Wilde Mischung

Baltikum: Wilde Mischung in Riga und Tallinn

Baltikum. Barockpracht, Jugendstil, Sowjet-Kitsch in Riga und Tallinn

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Es muss Ende der 1980er-Jahre gewesen sein, in der Gorbatschow-Zeit, erinnert sich Olga Dorofejewa. Damals reiste die Historikerin nach Budapest; sie arbeitete für das Stadtmuseum in Riga, traf dort auf Kollegen. Unversehens nahm der dienstliche Aufenthalt jedoch eine so unerwartete wie vergnügliche Richtung: Überraschend fuhr die Reisegruppe nach Wien. Wenige Stunden hatten die Rigenser Museumsmitarbeiter Zeit, die Verheißungen des Westens zu bestaunen, mit wenigen Schillingen in der Tasche. Dorofejewa und ihre Kolleginnen beschlossen, die spärlich vorhandene Zeit und das wenige Geld in den Besuch eines Kaffeehauses zu investieren. "Wir saßen draußen, tranken Kaffee und haben uns erträumt, dass es solche Straßencafés eines Tages auch in Riga geben könnte“, denkt sie an den Wiener Nachmittag zurück. "Und jetzt, ein Vierteljahrhundert später, haben wir hier auch welche!“ Sie stellt das freudig fest, als machte sie in der Sekunde eine neue Entdeckung.

Olga Dorofejewa ist eine umtriebige Frau mit vielen Jobs und Hauptberuf Pensionistin. Allerdings ist sie ständig beschäftigt: Nicht nur, um an Geld zu kommen, sondern auch deshalb, weil sie sichtlich keine Ruhe geben kann - ihr Interesse an den Dingen ist einfach zu groß. Sie unterrichtet an einer privaten Design-Universität jüngere Baugeschichte, sie führt Besucher durch ihre Heimatstadt, und sie gestaltet Beiträge für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk: "Spaziergänge mit Olga“, so heißen ihre wöchentlichen Sendungen, die jeweils eine Viertelstunde dauern und die sie auf Russisch einspricht, für die vielen russischen Bürger des Landes, die noch immer kein Lettisch beherrschen. Für die Tochter eines russischen Vaters ist das kein Problem: Sie beherrscht die Sprachen perfekt, ebenso wie das Deutsche.

An einem trüben Märztag läuft sie durch die Neustadt Rigas und gibt Auskunft zum Jugendstil, einem der kulturellen und touristischen Aushängeschilder der lettischen Hauptstadt. "Es gibt hier drei Richtungen des Jugendstils: den dekorativen, den vertikalen - auch Mackintosh-Stil genannt, nach dem schottischen Architekten - und den nationalromantischen“, doziert sie, an den Fingern aufzählend. Rund 800 Gebäude sollen damals entstanden sein, ein Drittel des gesamten Bestandes in der Innenstadt. Der wirtschaftliche Aufschwung, den die Stadt Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte, schlug sich in entsprechender Bautätigkeit nieder - die wohlhabende Oberschicht ließ sich prachtvolle Wohnhäuser errichten.

Zwei Architekten prägten ganze Straßenzüge: Michail Eisenstein und Konstantins Peksens. Die Vertreter des dekorativen Stils, die einander heftige Konkurrenz bereiteten, hinterließen üppig geschmückte Häuser, deren Fassaden von stilisierten Masken, grinsenden Fratzen, fantastischem Getier, prachtvollen Kränzen, von sich windenden Karyatiden und muskulösen Atlanten überzogen sind. An einem der Häuser Eisensteins - der keinerlei künstlerisch-architektonische Ausbildung besaß, als Bauleiter für die Stadt Riga arbeitete - fällt ein zartes Frauengesicht besonders auf; angeblich stellt es Eisensteins erste Gattin, die Russin Julia Konezkaja, dar. "Michail und Julia hatten gemeinsam einen kleinen Sohn. Sie betrog ihren Mann, trennte sich von ihm und zog nach St. Petersburg, wo sie ihre Wurzeln hatte“, bedauert Olga Dorofejewa den gehörnten Eisenstein auch noch rund ein Jahrhundert später. Mit wachsender Empörung setzt sie nach: "Und ihren Sohn nahm sie nicht einmal mit! Sie ließ ihn bei Eisenstein, der sich trotz seines anstrengenden Berufs um ihn kümmerte.“ Als Frau mit Hang zum Dramatischen nähert sich Dorofejewa dem Spannungspunkt der Geschichte. "Wer der Sohn war?“ Kunstpause. Triumphierend breitet sie die Arme aus: "Sergej Eisenstein, der berühmte Filmregisseur!“ Weiter geht es im Laufschritt durch die Straßen, die Alberta iela, die Antonijas iela, die Elizabetes iela, die Strēlnieku iela.

