SARUHAN OLUÇ: Der Sprecher und Abgeordnete der Kurdenpartei HDP geht davon aus, illegal überwacht zu werden.

"Die Türkei ist keine Demokratie mehr"

Saruhan Oluç, Sprecher der Kurdenpartei HDP, über die Bedeutung der Kommunalwahlen für Europa, Wahlkampf in Zeiten der Repression und den Fall des gerichtlich verfolgten österreichischen Journalisten Max Zirngast.

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Die Zentrale der Kurdenpartei HDP in Ankara, ein rotes, schmales Backsteingebäude, ist gesichert wie eine Festung. Über den Eingang ist NATO-Draht gespannt, im Gebäude müssen Besucher eine Röntgenschleuse passieren. Maßnahmen wie diese sind absolut angebracht: 2015 wurde das Haus von einem antikurdischen Mob angegriffen, zwei Stockwerke brannten aus. Laut Augenzeugen standen Polizisten daneben, ohne einzugreifen. Ähnliche Attacken gab und gibt es immer wieder auf HDP-Büros im ganzen Land. Die HDP ist die drittgrößte Partei der Türkei. 2015 zog sie mit 13 Prozent in das Parlament ein. Inzwischen ist die Euphorie jedoch verflogen. In den vergangenen drei Jahren wurden nach Angaben der HDP mehr als 12.000 Parteimitglieder festgenommen und 6000 davon zu Gefängnisstrafen verurteilt - darunter elf Abgeordnete. Auch Selahattin Demirtaş, Hoffnungsträger und Spitzenkandidat, sitzt seit mehr als zwei Jahren in Haft. Die Abgeordnete Leyla Güven wiederum wurde vor Kurzem auf freien Fuß gesetzt, nach 84 Tagen im Hungerstreik in kritischem Gesundheitszustand. "Es ist unmöglich, eine Statistik zu führen, weil es einen ständigen Wechsel gibt", sagt Saruhan Oluç. Der 61-Jährige mit weißem Bart und Nickelbrille hat in Deutschland Maschinenbau studiert und ist Abgeordneter und Sprecher der HDP.

INTERVIEW: FRANZISKA TSCHINDERLE, ANKARA

profil: Im März finden in der Türkei Kommunalwahlen statt. Warum sollte sich Europa dafür interessieren? Oluç: Die Gemeinden sind der einzige Ort, wo Erdoğan seine Macht noch nicht total ausgebaut hat. Das hat er jetzt vor. Ich glaube, dass das, was hier passiert, Einfluss auf die ganze Welt hat. Die Türkei ist ein Land, das starke wirtschaftliche, finanzielle und politische Beziehungen zu vielen mächtigen und einflussreichen Ländern der Welt unterhält. Erdoğan ist nicht nur ein Problem für uns. Er ist ein Problem für alle Demokraten auf der Welt.

profil: Ist die Türkei noch eine Demokratie? Oluç: Mit Sicherheit nicht. Ich würde die Türkei als eine autokratische One-Man-Show beschreiben, in der es keine Gewaltenteilung und Kontrollinstanzen mehr gibt. Exekutive, Legislative und Judikative wurden unter die Kontrolle eines einzigen Mannes gebracht, ebenso die Medien, die Universitäten und die Armee. Präsident Erdoğan kann das Land per Dekret regieren und durch seine Minister steuern. In der Türkei kollabiert der Rechtsstaat. Oppositionelle werden unterdrückt, Menschenrechte mit Füßen getreten.

profil: Werden Sie überwacht? Oluç: Ja, ich gehe davon aus. Eigentlich dürfte mein Telefon aber nicht abgehört werden - ich bin Abgeordneter.

profil: Wie lässt sich in diesem Klima Wahlkampf betreiben? Oluç: Wir leben in einem undemokratischen Land, und deswegen ist es schwer für eine Partei wie die HDP, Wahlkampf zu machen. Aber wir sind das gewohnt. Im Juni 2015 gab es einen schweren Bombenanschlag auf eine unserer Wahlveranstaltungen in der überwiegend von Kurden bewohnten Stadt Diyarbakır. Viele unserer Freunde sind gestorben. Zwei Tage später wählten uns die Menschen trotzdem. Jeden Tag werden Mitglieder festgenommen - Freiwillige, Wahlkämpfer, Kandidaten.

