerstandstätigkeit gegen die Nationalsozialisten. Sie hat Folter in Gestapo-Kellern, Auschwitz und Ravensbrück überlebt.

Im Dezember 1946 haben die beiden einander bei einer Veranstaltung der Wiener KPÖ das erste Mal gesehen. Er war ihr aufgefallen, weil er während des Vortrags eingeschlafen war und leise vor sich hin schnarchte. Lotte sei der wichtigste Mensch in seinem Leben, sagt Brainin. Spät hat Hugo Brainin angefangen, öffentlich über sich zu reden. Vor drei Wochen - im Rahmen des "Anschluss"-Jubiläums -hatte er einen Auftritt im Burgtheater. Als der kleine, zerbrechliche Mann auf die Bühne kam und Applaus aufbrandete, stoppte er ihn mit einer stolzen Handbewegung. Er sei nur Zeitzeuge, kein Schauspieler, sagte er.

Brainin entstammt einer Familie russischer Juden, die Anfang des vorigen Jahrhunderts nach Wien gekommen waren. Die Metropole der Donaumonarchie war für viele eine Verheißung von Glück, Freiheit und Entfaltung der Talente. Im Ersten Weltkrieg statteten die Brainins die Soldaten mit warmen Kappen aus. Bald produzierten sie elegante Pelzmäntel in einer Werkstätte mit 50 Angestellten. Verkauft wurde in einem nobel ausgestatteten Geschäft in der Wiener Innenstadt. Vier Familien konnten davon leben.

Beim Fußballspielen auf der Straße hörte ich oft genug: 'Saujud. Geh nach Palästina.' Das war noch lange vor der Machtergreifung der Nazis.

Brainins Vater starb 1930 an einer Blinddarmentzündung, seine Mutter im Jänner 1938 an gebrochenem Herzen. Die junge Frau war immer kränker geworden. Sie hatte das Alleinleben nicht mehr ausgehalten, meint Brainin.

Er war 13 Jahre alt und sah seine Mutter sterben. Er, sein älterer Bruder und seine jüngere Schwester lebten fortan bei Onkel und Tante.

In den ersten Märztagen des Jahres 1938, als Kanzler Kurt Schuschnigg für den 13. März eine Volksbefragung zur Eigenständigkeit Österreichs ankündigte, befanden sich zwei Onkel von Hugo Brainin in London, um dort Pelze einzukaufen. Sie setzten alle Hebel in Bewegung, um rechtzeitig in Wien zu sein und abstimmen zu können, doch die Zeit war zu kurz. Das rettete den Brainins das Leben.

"Ich hab schon als Kind gewusst: Ich bin Jude, denn als mein Vater starb, mussten mein Bruder und ich jeden Tag Kaddisch sagen, in der Früh und am Abend, ein ganzes Jahr lang. Wehe, wir sind einmal nicht erschienen. Aber auch, wenn das nicht gewesen wäre, hätte ich es mitbekommen. Beim Fußballspielen auf der Straße hörte ich oft genug: 'Saujud. Geh nach Palästina.' Das war noch lange vor der Machtergreifung der Nazis."

*Beim Fußballspielen auf der Straße hörte ich oft genug:'Saujud. Geh nach Palästina.' Das war noch lange vor der Machtergreifung der Nazis.

"Manches wurde bei uns daheim streng genommen, anderes nicht. Wir aßen zum Beispiel gern Schinken, aber aus dem Papier, sodass der Schinken den Teller nicht verunreinigen konnte."

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"Am Abend des 11. März 1938, als Schuschnigg zurücktrat, waren wir bei einer Tante in der Glockengasse eingeladen. Wir hörten im Radio: Gott solle jetzt Österreich schützen und dann den langsamen Satz von Haydns Kaiserquartett. Ich glaube, es war den Erwachsenen sofort klar, dass wir nicht in Österreich bleiben können. Als wir dann zu Fuß durch die Leopoldstadt nach Haus gingen, haben überall die Scheiben geklirrt von den eingeschlagenen Auslagen, und die Polizisten sind alle schon mit Hakenkreuzschleifen herumgerannt. Die Menschen waren in dieser Nacht wie verrückt."

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Da hab ich gesehen, wie man sich hüten muss vor den Massen.

