Unter weitem Himmel

Reise nach Danzig und das ehemalige Ostpreußen: Unter weitem Himmel

Danzig. Blechtrommel und Burgen: Unterwegs im ehemaligen Ostpreußen

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Die Wildschweine kommen in der Nacht. Aus dem angrenzenden Waldstück wagen sich die Tiere vor die Tür des Wohnblocks in der Kolberga 4 in Zoppot, einer kleinen Stadt nahe Danzig. Marek Szalsza, 46, ist das Stelldichein von Tier und Mensch nicht fremd. Als Übersetzer und Dolmetscher ist er es gewohnt, Literatur in vier Sprachen zu lesen, von den dargestellten Abgründen und Untiefen des Menschseins, sagt er, sei er seit je gefesselt. Er hat die kommunistische Propaganda erlebt und viele Jahre im Westen gelebt. Er kann lange darüber reden, in der Hand eine suppenschüsselgroße rote Tasse mit der Aufschrift "Nescafé“. Er trinkt zehn Tassen Tee am Tag, er sitzt in seinem Arbeitszimmer, trägt braune Hausschuhe und graue Socken. Szalsza hat Stücke von Peter Turrini und Franzobel ins Polnische übersetzt. Resigniert stellt er fest, dass in Polen, mit Ausnahme der Berge von Trivialprosa, wenig gelesen werde. Wenig heimische Literatur, noch weniger übersetzte. "In den Zirkeln, in denen jedoch gelesen wird, gilt Thomas Bernhard durchaus als Kultautor.“ Bernhards Theaterarbeit "Heldenplatz“, in den 1990er-Jahren von Szalszas Vater für das polnische Fernsehen inszeniert, habe mit der vom kommunistischen Regime verbreiteten Mär, Österreich sei Hitlers erstes Opfer gewesen, gründlich aufgeräumt. "Mit Ausnahme von Günter Grass ist Danzig aber keine ausgewiesene Literaturstadt, schon gar nicht für österreichische Autorinnen und Autoren.“ In Danzig lässt der Abglanz der Historie wenig Raum für anderes.


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Spricht er über seine Stadt, sagt Marek Szalsza nie Zoppot. Er wohnt in der Dreistadt: dem Ballungsraum von Danzig - das ganze Jahr über fest in der Hand Hunderttausender Touristen; der Hafenstadt Gdingen - Hauptquartier der polnischen Kriegsmarine sowie wichtiger Werfthafen; und dem Seebadeort Zoppot - einer der teuersten Städte des Landes. Szalsza wohnt mit seiner Familie seit vielen Jahren hier, er kann sich das Leben mit seiner Arbeit als Übersetzer und Dolmetscher leisten, er war die polnische Stimme von Günter Grass bei dessen vielen Besuchen in Danzig, wo der Schriftsteller 1927 im Wohnviertel Langfuhr geboren wurde. "Mit meinem dritten, noch inoffiziellen und brotlosen Beruf ist meine Frau nicht ganz einverstanden“, lacht Szalsza. In den vergangenen Jahren waren die Nächte für das Schreiben seines ersten Romans reserviert. Bald, so hofft er, wird er drei Berufe haben.

Freilichtmuseum
Danzig ist Freilichtmuseum, sichtbarer Beweis für die Wiederaufbaukunst nach 1945 - und durch die zwischen 1959 und 1963 veröffentlichte "Danziger Trilogie“ von Literaturnobelpreisträger Grass auch Günter-Grass-Stadt. Im Zweiten Weltkrieg wurde Danzig in Schutt und Asche gelegt. Spötter sagen, Danzig bestehe als Stadt aus wenigen Straßen und Plätzen - aus den von Touristen frequentierten Gassen der Altstadt, die in alt-neuem Glanz strahlen; aus dem Solidaritätsplatz mit seinem turmhohen Mahnmal für die Todesopfer der Arbeiter- und Freiheitsbewegung Solidarnosc, auf dem ein schiffstankerartiges Widerstandsmuseum mit rostigen Flanken entsteht; aus der Westerplatte in der Danziger Bucht, durch deren Beschuss am 1. September 1939, 4.45 Uhr, der Zweite Weltkrieg begann. Danzig, das jahrhundertelang unter deutschem Einfluss stand, heißt heute auf Polnisch Gdansk. Zoppot - Sopot. Gdingen - Gdynia. Für die Westerplatte gibt es bis dato kein polnisches Wort.