Während die üppigen Bauten Eisensteins, den man auch den "verrückten Zuckerbäcker“ nannte, und Peksens‘ ebenso in Paris, München oder Wien stehen könnten, sind die Häuser im nationalromantischen Stil eigenwilliger - die monumentalen Fassaden, die Mauerwerke aus grob behauenen Steinquadern und die folkloristischen Schmuckelemente stehen unter dem Einfluss finnischer Architektur.

In der Vorstadt zeigt man stolz auf den Jugendstil-Overkill. Cafés werben mit Plakaten in entsprechendem Design, eine kleine Boutique gegenüber von einem der Eisenstein-Häuser lässt ihre Besucherinnen in eine versunkene Welt eintauchen: Weiß in Weiß ist der Shop - sprechender Name: Madame Bonbon - gehalten, der an eine Wohnung an die Zeit des Art Deco erinnern soll. Auf dem Bett sind Stiefel verteilt, im Bidet lagern Pumps, und in einer Vitrine stehen Sandalen zur Anprobe.

Gleich ums Eck des Souterrain-Ladens und, atypisch in dieser Gegend, in einem Gebäude jüngeren Datums untergebracht, befindet sich die Österreich-Bibliothek, als Teil der Akademischen Bibliothek der Universität Lettlands. Die Abteilung des Außenministeriums wurde 2001 eröffnet und verfügt über 3900 Bände. Hier arbeitet die Germanistin Ņina Koèetkova, schwarze Stiefel, schwarzes Kleid, eine Menge Goldschmuck. Ihr Enthusiasmus steht in krassem Widerspruch zu den finanziellen Mitteln der Institution: Nicht einmal 2000 Euro umfasst das jährliche Bücher-einkaufsbudget. Koèetkova verweist auf zwei Räume mit dicht bestückten Regalen, in denen Klassiker der österreichischen Literatur und historische Überblickswerke zu finden sind, österreichische Tageszeitungen, Ausstellungskataloge, ein Monumentalbildband über Gustav Klimt, Lyrik von Ilse Aichinger und Ernst Jandl, ein historischer Roman über die heilige Hemma von Gurk: heiteres Literaturchaos, fern von jedem Anspruch, auch nur ansatzweise einen Prosakanon zu repräsentieren. Koèetkova deutet mit großer Geste Richtung Tür: Theater-Affichen gebe es ebenfalls, in der außerhalb der zwei Räume angesiedelten Rara-Abteilung des Hauses. "Zu uns kommen Studenten, Rentner, Ärzte. All jene eben, die der deutschen Sprache mächtig sind“, erzählt sie. Sie offeriert dazu verführerisch duftende Pralinen in Rosenform. Ihren Auftrag scheint Koèetkova weit über die Vermittlung österreichischer Literatur hinaus zu begreifen. Sie organisiert Theaterinszenierungen - lud etwa den Regisseur Stefan Bruckmeier ein - und gestaltet Ausstellungen. "Wir stellten Faksimiles von Gustav Klimt aus“, sagt Koèetkova in ihrem schnellen, atemlosen Redefluss, der jeden Satz mit einem Rufzeichen zu beenden scheint: "Er ist ja ein Name hier, wegen des Jugendstils! Nicht alle Leute haben die Möglichkeit, nach Wien zu fahren!“ Sie erzählt von Konferenzen zu den Themen Sigmund Freud oder Franz Kafka: "Kafka ist sehr beliebt hier. Ein Künstler ließ sich von ihm zu Zeichnungen inspirieren!“ Und berichtet über Einladungen österreichischer Schriftsteller: "Die Kinderbuchautorin Jutta Treiber war hier! Lehrer schickten Schüler zu ihrer Lesung!“ Schließlich zählt sie die beliebtesten österreichischen Autoren in Lettland auf: Daniel Kehlmann, Johannes Mario Simmel, Leo Perutz; auf ihrem Laptop ruft sie zuletzt in die Landessprache übersetzte Bücher österreichischer Provenienz auf: Das Tagebuch von Natascha Kampusch ist ebenso darunter wie die Kindergeschichten von Thomas Brezina und die Frauenromane von Susanne Kubelka. Die Literaturklassiker - Kafka, Rilke - sind längst auf Lettisch übersetzt, auch wenn der Sprachraum mit 2,2 Millionen Native Speakers verhältnismäßig klein scheint.

