Rauschen und Donnern

Kroatien: Heimito von Doderer und die Wasserfälle von Slunj

Kroatien. Wie der Romancier Heimito von Doderer die Kleinstadt Slunj literarisch verewigte

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Was einst einer beschwerlichen Reise ins Exotische gleichkam, entspricht heute einer knapp fünfstündigen Autobahnfahrt in die Mitte Europas. Die Hochzeitsreise von Robert Clayton und seiner Frau Harriet nimmt ihren Ausgang im Wien des Jahres 1877, in der Hitze eines Halbcoupés erster Klasse, in einer von Rauchschwaden erfüllten Zugabfahrtshalle des Südbahnhofs. Über den Semmering geht die Bahnfahrt nach Zagreb; nach einem zehntägigen Zwischenstopp erreichen die beiden Romanfiguren Robert und Harriet schließlich ihr Ziel: "Es sind die Wasserfälle von Slunjcica - fast mitten im Orte Slunj gelegen - eine sehenswerte Merkwürdigkeit jener Gegend." Neun Monate nach dem Eintreffen der Claytons in der kroatischen Kleinstadt wird deren Sohn Donald geboren, eine der zentralen Gestalten in Heimito von Doderers Roman "Die Wasserfälle von Slunj".


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Sterben in Schönheit. Bereits die ersten Seiten dieses 1963 publizierten Erzählkunstwerks des Schriftstellers, berühmt für seine am Reißbrett geplanten, stets ins Epische driftenden Erzähletüden ("Die Strudlhofstiege", 1951), sind von Unstetigkeit und Unruhe geprägt, Fort- und Hinwegbewegungen, sinnbildliche und tatsächliche, kommen Grundbaustoffen des Werks gleich. Die Wasserfälle, zu Beginn und am Ende des Romans prominent platziert, bilden eine Klammer, innerhalb derer sich eine Fülle von Wiener Geschichten aus der Donaumonarchie ansammelt, die in den Prostituiertenvierteln des Donaukanals ebenso angesiedelt sind wie in der großbürgerlichen Sphäre des Nobelbezirks Hietzing und in der Weite des Praters.

Anfang und Ende. Empfängnis und Tod. In den "Wasserfällen von Slunj" bereitet der Erzähler Donald in den schäumenden Kaskaden, am Umbruch vom 19. zum 20. Jahrhundert, ein tragisches Schicksal: Sterben in Schönheit, ein jähes Hinscheiden in grandioser Naturkulisse.

Heute präsentiert sich die 6000 Einwohner zählende Stadt Slunj, zwischen den Flüssen Slunjcica und Korana gelegen und durchschnitten von der verkehrsreichen Schnellstraße zum Nationalpark Plitvicer Seen, dem einstigen Drehort der "Winnetou"-Filmreihe, als ein Muster an Tristesse. Das Zentrum des Winkels, das sich erst nach entsprechenden Hinweisen der ortsansässigen Bevölkerung überhaupt als solches zu erkennen gibt, besteht aus einem im Nirgendwo situierten Warenhaus samt gegenüberliegendem Wiesenquadrat mit vereinzelten Bäumen. Inmitten der klein dimensionierten Eigenheime wirkt der Bau wie ein Mahnmal für die längst untergegangene Ära des Realsozialismus, eingehüllt vom Lärm vorbeidonnernder Schwerfahrzeuge. "Robna kucá", zu Deutsch: Einkaufshaus, prangt - als sonderbarer Gegensatz zum Grau der Umgebung - in blauer Leuchtschrift an der Fassade. Die Männer, die hier zwischen ein- und ausparkenden Autos an Wirtshaustischen Bier aus hohen Gläsern trinken, scheinen viel Zeit zu haben. Die Gespräche, die sich im Lauf endloser Nachmittage zwischen den Tischen, zwischen Stammgästen unter Sonnenschirmen, mitunter entspinnen, sind von langen Phasen des Schweigens und Trinkens und Rauchens geprägt. Mirjana Vukasinovic ist Fotografin, ihr Atelier befindet sich in einer Nische des Einkaufszentrums, wochentags ist sie mit der real existierenden Trostlosigkeit ständig konfrontiert. "Das ist der Mittelpunkt der Stadt", sagt sie. "Leider." Schuld daran, so die Fotografin, sei der Krieg.

