Ein großherziges Land

Rio de Janeiro: Brasiliens Metropolen beeindrucken ihre Besucher

Rio de Janeiro. Brasiliens Metropolen beeindrucken ihre Besucher

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Der Maurer Geninho Eugenio de Brito ist sichtlich eine Frohnatur. Gemeinsam mit seinen Kollegen arbeitet er im letzten Wohnhaus des Schriftstellers Stefan Zweig, das derzeit in ein Museum umgewandelt wird. In brasilianischem Portugiesisch, unterstützt von raumgreifender Gestikulation, verdeutlicht er begeistert, an welcher Stelle eine Wand aufgestellt werden soll und wie die Mosaikfliesen am Boden verlegt werden.

In der kleinen Villa in der Stadt Petrópolis nahe Rio de Janeiro verbrachte der in Österreich geborene Kosmopolit Zweig die letzten zwei Jahre seines Lebens. Das Erscheinungsbild des Orts lässt mehr an Deutschland denn an Brasilien denken, wurde er doch von deutschsprachigen Einwanderern gegründet. Schon am Ortsbeginn erhebt sich ein großes Fachwerkhaus neben der Straße; und das Schloss, einst Kaisersitz, "wirkt wie das eines deutschen Duodezfürstentums, das durch eine nette Zauberei auf einen brasilianischen Berg getragen wurde“, wie Zweig in seinem Buch "Brasilien. Ein Land der Zukunft“ befand.

Nur kurze Zeit hatte er im fünftgrößten Land der Welt verbracht, als er 1941 seinen Text darüber verfasste. "Zweig hat mit seinem Buch Erstaunliches geleistet“, befindet die Journalistin und Übersetzerin Kristina Michahelles bei einem Glas Orangensaft im Botanischen Garten Rio de Janeiros. Der Einfluss von Zweigs Werk zeigte sich kürzlich bei einem Besuch Barack Obamas: Der amerikanische Präsident habe bei dieser Gelegenheit von Brasilien als einem "Land der Zukunft“ gesprochen, berichtet Michahelles amüsiert.

Sie betreibt gemeinsam mit Mitstreitern, darunter dem Journalisten und Zweig-Biografen Alberto Dines, die Casa Stefan Zweig. Ab März 2012 soll jenes Haus, an dem Geninho Eugenio de Brito mit solcher Hingabe arbeitet, für die Öffentlichkeit zugänglich sein; allerdings plane man, nicht nur das Leben Zweigs, sondern auch das jener zahlreichen anderen Exilanten, die vor dem Holocaust nach Brasilien flohen, zu vermitteln. "Schüler und Studenten sollen sich vergegenwärtigen können, was es bedeutete, im Exil zu leben“, so Michahelles.

Der Jardim Botanico, in dem die Brasilianerin über ihr intensives kulturelles Engagement erzählt, ist an diesem Sonntagnachmittag gut besucht. "Hier ist alles, was der Urwald enthält, ohne seinen Schrecken, seine Endlosigkeit, seine Unwegsamkeit, seine Gefahr“, schwärmte Zweig über diesen Ort. Trotz ihrer Gefahrlosigkeit drängt sich ständig die Natur in die Stadtlandschaft Rios; so müssen etwa fortwährend jene Hügel über- und durchquert werden, zwischen denen sich die Hochhäuser in die Höhe recken.

Erst am berühmten Zuckerhut lässt sich ansatzweise die komplizierte Struktur Rios überblicken - oder auch am Berg Corcovado mit seinem übermächtigen "Cristo Redentor“, dem segnenden Christus. "Vom Wind umbraust (…) umfasst man die ganze Vista; es ist wahrhaftig der Blick aller Blicke und doch unfotografierbar wie alles in Rio, weil zu groß in seinen Perspektiven aufgespannt“, berichtete Zweig einst vom Corcovado. Auch sein ebenfalls emigrierter Kollege Richard Katz geriet angesichts dieses Panoramas ins Schwärmen: "Da jagen die Wolken in lila Fetzen, dort flimmert das Meer in tropischer Hitze. Die Sonne versank hinter dunstenden Matten und Säcke von Wolken schluckten den Tag.“

Als paradigmatisch für die Stadt erachtete Zweig die Gegensätze, "die Kontraste von Alt und Neu, von Stadt und Natur, von Reich und Arm, von Arbeit und Schlenderei“. Heute prallen diese wohl am unmittelbarsten in der Innenstadt aufeinander: Neben Ständen mit trashigen Kleidern findet sich Überteuertes wie etwa jene Badezusätze, die eine Edeldrogerie zu horrenden Preisen offeriert. Auch zahlreiche Kunsthändler haben sich hier angesiedelt - etwa die kleine, feine Galerie "A gentil carioca“.