Noch weniger Menschen beherrschen das Estnische. Die Bevölkerung des Nachbarlandes unterschreitet mit 1,3 Millionen Einwohnern noch jene von Wien; bloß 1,1 Millionen sprechen estnisch. Dementsprechend ist der Markt für deutschsprachige Literatur hier, vorsichtig ausgedrückt, kaum vorhanden. Geht ein Titel 500 Mal über den Ladentisch, feiern Verlage dies als großen Erfolg. Insofern stellte Kehlmanns Roman "Die Vermessung der Welt“ - der übrigens auch in Lettland ein Renner war - mit 2000 verkauften estnischen Ausgaben geradezu eine Sensation dar. Der Erfolgsautor wusste das bislang allerdings nicht zu würdigen: Der Einladung des Verlags in die Hauptstadt Tallinn erteilte der österreichisch-deutsche Starautor eine kühle Absage.

Die Übersetzerin und Universitätsdozentin Kristel Kaljund sitzt in der Bar des Hotels Savoy, an einem der zentralen Orte in Tallinns pittoreskem Zentrum. Sie übertrug Kehlmanns Werke ins Estnische. Über die Absage des Autors lacht Kaljund: "Angesichts seines Buchs ‚Ruhm’ war klar, dass er nicht kommen würde.“ In dem Text, den sie ebenfalls kürzlich übersetzt hat, schildert unter anderem ein überaus erfolgreicher Schriftsteller seine Nöte mit dem Prominentendasein.

"Kehlmann schreibt wunderbar komplizierte Sätze. Natürlich ist er nicht leicht zu übersetzen - aber was ist schon leicht? Es gibt schließlich auch Übersetzungen aus dem Chinesischen“, betont Kaljund und reißt die Augen auf. Sie amüsiert sich königlich, als sie vom Stolz der Esten auf deren Sprache erzählt, die der landläufigen Meinung nach besonders schwierig sei. "Aber welche Sprache ist das nicht?“ Dennoch: Die indirekte Rede in der "Vermessung der Welt“, durchgängiges Stilmittel des Romans, bereitete der Übersetzerin einige Probleme: "In der estnischen Sprache funktioniert das völlig anders. Es war eine echte Herausforderung, ein Äquivalent dafür zu finden.“ Mit den geologischen Fachausdrücken im Roman rang sie ebenfalls. "Mein Vater war Geologe, also setzte ich große Hoffnungen in ihn. Ich rechnete mit seiner Hilfe bei der Übersetzung von einer Stelle, an der Alexander von Humboldt in eine Mine geht.“ Kaljund lacht laut auf. "Er sagte aber bloß:, Ich habe keine Ahnung, das war doch im 18. Jahrhundert!’“ Kristel Kaljund lebt in Tallinn und München und versteht sich als "estnische Kulturbotschafterin“, wie sie betont.

