Die Matrix Orient

profil-Reise Ägypten: Kairo ist eine der größten Städte der arabischen Welt

Ägypten. Kairo ist eine der größten Städte der arabischen Welt

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Herr Professor ist in Richtung Zukunft unterwegs. Baher Elgohary, ein kleiner Mann mit weichem Lächeln, ist so etwas wie der Grandseigneur der Kairoer Ain-Shams-Universität. Der 69-Jährige, der durch seine in den Gestus des neugierigen Gelehrten verpackte Freundlichkeit jünger wirkt, war Vize-Dekan, an deutschen und österreichischen Universitäten hatte er Gastprofessuren inne. Seit einiger Zeit leitet er das Deutschdepartement der Hochschule nahe der 6.-Oktober-Brücke, einer sich kilometerlang auf gewaltigen Betonstelzen über den Stadtkern Kairos hinwegwindenden, von einer steten Blechlawine verstopften Cityautobahn. Auf dem Weg zu seinem Büro im vierten Stock des Unigebäudes mit den vielen Stiegen und dem unverlässlichen Lift, der ein Eigenleben zu besitzen scheint, passiert Elgohary ein weithin sichtbares Wegzeichen mit der Aufschrift "Deutschabteilung“. Das Wort "Zukunft“ prangt in großen Lettern inmitten des Hinweisschilds.

Lage von Kairo in Ägypten

Sein Arbeitszimmer ist vom Mut zur Funktionalität geprägt. An der Wand hängt ein Bild mit einem Koran-Zitat, der Gebetsteppich ist über einer Holztruhe ausgebreitet, darauf ein Wählscheibentelefon mit handgeschriebenem Hinweis "008“. Ein Holzteller trägt die geschnitzte Inschrift "Pforzheim“, dazu, als erstarrte Landidylle, die Skizzen einer Tanne und eines Hauses. Auf dem Schreibtisch des Hochschullehrers lagern verteilt Stöße von Büchern, darunter "Der Sprachbrockhaus“ und ein mit "Tatsachen über Deutschland“ übertitelter Band in Giftgrün. In einer Ecke des Büros versprüht eine verdorrte Pflanze graue Tristesse. Kein Computer, kein Aktenschrank, kein Chefsessel. Im Gegenteil: Als Elgohary von seinen, wie er sagt, "Übersetzungen schöngeistiger Literatur“ ins Arabische erzählt, darunter Werke von Kafka, Franz Grillparzer, Heinrich Böll und Michael Ende, kippt der Professor samt Drehstuhl, begleitet von lautem Knacksen, wiederholt nach hinten weg. "Schleudersitz, so würde man das wohl auf Deutsch nennen“, kommentiert er die Situation freundlich lächelnd. Er reibt sich die Hände, ehe er fortsetzt. Die zeitgenössische österreichische Literatur ist Elgohary ein Begriff. In den Büchern von Handke und Jelinek seien die "Grundproblematiken des Menschseins“ abgebildet, allzu intensiv habe er sich den Werken der Austro-Moderne dennoch nicht gewidmet. "Verunsicherung und Pessimismus, all das, was das Leben fahl werden lässt, meide ich eher.“ Klassisches liegt dem Wissenschafter, der kürzlich mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet wurde, näher. Seit mehr als drei Jahrzehnten erforscht er Leben und Werk des 1774 in Graz geborenen Orientalisten und Diplomaten Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall, der unter anderem die "Märchen aus Tausendundeiner Nacht“ ins Deutsche übertrug und Goethe zu seinem "West-östlichen Diwan“ anregte.

Verbundenheit. "Der Orient beginnt am Rennweg.“ So fasst der Literaturfachmann seine Forschungstätigkeit zusammen. Was so nicht ganz stimmt - und dann doch wieder. Es war Metternich, der gesagt haben soll, dass der Balkan am Wiener Rennweg seinen Anfang nehme. Zwischen der österreichischen Literatur und Ägypten, zumal seiner Hauptstadt Kairo mit ihren geschätzten 25 Millionen Einwohnern, besteht dennoch eine enge traditionelle Verbundenheit. "Halb Österreich trifft sich in Ägypten“, betitelte 2002 ein deutsches Internetmedium launig seine Besprechung von Gerhard Roths Kairo-Roman "Der Strom“. Die wörtliche Rückübersetzung der von Baher Elgohary ins Arabische übersetzten "Unendlichen Geschichte“ lautet "Geschichte ohne Ende“.