Vor dem Krieg. Nach dem Krieg. Durch den Krieg. Sprechen die Menschen in Slunj über die Vergangenheit, beginnen ihre Sätze oft mit der Erinnerung an die Ereignisse der Jahre zwischen 1991 und 1995, als das kroatische Heer im so genannten Bürgerkrieg gegen die Armee der damaligen Republik Serbische Krajina kämpfte. Die Spuren der Kriegshandlungen sind inzwischen beseitigt, ein schlichtes Denkmal erinnert an die Opfer. An einer Art Nullpunkt befindet sich die Stadt nach wie vor. Es gibt hier eine Frau, wirres Haar, schmutzstarrende Kleidung, die bisweilen stundenlang reglos in ihrem Vorgarten steht und weint. Die Menschen im Ort sagen, sie sei wegen des Kriegs verrückt geworden.

Mit überregionaler Bekanntheit kann der Landstrich nur in Ausnahmefällen punkten: Trägt die lokale Frauenfußballmannschaft eines ihrer seltenen Spiele aus, dringt dies, regelmäßig rapportiert vom Privatsender RTL, mitunter bis ins deutschsprachige Ausland. An den berühmtesten Sohn der Kleinstadt erinnert eine verwitterte Gedächtnistafel, angebracht an dessen Geburtshaus in einer unscheinbaren Straße der aus wenigen Häusern bestehenden Altstadt: Milan Neralic, geboren 1875 in Slunj, lange Zeit Lehrer in Wien, gestorben 1918 in Wiener Neustadt, Bronzemedaillengewinner im Fechten bei den Olympischen Spielen 1900 in Paris.

Rastoke. Slunj (sprich: Slun, mit leichtem Sch-Anlaut) ist eine Region der verschärften Gegensätze. Während das Zentrum seit Jahren im Dämmerzustand verharrt und sich um den Platz vor der Kirche immer mehr Häuserruinen reihen, befindet sich einen Fußmarsch davon entfernt Rastoke, der pittoreske Ortsteil von Slunj, die Wassermühlen-Siedlung, eine Kulisse aus Postkartenmotiven. Das aus wenigen Häusern bestehende, in einer Senke angesiedelte Rastoke, das sich am Zusammenfluss der Ströme Slunjcica und Korana befindet, wird in Tourismusprospekten "Perle von Slunj" genannt: Der in wenigen Minuten zu umrundende Standort, kurioserweise in Ober- und Unter-Rastoke unterteilt, ist von Wasserfällen, Kaskaden, kleinen Seen und Stromschnellen durchzogen; die Wucht des Wasserlärms überdeckt zeitweilig jeden anderen Laut, das Rauschen und Donnern des kühlen Nasses ist unaufhörliches Hintergrundgeräusch. Die vier größten Katarakte tragen offizielle Namen (die kleineren Wasserstürze werden nach den jeweiligen Namen jener Privatanwesen benannt, auf denen sich die Stromschnellen befinden): Buk ("Lärm"), Hrvoje, Vilina Kosa ("Feenhaar") und Konjski Rep ("Pferdeschwanz"). Der Krieg hat auch hier seine Spuren hinterlassen. Im Auffangbecken der Buk-Stromschnellen, der größten ihrer Art in Slunj, liegt ein meterhoher, inzwischen dicht von Grünpflanzen überwucherter Steinbrocken. Der Felsen, der früher für einen beinah senkrechten Wasserabsturz sorgte, wurde während des Kriegs gesprengt, die Höhe des Buk-Gefälles wurde so um einige Meter dezimiert.

Nur zögerlich entdeckt der Tourismus den Ortsteil, der noch gegen Ende des 17. Jahrhunderts für seine Wassermühlen berühmt war. An einem Schober in Rastoke sind drei Plakate mit Reißzwecken angebracht, die Kolorierungen der Anschläge sehen aus, als seien sie mittels Farbkopierer vervielfältigt worden. Die über und über mit Informationen und kleinformatigen Fotos angereicherten Hinweisblätter markieren die Spannweite jener Aktivitäten, für die der Landstrich seit einiger Zeit wirbt: Ausrichtung von Hochzeiten, Wildwasserfahrten, Radtouren, Erholung vom Alltag in Gottes freier Natur. Ein Anwohner hat auf seinem Grundstück einen Marterpfahl aufgepflanzt, ein Originalrequisit aus einem der "Winnetou"-Filme. Mühlsteine lagern malerisch in Vorgärten, ein Bewohner hat sich die Bitte nach Geldspenden für einen neuen Aussichtspunkt auf einen der Wasserfälle offenbar von der Google-Übersetzungshilfe ins Deutsche übertragen lassen: "Ihrer Stifter für neue Gesichtskreis". Einige Mühlen sind nach wie vor in Betrieb, die Getreidesorten für das klassische Backwerk Proja werden hier traditionell vermahlen.