Wir machen all das, was eine Partei eben tut. Trotzdem wirft man uns vor, Terroristen zu sein.

profil: Was wirft man ihnen vor? Oluç: Die meisten sind angeklagt, Teil einer Terrororganisation zu sein oder Propaganda für eine Terrororganisation zu betreiben - meist für die PKK, aber auch für die Gülen-Bewegung. In Wahrheit sind all diese Menschen Mitglieder der HDP, einer legalen, demokratischen Partei mit 65 Abgeordneten im Parlament. Wir rufen weder zur Gewalt auf, noch sind wir in irgendwelche illegalen Aktivitäten verstrickt. Wir veranstalten Pressekonferenzen, Demonstrationen und Wahlkämpfe. Wir machen all das, was eine Partei eben tut. Trotzdem wirft man uns vor, Terroristen zu sein.

profil: Die HDP beklagt auch eine eklatante Benachteiligung in der Medienberichterstattung. Warum? Oluç: Wir stehen unter einem absurden Embargo. Ein Beispiel: Jede Woche sprechen die Vorsitzenden der fünf Parteien im Parlament. Alle Reden werden im Fernsehen übertragen, nur unsere nicht -nicht einmal von den staatlichen Sendern, die eigentlich dazu verpflichtet sind. Selbst wenn ein Journalist mutig genug wäre, uns zu interviewen, würde das Interview nicht gedruckt. Die Regierung hat die Berichterstattung über die HDP eingedämmt. Es gibt zwar kleine Fernsehsender und Zeitungen, die mit uns reden, aber sie kämpfen ums Überleben. Deswegen kommunizieren wir vorwiegend über Social Media.

profil: Sie haben 70.000 Follower auf Twitter. Wie frei können Sie dort Ihre Meinung verbreiten? Oluç: Alles, was ich Ihnen sage, sage ich auch auf Diskussionspodien und im Parlament. Wir können uns nicht selbst zensieren. Sonst gibt es keine Chance, dieses Regime zu ändern. Erdoğan ist wütend auf uns, weil wir nie aufgehört haben, eine demokratische Opposition zu sein. Viele von uns haben Gerichtsverhandlungen am Hals. Einige davon können in Gefängnisstrafen münden. Aber das hält uns nicht davon ab, die Wahrheit auszusprechen. Wir lassen uns von Erdoğan nicht kleinmachen. Wir machen weiter.

Die Türkei könnte Österreich dazu auffordern, Oppositionelle im Inland stärker zu verfolgen.

profil: Der österreichische Journalist Max Zirngast wurde unlängst aus einem Gefängnis in Ankara entlassen. Nun wartet er auf seine Gerichtsverhandlung, die am 11. April beginnen soll. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Die Außenministerin fordert einen "fairen Prozess". Kann Zirngast damit rechnen? Oluç: Unmöglich! Die türkische Regierung verhaftet Ausländer und nutzt sie als politische Geiseln. Sie sind Trumpfkarten, um europäischen Ländern etwas abzupressen. Während Deniz Yücel (der Türkei-Korrespondent der deutschen Tageszeitung "Welt", Anm.) im Gefängnis saß, musste Deutschland eine Reihe von Kompromissen eingehen, Handelsverträge beispielsweise, so wie die USA im Fall von Pastor Andrew Brunson. Die türkische Regierung will Deals. Sie sollten Ihrer Ministerin ausrichten, dass sie über Kompromisse nachdenken sollte, wenn sie Zirngast freibekommen will. Sonst hat er null Chancen auf einen fairen Prozess.

profil: Welchen Deal könnte Österreich der Türkei anbieten? Oluç: Österreich ist in der Europäischen Union. Es gibt also sehr vieles, was die Türkei von Österreich fordern könnte. Die Türkei steckt in einer Wirtschaftskrise und braucht Handelsverträge und Investments. Aber nicht nur das: Die Türkei könnte Österreich dazu auffordern, Oppositionelle im Inland stärker zu verfolgen.

profil: Friedrich Forsthuber, Präsident des Wiener Landesgerichts für Strafsachen, sagt: "Die Türkei ist in ein Stadium eingetreten, in dem die Unabhängigkeit der Rechtsprechung völlig beseitigt wurde." Ist es tatsächlich so schlimm? Oluç: Natürlich gibt es Richter und Staatsanwälte, die sich noch an internationales Recht halten. Aber die meisten stehen unter großem Druck. Wenn Richter die Freilassung eines HDP-Parteimitglieds anordnen, schickt man sie ins Exil. Sie werden aus den großen Städten wie Izmir, Ankara und Istanbul abgezogen und in eine abgelegene Region versetzt. Ihnen wird Autorität entzogen, was einer Bestrafung gleichkommt. Unter diesem Druck ist es schwer, ein rechtskonformes Urteil zu erwarten.

profil: Es gab eine Zeit, in der sich ausländische Journalisten in der Türkei sicher fühlten. Es hieß, man werde höchstens deportiert. Ist das heute anders? Oluç: Eines steht fest: Die Türkei hat sich zum größten Gefängnis für Journalisten auf der Welt gewandelt. In den vergangenen Jahren zog es die Regierung vor, ausländische Journalisten einzusperren, statt sie nur abzuschieben. In einigen Fällen veröffentlichten regierungsnahe Zeitungen ihre Namen und Fotos, um ihnen Angst zu machen. Diese Journalisten verlassen dann freiwillig das Land -wobei "freiwillig" das falsche Wort ist, weil sie ja dazu gezwungen und gedrängt wurden. Die guten alten Tage, in denen ausländische Journalisten nur abgeschoben wurden, sind vorbei.

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