1910 bereiste Rainer Maria Rilke Nordafrika. Tief beeindruckt berichtete er seiner Frau: "Dort ist das Dasein aus Tausendundeiner Nacht, Bettler und Lastträger gehen wie in Schicksalen umher, Allah ist groß, und es ist keine Macht außer seiner Macht in der Luft.“ Ingeborg Bachmann siedelte Teile ihres Mitte der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts entstandenen Romanfragments "Der Fall Franza“ im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum des Mittelmeerstaats an, der seit 1981 fest in Händen des autokratischen Machthabers Hosni Mubarak ist. Militär und Polizei sind in Kairo alltägliche Erscheinungen. Junge Männer mit umgebundenen Maschinengewehren und Stahlhelmen, hinter mobilen Schutzwällen verschanzt, gehören zum Stadtbild. Touristen, die in die Sultan-Hassan-Moschee aus dem 14. Jahrhundert, zu den Pyramiden im Kairoer Vorort Gizeh und in den ziegelroten Bau des Ägyptischen Museums strömen, lassen die juvenilen Wächter mit den antik aussehenden Waffen mit leerem Blick passieren. Im Garten beim Ausgang des neu eröffneten Museumsshops wirken die Ordnungshüter ebenso deplatziert wie in der prallen Sonne bei den Pharaonengräbern. Wie an falscher Stelle in die Erde gesetzte Pflanzen mit hängendem Kopf.

Zuletzt siedelten gleich vier österreichische Autoren ihre Erzählstoffe in Ägyptens Hauptstadt an. Barbara Frischmuth, als Orientalistin eine ausgewiesene Kennerin des Landes, bricht in ihrem Reiseroman "Vergiss Ägypten“ (2008) die Jahrtausende umfassende Vergangenheit der Region unbeschwert auf Zwischenmenschliches herunter. "Vergiss Ägypten, wenn du etwas über Ägypten schreiben willst“, rät darin eine Freundin der Ich-Erzählerin. "Denk lieber an Ägypter.“ Der Steirer Walter Grond wiederum verwebt in seinem Roman "Almasy“ (2002) Reales und Fiktives: Nicolas Lemden, der von den Umständen entgeisterte Held des Romans, wandelt darin auf den (historisch verbürgten) Lebensspuren des Spions und Wüstenforschers Ladislaus Almásy, dem bereits Michael Ondaatje in seinem Weltbestseller "Der englische Patient“ ein literarisches Denkmal setzte. Gleich nach seiner Ankunft in Kairo widerfährt Lemden Seltsames: "Seine Haut, seine Ohren und Augen, seine Nase und das Nervensystem tauchten in die fremde Umgebung. Sein Körper, schien ihm, war eben auf einem anderen Stern gelandet, auf der Venus, dem Planeten der Hitze. Ihm schwindelte es, seine Augen glichen einem Objektiv, das man scharf stellt und dazu mehrmals ins Unscharfe zieht.“

Die Exotik Kairos ist ein Topos, der zwischen festgefügtem, von der Realität kaum zu trennendem Klischee und echtem Erstaunen oszilliert. Während Gerhard Roth in seinem als Kriminalfall getarnten Kairo-Buch "Der Strom“ schlicht eine "fremde, verzauberte Welt“ entdeckt, erliegt Walter Grond dieser Stadt im Ausnahmezustand: "Die Matrix Orient, was für eine Gefühlsattacke.“ Sally, die Hauptfigur aus Arno Geigers Roman "Alles über Sally“ (2010), die 1977 als Botschaftsangestellte in Kairo lebt, ist von der Metropole am Nil ebenfalls gebannt: "Die herunterrauschende Dämmerung und die Rufe der Muezzins gaben den Geheimnissen der Menschenleben für wenige Minuten ein wenig Zauber, dann war es dunkel.“ Auch Barbara Frischmuth versucht, den "geheimnisvollen Orient abseits der Trampelpfade“ zu erkunden.