Ahnungslosigkeit. Die Keimzelle der "Wasserfälle von Slunj" war, wie Doderer in seinem Tagebuch notierte, eine großformatige historische Grafik des Orts, die eine Unmenge von Wassermühlenhäuschen inmitten von Stromschnellen zeigte. Die Wasserfälle und Ströme wirken auf der erhaltenen Radierung, perspektivisch nicht ganz korrekt, so eindrucksvoll wie riesengroß. Als man dem Schriftsteller später eine Fotografie zeigte, welche die tatsächlichen Ausmaße des Naturspektakels offenbarte, zeigte sich Doderer eher enttäuscht.

Die wenigen Touristen, die dem berühmten Ortskern von Slunj heute einen Besuch abstatten, nähern sich den Wasserläufen ungerührter, in steter Vor- und Rückwärtsbewegung: Nach der Inspektion eines Wassersturzes werden Fotos gemacht. Die für Weitwinkelaufnahmen ungeeigneten Objektive der Handykameras zwingen die Besucher, im Rückwärtsgang das Naturspektakel auf die Speicherkarte zu bannen.

Ivanka Stefanac lebt seit mehr als fünfzig Jahren in Slunj, im Zentrum von Rastoke, bei jenem Steg, der erstmals von napoleonischen Soldaten errichtet wurde. Seit einigen Jahren führt sie eine kleine Touristenpension. Ungefragt zeigt sie Besuchern ein Fotoalbum, in dem Bilder ihres im Bürgerkrieg bis auf die Grundmauern zerstörten Anwesens zu sehen sind; andere Fotos zeigen die Beschädigungen - einen meterlangen Spalt - der großen Brücke nach Plitvice. Von einem Roman namens "Die Wasserfälle von Slunj", der ihrer Region ein literarisches Denkmal setzte, hat sie noch nie gehört, ebenso wie die Tourismuschefin der Stadt, die ansässige Ordensschwester und die Betreiber der vorzüglichen Rastoke-Restaurants "Pod Rastockim Krovom" und "Petro". Die freundliche Zimmervermieterin fragt: "In Rastoke und Umgebung kann man heutzutage Fotos machen, die wirken, als ob sie einer Fabel entstammen. Erzählt dieser Roman denn ein Märchen?"

Die Ahnungslosigkeit beruht auf Gegenseitigkeit: Heimito von Doderer setzte zeitlebens nie einen Fuß in die Gegend rund um Slunj. "Ihm war plötzlich", schreibt Doderer in den "Wasserfällen von Slunj", "als sollte jetzt viel mehr noch sichtbar werden als ein bekannter Wasserfall, als ritte er einer Entschlüsselung oder Aufdeckung entgegen, ja, dem größten und eigentlichen Abenteuer seines Lebens."

Reise. Die Donaumonarchie, die vor 90 Jahren ihr Ende fand, brachte eine Vielzahl von Schriftstellern und Kaffeehausliteraten hervor, deren Romane und Erzählungen in die Weltliteratur eingegangen sind - darunter so prominente Namen wie Joseph Roth, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus, Karl Emil Franzos, Ödön von Horváth, Stefan Zweig, Franz Werfel, Arthur Schnitzler, Alfred Polgar, Peter Altenberg und Felix Salten. Zudem sind viele Werke der bedeutendsten Nachkriegsautoren untrennbar mit dem habsburgischen Mythos verknüpft - etwa Robert Musils in Etappen veröffentlichter Romantorso "Der Mann ohne Eigenschaften" (1930-1952), Heimito von Doderers narratives Großprojekt "Die Strudlhofstiege" (1951) und Gregor von Rezzoris Stadtroman "Ein Hermelin in Tschernopol" (1958). profil begibt sich in einer mehrteiligen Serie auf Spurensuche nach den Schauplätzen zentraler literarischer Arbeiten jener Zeit.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.