Tallinn hat eine Kulturbotschafterin auch notwendig. Die 400.000 Einwohner zählende Stadt verfügt nicht nur über eine erstaunliche Dichte an Lyrikerinnen und Lyrikern - es gibt sogar eine eigene TV-Sendung zum Thema -, sondern auch über erstaunliche zeitgenössische Architektur. In der Altstadt erahnt man davon allerdings nichts. 2011, als Tallinn Europas Kulturhauptstadt war, putzte sich das Zentrum fein heraus. In sämtlichen Farben - mintgrün, altrosa, hellorange, taubenblau - erstrahlen die Ministerien und Ämter, Geburtshäuser wichtiger Persönlichkeiten, das Parlament. In mittelalterlichen Gemäuern sind heute Erlebnisrestaurants eingerichtet, auf den Plätzen tummeln sich Händler, angetan mit mittelalterlichen Kleidern und Henkersmützen, die Bernstein anbieten.

Am Scheitel des innerstädtischen Dombergs thront die Alexander-Newski-Kathedrale. Ende des 19. Jahrhunderts wurde sie den Tallinnern vom damals regierenden Zar als Machtsymbol vor die Nase gesetzt. Die Kirche sollte noch in den 1920er-Jahren niedergerissen werden - um der damals neu errungenen estnischen Unabhängigkeit Rechnung zu tragen; aufgrund fehlender finanzieller Mittel entschied man sich dagegen. Heute erstrahlt sie gemeinsam mit den sie umgebenden Bauwerken in frischem Glanz, unter einem geradezu unglaubwürdig blauen Himmel.

Der Philosoph Hermann Alexander Graf Keyserling, 1880 geboren im estnischen Kõnnu und 1946 in Innsbruck verstorben, erinnert sich in seiner posthum erschienenen Autobiografie "Reise durch die Zeit“ an das Tallinn seiner Kindheit, das damals den Namen Reval trug: "Keine meiner angeborenen und früh entwickelten Bereitschaften war auf Stadtleben und Stadtatmosphäre eingestellt, so wenig, dass bei meinem ersten Besuch in Reval — ich muss damals fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, doch heute noch sehe ich das Panorama, das mich damals erstaunte, so deutlich vor mir, als hätte ich’s gestern erst gesehen — sogar meine Fähigkeit zu perspektivischer Schau aussetzte: wie ich vom Domberg auf den Bahnhof hinabblickend zum ersten Male eine fahrende Eisenbahn gewahrte, war ich der festen Überzeugung, Lokomotive und Wagen seien nicht größer als meine Spiel-Eisenbahnen.“ Heute bezieht der Million-Dollar-View vom Domberg seinen Reiz aus seiner wilden Mischung aus Plattenbauten, Bauwerken aus der Barockzeit und dem 19. Jahrhundert, Fabriksschloten und gesichtslosen Wolkenkratzer aus der Post-Sowjet-Zeit.

Um das Tallinn der Gegenwart zu finden, muss man die Altstadt verlassen. Hier, gleich hinter der Stadtmauer, stößt man auf spektakuläre Begegnungen von Alt und Neu: Nahe dem Stadtzentrum erstreckt sich neben einem Holzhaus in dezentem Grün ein futuristischer Komplex mit schwarzen, zackenförmigen Bauteilen, und im Rotermann-Viertel besiedelt moderne Architektur ein einstiges Industriegelände. Wo früher Arbeiter in Fabriken und Lagerhallen schufteten, kann man nun Schokolade und Kleidung von Casual bis zu Designermode einkaufen; man trifft auf Kreativbüros und Sushi-Restaurants. Schwer vorstellbar, dass diese Gegend einst zu den düstersten in Tallinn zählte: So finster und heruntergekommen war es an diesem Ort, dass der russische Regisseur Andrei Tarkowski Ende der 1970er-Jahre hier seine pessimistische Science-Fiction-Parabel "Stalker“ drehte.