An Günter Grass kommt man in Danzig nicht vorbei. Man kann die Orte seiner Kindheit besichtigen: Geburtsklinik, Taufkirche, Grundschule. Auf dem Wybickiego-Platz, beim Springbrunnen und dem baufälligen Gebäude mit der "Delikatesy“-Aufschrift, sitzt Trommler Oskar Matzerath aus der "Blechtrommel“ auf einer Bank, in Eisen erstarrt, ums Eck die Imbissbude "Kebab Maxxx“. In großen Buchstaben wirbt der Stand für seinen "Donner Kebab“. Der Widerstandskampf polnischer Postler und Militärs anno 1939 gegen die deutschen Besatzer ist in der "Blechtrommel“ detailliert erzählt. Silbrig glänzt die Stachelkrone des in seinen Ausmaßen an den sozialistischen Realismus erinnernden Denkmals für den vergeblichen Widerstand vor dem ehemaligen Postgebäude in der Sonne.

Vom Gebiet am Unterlauf der Weichsel in die winterliche Stille und Weite der Masuren sind es gute drei Stunden Autofahrt, nicht selten von "Objazd“-Schildern - Umleitung - auf Nebenwege gelenkt, vorbei an mittelalterlichen Backsteinburgen, wuchtigen Gotteshäusern, die in Dörfern stehen, wo unter den Menschen dumpfe Teilnahmslosigkeit herrscht, und der Grabstätte eines Gelehrten, der das Weltbild seiner Zeit veränderte. Die alte und die neue Zeit stoßen unter dem weiten Himmel des Ostens, auf dem Weg in den Nordosten Polens, aufeinander. Im Dorf Marienburg dreht sich noch immer alles um die 1398 fertiggestellte Kreuzritterburg, einen der größten und best-erhaltenen Kastellkomplexe Europas. In der nahen Kleinstadt Frauenburg sind die Einwohner überzeugt, das Grab von Nikolaus Kopernikus zu beherbergen, der ketzerisch behauptete, die Erde drehe sich um die Sonne. Ein kleines Museum, ein eigens errichteter Turm und ein dunkelbrauner, im örtlichen Dom im Boden unter Glas versenkter Sarg mit den sterblichen Überresten erinnern an den Astronomen und Mediziner. Wie in jedem Land, das etwas auf sich hält, hat auch Polen sein Venedig. Das Nest Nikolaiken, idyllisch inmitten einer Seenlandschaft gelegen, ist ein beliebtes Urlaubsziel. Am Ortseingang, gleich bei den drei Brücken, erhebt sich eine Hotelstadt mit mehr als 1600 Zimmern, ein Palast des Massentourismus mit cremefarbenen Wänden und rotem Ziegeldach.

Flucht Richtung Danzig
Auch über den Landstrich bei Frauenburg ist die jüngere Vergangenheit erbarmungslos hinweggegangen, die Geschichte lastet schwer auf der Region: Millionen Menschen wurden im Krieg aus Ostpreußen vertrieben, Millionen aus Weißrussland, Litauen und der Slowakei nach 1945 angesiedelt. Im Januar 1945 machten sich eine halbe Million preußischer Flüchtlinge in Frauenburg über Haff und Nehrung, schmale Landzungen in der Ostsee, auf die Flucht Richtung Danzig. Die Rote Arme zerschoss die Eisdecke, Hunderttausende ertranken, erfroren in Eis und Schnee.