"Als Hitler am 4. April 1938 nach Wien kam, zur Eröffnung der Ausstellung 'Der ewige Jude' in der Halle des Nordwestbahnhofs, waren überall Girlanden aufgezogen. Die Leute wurden in Lastwägen angekarrt zum Spalierstehen. Die Fenster unserer Wohnung gingen auf den Tabor. Wir haben hinuntergeschaut und gesehen, wie die Massen zusammengetrommelt werden. Da läutet es an der Tür. Draußen steht der Hausbesorger 'Darf ich bei ihnen obischauen?' Wir kennen ihn gut. Er ist ein Arbeiterturner, von Beruf Anstreicher, ein Sozialdemokrat, lieb, immer hilfsbereit. - Klar. Er kommt rein. Es klopft noch einmal an der Tür. Draußen stehen zwei Uniformierte, ganz in Schwarz, meine ersten SSler. - 'Ist das eine Judenwohnung?' Der Hausbesorger springt herbei, beruhigt sie; sagt, er sorge dafür, dass nichts hinuntergeworfen werde, die Fenster geschlossen bleiben. Dann ein Aufbrausen. Von Weitem schon hört man 'Heil, Heil, Heil. Ein Volk. Ein Reich. Ein Führer.' Hitler kommt im offenen Mercedes. Hand rauf, Hand runter. Der Hausmeister steht am Fenster. Plötzlich reißt es ihm den Arm in die Höhe und er schreit selbst:'Heil! Heil!' Bei zugemachtem Fenster! Das war für mich ein Schlüsselerlebnis. Der psychische Druck war so stark, dass es ihn mitgerissen hat. Das war ihm dann selbst sehr peinlich. Aber so war es. Da hab ich gesehen, wie man sich hüten muss vor den Massen."

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"In der 'Kristallnacht' am 9. November 1938 waren mein Bruder und ich im Tempel in der Pazmanitengasse. Kaddisch beten für die Mutter. Plötzlich Lärm, die Tür wird eingeschlagen, Männer, Jugendliche brechen durch. Sie stürmten rein, mein Bruder und ich laufen hinten raus. Sie waren besinnungslos und vollkommen enthemmt. Buben, so alt wie wir selbst, sind mit Stöcken bewaffnet alten Männern mit weißen Bärten nachgelaufen und haben auf sie eingeschlagen."

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"Als wir am 24. Dezember 1938 in London ankamen, zwei Tanten und sieben Kinder, war alles schon vorbereitet. Uns ist es wirklich gut gegangen im Vergleich zu anderen Kindern. Wir waren warm gebettet. Die Kinder von den Kindertransporten sind am Bahnhof gesessen und haben gewartet, dass sie jemand abholt. Manche haben Glück gehabt und sind zu lieben Leuten gekommen, andere nicht. Und sie waren ganz allein. Ich war anerkannter Flüchtling."

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"Die 'Brainin-Brothers' hatten sich auch in London bald etabliert. In dem sehr schönen Geschäft in der New Bond Street 99, einer Nobelstraße, habe ich ausgeholfen. bis ich Kriegsarbeit leisten musste. Ich habe den "Anti-Dühring" von Friedrich Engels gelesen und war überzeugt, dass nur der Kommunismus Gerechtigkeit in der Welt herstellen kann. Ich bewarb mich um Aufnahme in die britische kommunistische Partei, war dort aktiv, besonders an meinem Arbeitsplatz. Bald hatte ich Besuch von Scotland Yard. Sie gaben mir, auf eine sehr zivile, höfliche Art und Weise, zu verstehen, ich sei ein Sicherheitsrisiko und solle das besser bleiben lassen. Ich verstehe das heute."

Hugo Brainin kehrte 1946 nach Wien zurück. All seine Verwandten waren in London geblieben. Er war 22 und wollte in Österreich "den Sozialismus aufbauen". Doch die KPÖ ließ er bald links liegen.

Ein Vorgesetzter meinte, der Krieg habe doch etwas Gutes gehabt, ich hätte Englisch gelernt. Ich gab zurück: 'Dafür hätten nicht 50 Millionen Menschen sterben müssen.'

Die Firma der Brainins gab es in Wien nicht mehr. Sie war bald nach dem "Anschluss" liquidiert worden. Brainin fand Arbeit im Anlagen-Verkauf bei Waagner-Biro, später bei einer Bank. Das Wiederauftreten der ehemaligen Nazis machte ihm schwer zu schaffen. Und der ewige Antisemitismus.

"Die Abteilung der VÖEST, mit der ich zu tun hatte, wurde von einem Holländer geführt, der in Holland als Kriegsverbrecher galt. Der ehemalige SS-Haudegen Otto Skorzeny war der Vertreter der VÖEST in Spanien. So mancher begann zu jiddeln, wenn er mit mir zu tun hatte. Ein Vorgesetzter meinte, der Krieg habe doch etwas Gutes gehabt, ich hätte Englisch gelernt. Ich gab zurück: 'Dafür hätten nicht 50 Millionen Menschen sterben müssen.' Über einen schneidigen Vertreter wurde mir einmal sogar ein Kontakt zum berüchtigten SS-Obersturmbannführer Brunner angetragen:'Wissen S', ich war bei der SS, und der Brunner sitzt in Kairo im Ministerium und öffnet mir alle Türen. Die kann ich Ihnen auch öffnen.' Ich habe dankend abgelehnt. Gemeldet hab ich das nicht. Es war mir völlig klar, dass das keinen Sinn hat. So war die Geschäftswelt."

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"Ich habe mich nie als Opfer gefühlt. Wenn nötig, hab ich kontra gegeben. Ich glaube, ich gehe offen und ehrlich durchs Leben. Man muss einen gewissen Anstand wahren, den Menschen ein Selbstwertgefühl geben. Das ist die Erfahrung eines langen Lebens."

Christa   Zöchling

Christa Zöchling