Der Weg durch das Gelände führt an einer alten Bautischlerei vorbei, auf die drei spektakuläre Türme aufgesetzt wurden; dahinter taucht ein Gebäude mit Rostfassade auf, hin zu Straßen mit hoch aufstrebenden Bauwerken. Am Ende gelangt man zu einem schwarzen Hochhaus auf dreieckigem Grundriss mit aufsehenerregender Außenwandgliederung. Vom höchsten Punkt des Geländes aus, mit Blick in die unmittelbare Nachbarschaft, lässt sich die einstige Erscheinung des Baus noch erahnen. Beschrieben hat das der österreichische Schriftsteller Erwin Uhrmann, mit Blick auf eine angrenzende Gegend: "Neben den Plattenburgen zogen sich riesige Lagerhallenkomplexe, mit noch größeren Zufahrtswegen und Parkplätzen, asphaltierte Wüsten mit Wasserlachen, die schon eigene Lebensräume waren aufgrund ihrer überdimensionalen Größe“. Die Plattenbauten hätten, so lässt Uhrmann seinen Ich-Erzähler reden, eine "Dichte, wie ich sie nicht einmal in Bratislava erlebt hatte“. In dem Buch "Ostseeatem“ publizierten der Niederösterreicher und sein Wiener Kollege Alexander Peer Kurzgeschichten, die unter dem Eindruck von Reisen ins Baltikum entstanden sind.

Auch das Barockschloss Kadriorg findet Erwähnung in einer von Uhrmanns Geschichten. Wer das imposante Gebäude, das Peter I. für seine Frau Katharina erbauen ließ, passiert, stößt auf ein weiteres, erstaunliches Werk estnischer Gegenwartsarchitektur. 2006 wurde mit öffentlichen Geldern ein Kunstmuseum von nahezu exorbitanten Dimensionen errichtet, das "KUMU“, ein mehrstöckiges, rasant geschwungenes Gebäude auf kreisförmigem Grundriss.

In den im KUMU ausgestellten Kunstwerken spiegelt sich die brüchige estnische Geschichte des 20. Jahrhunderts, stellvertretend für jene des gesamten Baltikums: Expressionistische Szenerien rund um den Nationalhelden Kalev und folkloristisch angehauchte Genremalereien werden abgelöst von Fabrikszenen im Stil des Sozialistischen Realismus; daneben hängen jene abstrakten Gemälde, die von ihren Schöpfern im Geheimen angefertigt wurden. Dazu: Avantgardekunst auf der Höhe ihrer Zeit. In den Gemälden und Skulpturen bildet sich der Kampf des Baltikums um nationale Eigenständigkeit ab, zu dessen Höhepunkt zweifelsohne jene Menschenkette zählt, die im August 1989 durch die baltischen Staaten gebildet wurde: Auf über 600 Kilometern Länge reichten einander die freiheitsliebenden Esten, Letten und Litauer die Hände, eine friedliche Protestgeste fantastischer Größe, eine logistische Meisterleistung. Im Vorjahr wurde der "Baltische Weg“ Vorbild für eine ähnliche Aktion der Katalanen, 400 Kilometer Länge, "Via catalana“ genannt.

Gegenüber den russischen Allmachtsfantasien ist man hier traditionell skeptisch: So erklärten sich Lettland und Estland vorvergangene Woche mit der Ukraine vor dem Hintergrund der russischen Bedrohung auf der Krim solidarisch. Und der Rigenser Regisseur Alvis Hermanis, mit einigen Arbeiten für das Burgtheater auch in Österreich kein Unbekannter, ließ eine von ihm inszenierte Aufführung in Russland platzen.