Jerzy Szynkowski, die Wollmütze tief in die Stirn und den Schal über das Kinn gezogen, ein rotes Buch in der Hand, stapft durch einen Wald, in dem die Natur langsam die Spuren der Geschichte tilgt. Szynkows-ki, 70, befindet sich auf vertrautem Terrain, der Aufarbeitung der historischen Geschehnisse im Forst Görlitz bei Rastenburg nahe der russischen Grenze widmet er sich seit Jahrzehnten. Er raucht gern auf seinen Touren im Wald, umgeben von Betonbrocken und Steinruinen, die von Moos und Belägen in zahllosen Grüntönen überwuchert sind, aus denen Knäuel verrosteter Stahlstangen ragen. Es scheint, als hätten Riesen die Lust an ihren graugrünen Spielzeugklötzen verloren. Szynkowski hat sein Feuerzeug vergessen, er wirkt nicht nur deswegen aufgekratzt auf seinem Weg durch die "Wolfsschanze“, Hitlers ehemaligem "Führerhauptquartier“, einem seit Kriegsende dahindämmernden Areal, das einst, getarnt und gesichert, eine Kleinstadt mit mehr als 2000 Bewohnern beherbergt hatte, eine Männerkleinstadt nahezu ohne Frauen. Hitler verbrachte von 1941 bis Ende 1944 in der "Wolfsschanze“ knapp 850 Tage, als Kriegsherr, Staatschef, Privatmann. Es gibt Fotos, auf denen der Diktator mit seinem Hund spielt, auf denen er Mussolini empfängt, die seinen Arbeitsraum im Bunker zeigen, ein Biedermannbüro, von meterdickem Beton vor Bombenangriffen geschützt. Auf anderen zeitgenössischen Aufnahmen sind Aufenthaltsräume, ein Friseursalon, die Telefonzentrale, eine Küche mit viel Personal zu sehen. Über 200 Bauten erhoben sich aus dem Waldboden, darunter sieben pyramidenähnliche Ungetüme; drei Sperrkreise wurden eingerichtet, dazu der Sondersperrkreis A, Hitlers eigentliches Revier, als Hochsicherheitstrakt. Kurz vor Ende des Weltkrieges sprengten deutsche Pioniere die Gebäude der Anlage, in der Pläne zum Zerstörungskrieg und zum Bau von Konzentrationslagern, zur Ausrottung der jüdischen und slawischen Bevölkerung entstanden waren.

Das Betontrümmerfeld im Wald ist in den Sommermonaten, sobald hier Kinder weinen und Hunde bellen, touristischer Brennpunkt. Kürzlich nahm ein österreichischer Betreiber die Anlage für die kommenden 20 Jahre in Pacht, die Besucherzahlen werden seither mit fragwürdigem Aktionismus zu steigern versucht: Im ehemaligen Bunker von Generaloberst Alfred Jodl, dem Chef des Wehrmachtsführungsstabes, können Interessierte, so das Informationsblatt in der Kantine, ihre "Fertigkeiten als Scharfschützen“ mit historischen Waffenrepliken testen. Die Walt-Disneysierung der Geschichte macht auch im ehemaligen Ostpreußen nicht halt.

Jerzy Szynkowski kennt hier jeden Stein. In dem roten Buch hat er seine Forschungsergebnisse niedergeschrieben, er verkauft es für wenig Geld. Um seinen Hals baumelt ein Plastikkärtchen mit passbildgroßem Foto und der Aufschrift "Gästebegleiter“. Er sei, sagt Szynkowski in markigem Deutsch, mit rollendem R, kein "Führer“.

Auf dem Bild auf seiner Brust ist er in sommerlichem Gewand zu sehen, der Schnurrbart noch nicht so grau wie heute, das Buch mit rotem Einband in der Hand. Seit Jahren begleitet er Touristen durch das Grundstück. Er muss sein Werk über die "Wolfsschanze“ nicht mehr aufschlagen, er kann ganze Seiten auswendig zitieren. "Es war ein buchstäblich heißer Tag“, sagt er und bleibt vor einem Steinfeld mit Denkmal und Inschrift stehen. Aus dem wollenen Guckloch zwischen Mütze und Schal dringen Atemluftwölkchen. "Hier stand die Baracke, in der am 20. Juli 1944 Claus Schenk Graf von Stauffenberg ein Attentat auf Adolf Hitler unternahm. Er und viele andere, die sich gegen die nationalsozialistische Diktatur erhoben hatten, bezahlten mit ihrem Leben.“ Es ist der Text des Mahnmals.