Trotz dichter Galerienpräsenz gilt nicht Rio, sondern São Paulo als kulturelles Zentrum Brasiliens - nicht zu Unrecht: Neben zahlreichen wichtigen Museen und der weltweit berühmten Biennale haben in der größten Stadt Brasiliens auch kleinere Initiativen wie etwa das Künstleraustauschprogramm Capacete ihren Sitz. Rafael Rg ist der Kurator des Programms und wohnt - gemeinsam mit Künstlern - im Werk einer lebenden Legende: Das spektakuläre Edificio Copan im Zentrum der Stadt wurde vom heute 104-jährigen Oscar Niemeyer entworfen. Aus purem Zufall habe er ein Apartment hier erhalten, erklärt er, schließlich sei Wohnraum in der Stadt überaus begehrt und mittlerweile auch teuer.

Nach einem Ausstellungsbummel durch die Stadt schlägt er ein Mittagessen auf dem Mercado Municipal vor. Wie überall in São Paulo drängen sich auch auf dem riesigen Markt die Menschenmassen - seltsamerweise wird niemand unfreundlich. Die brasilianische Freundlichkeit ist mehr als ein Klischee; sie wurde auch gerne von den aus Europa geflohenen Schriftstellern beschrieben. "Nicht nur ein großes, sondern auch ein großherziges Land“ sei Brasilien, notierte etwa Richard Katz.

Ebenso dicht gedrängt wie in U-Bahnen und Supermärkten geht es auch auf den Verkehrsflächen zu; alles scheint hier zu platzen. Dabei wendete man beträchtliche Mühe für die Straßenführung auf: Brücken und Unterführungen sollten einst den Verkehr flüssiger machen. Die chaotische städtische Situation beschrieb der Schriftsteller Robert Menasse, der in den achtziger Jahren an der Universität in São Paulo unterrichtete, in seinem Roman "Sinnliche Gewissheit“. So besitze die zentral gelegene Praça Roosevelt "die Konstruktion eines schlechten Romans: drei Ebenen der Handlung, aber kein Wille zur Form“. Und weiter: "Auf der unteren Ebene, die sich unter die Erde schob, brausten die Autos, um hinter dem Platz auf dem Tausendfüßler der Stelzen-Stadtautobahn aufzutauchen. Auf der mittleren Ebene befanden sich ein Postamt, Blumenkioske und ein Supermarkt, der vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet war. Auf der oberen Ebene gab es Sitzbänke, fußballspielende Kinder, ebenfalls vierundzwanzig Stunden am Tag, und ein Zirkuszelt.“

Weit entfernt vom innerstädtischen Gewühl erstreckt sich São Paulos weitläufiges Villenviertel, überdeckt von einem grünen Dach aus Bäumen. In weiter Ferne ragen die zahllosen Wolkenkratzer der hügeligen Innenstadt auf, scheinen sich immer weiter auszudehnen. "Ein Hochhaus tritt vor und neben das andere, baut sich auf wie mit herausgestreckter Brust und in die Hüften gestemmten Armen“, notierte Menasse.

Drängeln sich in São Paulo die Häuser aneinander, so scheint die Bundeshauptstadt Brasília umgekehrt über zu viel Platz zu verfügen. Vor 51 Jahren wurde das megaloman anmutende Projekt fertiggestellt, bloß fünf Jahre benötigte man dazu. Als "im Ergebnis unsicher“ erschien Katz das Projekt nur wenige Jahre nach dessen Eröffnung, als "Panthersprung ins Ungewisse“.

Freilich: Die von Oscar Niemeyer und dem Stadtplaner Lúcio Costa entworfene Stadt - sie besitzt den symbolträchtigen Grundriss eines Flugzeugs - erinnert an die Filme von Jacques Tati, der gerne die Automatisierung des modernen Alltags ironisierte. Dennoch: Als Gesamtkunstwerk vermag Brasília zu beeindrucken.

Bisweilen fühlt man sich wie in einer riesigen Architekturausstellung mit Modellen im Maßstab 1:1; die berühmte Catedral Metropolitana Nossa Senhora Aparecida scheint mit ihren schlanken Betonpfeilern fast abzuheben, nicht weniger utopisch wirken andere Gebäude der Stadt, etwa das Museum für zeitgenössische Kunst, das die Form einer Halbkugel hat, der Justizpalast mit seinen elegant geschwungenen Pfeilern, das Museum für indianische Kulturen mit seinen lamellenartig angeordneten Innenhoffenstern oder das Parlament mit seinen zwei Kugelsegmenten. Dazwischen erstrecken sich endlose, menschenleere Plätze und Straßen.

Im Herbst, zum Ende der Trockenzeit, scheint sich die Steppenlandschaft der Umgebung in die Stadt hinein zu verlängern, Bäume verdörren auf roter, staubiger Erde: Wie im weitaus chaotischeren Rio de Janeiro macht sich auch im überaus artifiziellen Brasília allerorten die Natur breit.

Nina   Schedlmayer

Nina Schedlmayer