Olga Dorofejewa, die ruhelose Stadthistorikerin mit den vielen Berufen, hält wenig von der Maßnahme des Künstlers: "Das trifft doch nur die kleinen Leute, das Volk“, regt sie sich auf, während sie in einem Restaurant im Stadtzentrum von Riga Lachs mit Kartoffelpuffer isst. Ebenso wenig kann sie damit anfangen, dass die lettische Regierung überlegt, die Einreise für Russen zu erschweren. Die Beziehung zum einstigen Machthaber bleibt kompliziert. Noch 2004 ließ Alexander Peer einen seiner Protagonisten in seiner Kurzgeschichte "Über die Neigung sich in der Ferne zu verlieben“ über Riga sagen: "Dennoch kann ich es nicht nachvollziehen, wie man hier leben kann, mit sechs Monaten Winter, mit einer Tristesse als Grundbedingung, die durch noch tristere Ablenkungsstrategien (Spielhallen, Casino etc.) erst recht bewusst wird.“

Diese Feststellung ist heute ebenso wenig mehr gültig wie jenes Bild, das Krimiautor Henning Mankell Anfang der 1990er-Jahre in "Die Hunde von Riga“ von der Stadt zeichnete - als düsteres Labyrinth, das in seinem Roman noch immer von KGB-Männern beherrscht ist.

Mit dem russischen Geheimdienst hat auch Olga Dorofejewa Erfahrungen gesammelt. Empfing sie früher in ihrer Funktion als Museumsmitarbeiterin deutschsprachige Gäste, etwa aus der DDR, wurde ihr stets eine Übersetzerin beigestellt - trotz ihrer perfekten Deutschkenntnisse ließ man sie nicht übersetzen. "Wahrscheinlich war die Dolmetscherin vom KGB“, vermutet die Historikerin. Einmal, so erzählt sie, musste sie die Kollegin korrigieren. Deren arrogante Antwort: "Wie etwas übersetzt wird, bestimme ich!“ Dorofejewa zieht ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen hoch, verzieht die Mundwinkel nach unten: die Parodie einer KGB-Agentin.

Zahlreiche Bausünden zeugen unübersehbar von der Sowjetzeit - Plattenbauten an den Rändern der Städte, die Rigenser "Akademie der Wissenschaften“, nach dem Vorbild des Warschauer Kulturpalastes in neoklassizistischem Kitsch errichtet und vom Volksmund "Stalins Geburtstagstorte“ genannt, das monumentale Parlamentsgebäude Rigas. Andernorts wähnt man jene Periode zwischen 1940 und 1990, als das Baltikum kommunistisch regiert wurde, indes in weiter Ferne. In der Lounge des Rigenser Hotels Latvia, in einem französischen Restaurant in Tallinns Altstadt, das im Philippe-Starck-Prunk gehalten ist, in jenem Holzhäuser-Viertel, das zwei Brüder einst zu einem Kreativ-Hotspot umgestalteten. An Plätzen wie diesen ist ihr Traum in Erfüllung gegangen.

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Reise. Viele österreichische Autoren haben weit über die Landesgrenzen hinaus ihre biografischen und literarischen Spuren hinterlassen: Die Klagenfurter Dichterin Ingeborg Bachmann lebte und starb in Rom; der k. u. k. Literat Franz Werfel thematisierte in seinem 1933 veröffentlichten Historienepos "Die vierzig Tage des Musa Dagh“ den Völkermord an den Armeniern durch die türkischen Belagerer; die Indien-Visiten von Büchner-Preisträger Josef Winkler finden sich als literarisches Echo in dessen Werk. Nach der 2008 unternommenen Erkundung zentraler literarischer Schauplätze der Donaumonarchie und den zwischen 2010 und 2012 publizierten poetischen Spurensuchen - etwa in Tel Aviv, Kopenhagen, Kairo, Los Angeles, Costa Rica, China, Griechenland, Abu Dhabi, Rio de Janeiro und Istanbul - begibt sich profil in einer neuen Serie auf die Fährte der historischen und gegenwärtigen Spuren, die Österreichs Literatur im Ausland hinterlassen hat: unter anderem in Island, Sizilien, Kuba, der Ukraine, Südengland, Apulien und im Baltikum.

Nina   Schedlmayer

Nina Schedlmayer