Endlose Zahlenreihen, Zitate und Fakten hat Szynkowski parat. 22 Personen seien an diesem Tag in dem zweieinhalb Meter breiten und sechs Meter langen Raum zur militärischen Lagebesprechung versammelt gewesen. 13 Stenografen waren ständig vor Ort beschäftigt, 51 große Kisten mit Dokumenten wurden kurz vor Kriegsende nach Berlin gebracht, das Wenigste davon ist erhalten. Viel ist die Rede von Gästebunkern, Lagerbaracken, Tarnnetzen, SS-Begleitkommandos, Notstromzentralen. Von seinen Begegnungen vor zehn Jahren an diesem Ort mit Rochus Misch, Hitlers ehemaligem Leibwächter, einem Ewiggestrigen, und den drei Söhnen Stauffenbergs 1992. Szynkowski erzählt, wie Hitler nach dem Attentat eine Schallplatte besprochen habe, deren Inhalt anderntags um 1 Uhr gesendet worden sei. Er zitiert den Text des Tonträgers als Polterrede: "Ich selbst bin völlig unverletzt bis auf ganz kleine Hautabschürfungen, Prellungen und Verbrennungen. Ich fasse es als eine Bestätigung des Auftrages der Vorsehung auf, mein Lebensziel weiter zu verfolgen, so wie ich es bisher getan habe.“ Szynkowski setzt die Tour im Wald fort, bleibt kurz stehen. "Hitler hat Wort gehalten.“ Den Ausgang der NS-Geschichte verkürzt der Hobbyforscher mit Blick auf die steinernen Relikte des Regimes und einem Wort Schillers: "Das Alte stürzt; es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen.“

Geschichte mit gutem Ende
Gern erzählt er die Geschichte von der Besuchergruppe aus Hamburg. 13 ältere Damen habe er damals durch das Areal begleitet, als eine der Touristinnen in Befehlston wissen wollte, welchen Platz am Besprechungstisch denn er, Szynkowski, am 20. Juli 1944 eingenommen habe, dem Tag des Hitler-Attentats, als Stauffenberg in einer Aktentasche die Sprengladung unter dem Kartentisch platzierte. Ganz rechts außen, antwortete der Gästebetreuer so verblüfft wie verschmitzt, er sei aber unverletzt geblieben. Die Frau habe ihn umarmt, "Gott sei Dank“ gesagt. Es ist eine Geschichte mit gutem Ende. "Es war das Süßeste, das ich hier je erlebt habe.“

Tipps und Besichtigungsrouten
Danzig ist die Stadt großer Gotteshäuser und spektakulärer gotischer Backsteinarchitektur. Stadtbesichtigungen starten idealerweise am Hohen Tor in Richtung Langer Markt - hier befinden sich in unmittelbarer Umgebung Marienkirche, Artushof, Frauengasse, Fischmarkt, Krantor, Danzig bekanntes Wahrzeichen, und Langgasse, die älteste und berühmteste Straße der Stadt. Im Goldenen Tor sind historische Aufnahmen zu sehen, welche die Langgasse nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als verwüstetes Steinmeer zeigen. Die Brigittenkirche ist das Gotteshaus der Solidarnosc während des Ausnahmezustands 1980 - mit einem Denkmal für den 1984 vom polnischen Staatssicherheitsdienst ermordeten Priester Jerzy Popieluszko. Lesetipps: Marion Gräfin Dönhoff, "Kindheit in Ostpreußen“ (Siedler); Siegfried Lenz, "So zärtlich war Suleyken“ (Hoffmann und Campe); Thomas Urban, "Von Krakau bis Danzig“ (C. H. Beck).

Reise. Viele österreichische Autoren haben weit über die Landesgrenzen hinaus ihre biografischen und literarischen Spuren hinterlassen: Die Klagenfurter Dichterin Ingeborg Bachmann lebte und starb in Rom; der k. u. k. Literat Franz Werfel thematisierte in seinem 1933 veröffentlichten Historienepos "Die vierzig Tage des Musa Dagh“ den Völkermord an den Armeniern durch die türkischen Belagerer; die Indien-Visiten von Büchner-Preisträger Josef Winkler finden sich als literarisches Echo in dessen Werk. Nach der 2008 unternommenen Erkundung zentraler literarischer Schauplätze der Donaumonarchie und den zwischen 2010 und 2012 publizierten poetischen Spurensuchen - etwa in Tel Aviv, Kopenhagen, Kairo, Los Angeles, Costa Rica, China, Griechenland, Abu Dhabi, Rio de Janeiro und Istanbul - begibt sich profil in einer neuen Serie auf die Fährte der historischen und gegenwärtigen Spuren, die Österreichs Literatur im Ausland hinterlassen hat: unter anderem in Island, Sizilien, Kuba, Venezuela, der Ukraine, Südengland und Polen.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.