Lärmkulisse. Kairo ist urbanes Unruhegebiet in Permanenz, im Großen wie im Kleinen, eine Welt aus Lärm und Tumult. Auf den Märkten und in den Straßen der Stadt herrscht hektisches, für Nichteingeweihte kaum durchschaubares Treiben. Auf dem Khan-el-Khalili, dem größten Touristenbazar Kairos, umgarnen die Händler ihre Kundschaft mit nervösem Übereifer. Auf den übrigen Warenumschlagplätzen werden Besucher gekonnt ignoriert. "Die Sonne war aus Butter, die Luft erzitterte von Hupen, Fehlzündungen und Motoren ohne Schalldämpfer“, beschreibt Geiger in "Alles über Sally“ die Lärmkulisse der Stadt. Gleich zweimal vergleicht Sally im Roman ihre Heimatstadt mit Kairo: "Wien ist ein Grab.“ Gerhard Roths verzagter Protagonist Thomas Mach findet ebenfalls Schutz im Schallgewirr der Stadt: "Durch einen Schlitz sah er den dichten, mehrspurigen Straßenverkehr, staubige Palmen, Eukalyptusbäume, sandbraune Häuser und Straßenläden mit Obst und Gemüse auf den Gehsteigen. Die Abgase drangen in den Bus, und die Hupgeräusche übertönten den Motorenlärm. Thomas Mach wusste nicht, warum, aber er kam sich durch das Hupen beschützt vor.“ Der ägyptische Alltag dagegen unterliegt gewissen Regeln: Es gilt den Bewohnern etwa als unhöflich, Touristen, die nach dem Weg fragen, mit einem "Weiß ich nicht“ zu vertrösten. Jede Erkundigung zieht eine Antwort nach sich - auch wenn diese guten Gewissens frei erfunden ist. Die Zeit richtet sich hier nach dem Ungefähren: Exakte Terminvereinbarungen sind unüblich, man trifft sich gegen Abend, um die Mittagszeit, nach dem Frühstück. Pünktliches Erscheinen in privatem Rahmen kommt einem Affront gleich.

Tarek Eltayeb kennt Kairo seit Kindertagen bestens. Der Schriftsteller wurde 1959 als Sohn sudanesischer Eltern hier geboren, nahe jenem "Zuckergässchen“, das durch den ägyptischen Literaturnobelpreisträger Nagib Machfus berühmt wurde. Von der Wohnung der Familie im dritten Stock sah Eltayeb als Kind Plantagen von Mangobäumen und Wüstenstreifen, die sich kilometerlang dahinzogen. Heute erstrecken sich ringsum ein uferloses Häusermeer und ein Gewirr betonfarbener Straßen, von einer Dunstglocke überwölbt. Mit zwölf Jahren sah Eltayeb zum ersten Mal fern, viel Zeit verbrachte er unter Beduinen. Bereits als Kind wollte er Schriftsteller werden, inspiriert von seinem Vater: Der hatte die Bücher seiner Bibliothek binden und auf jeden Buchrücken den eigenen Namen prägen lassen. Am 12. Jänner 1984, dem Datum seiner Ankunft in Wien, feierte Eltayeb seinen, wie er heute sagt, zweiten Geburtstag. Seit damals pendelt der Schriftsteller, der in seiner Anfangszeit in Österreich eineinhalb Jahre als "Kronen Zeitung“-Kolporteur arbeitete, zwischen den Kontinenten, seine Romane wie "Städte ohne Dattelpalmen“ (1992) und "Das Palmenhaus“ (2007) zeugen vom Versuch, die Grenze zwischen den zwei Welten und Sprachen zu verwischen: "Ich lese genauso gerne von links nach rechts wie in meiner Muttersprache Arabisch von rechts nach links. Ich treffe mich gewissermaßen in der Mitte.“ Seine Bücher schreibt er auf Arabisch, in seinen Träumen tauchen oft deutsche Satzfetzen auf. Das war nicht immer so. In seinem Roman "Das Palmenhaus“ verarbeitete Eltayeb jenen Schock, der dem Ortswechsel von Kairo nach Wien seinerzeit folgte. "Arme Städte sind am barmherzigsten mit den Armen. Arme Städte haben keinen Reichtum, den sie vorzeigen können, sodass die Armen erst gar nicht begreifen, wie kläglich sie ihr Dasein fristen“, ist da zu lesen. "Für mich ist Wien eine gnadenlose Stadt. Die Einsamkeit hier macht frieren. Die Seele stirbt einen kalten Tod.“

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.