Ingrid Brodnig

#brodnig: Fünf Lehren aus Halle

Was sagt der rechtsterroristische Anschlag über Radikalisierung im Internet aus?

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In Deutschland ist vor einigen Tagen ein Attentäter an einer Holztür gescheitert, die ihm den Weg zur Synagoge in Halle versperrte. Der junge Mann hatte selbst gebaute Schusswaffen und Sprengsätze dabei. Diese waren jedoch so unzuverlässig, dass es ihm nicht gelang, die Tür zur Synagoge aufzuschießen oder aufzusprengen. Trotzdem waren seine Waffen gefährlich genug, dass er damit zwei Menschen in Halle ermorden konnte: eine Passantin und einen Mann in einem Dönerladen. Seit diesem versuchten Terroranschlag auf eine Synagoge wird in Deutschland auch darüber diskutiert, dass sich der Täter anscheinend im Netz selbst radikalisierte. Tatsächlich sagt Halle einiges über die Online-Strategien von Extremisten aus:

1.) Judenhass floriert im Netz

Auf zwei Ebenen kann man sehen, dass Antisemitismus online virulent ist: Selbst im Mainstream der digitalen Debatte, in Zeitungsforen wie jenen von "Spiegel", "Welt" oder "Focus", haben sich antisemitische Postings mehr als verdreifacht. Zu diesem Ergebnis kam eine Untersuchung der Forscherin Monika Schwarz-Friesel von der TU Berlin. Hatte sie bei einzelnen politischen Debatten im Jahr 2007 noch 7,51 Prozent antisemitische Kommentare gemessen, waren es 2017 30,18 Prozent. Hinzu kommt, dass es besonders dunkle Winkel des Internets gibt - Sites wie 4Chan, bei denen sich Antisemiten, Rassisten, Sexisten vernetzen und Attentäter oft als Helden feiern. In der Szene war der Täter aus Halle anscheinend aktiv. Er wird derzeit auf 4Chan allerdings eher nicht gelobt, sondern als Loser abgestempelt - weil es ihm nicht gelang, in die Synagoge einzudringen und Juden zu ermorden.

2.) Extremismus verändert sich

Statt sich in klassischen Neonazi-Gruppen zu organisieren, spielen Online-Netzwerke eine immer größere Rolle. Der Attentäter von Halle scheint von Judenhass geprägt zu sein, der auch in einschlägigen Communitys kultiviert wird. So werden gehässige Bilder und Witze über Juden gepostet, es wird angeregt, alle Juden gehören vernichtet, und die These der zionistischen Weltverschwörung perpetuiert. In Communitys wie 4Chan (oder dem mittlerweile eingestellten 8Chan) sind ebenfalls Hass auf Muslime sowie Frauenfeindlichkeit weit verbreitet. Auch dazu gab es rechtsterroristische Attentate. Im kalifornischen Ort Isla Vista tötete zum Beispiel 2014 ein junger Mann sechs Menschen - im Netz hatte er zuvor seinen Hass auf Frauen genährt. Im März 2019 ermordete der Attentäter in Christchurch 51 Menschen in zwei Moscheen. Es ist höchstwahrscheinlich nur ein extrem kleiner Teil der Bevölkerung, der solch radikale Ideen im Netz mitliest. Aber die Gefahr besteht, dass Einzelne von ihnen zur Tat schreiten.

3.) Terroristen zitieren die Jugendkultur

Eine der Parallelen zwischen islamistischem und rechtsextremem Terror ist, dass sie gerne Teile der digitalen Jugendkultur nutzen. Der deutsche Innenminister Horst Seehofer meinte nun, dass viele Täter "aus der Gamerszene" kämen. Diese pauschale Aussage erntete enorme Kritik, da natürlich der absolute Großteil der Videospieler ganz normale Bürger sind. Die Gamingszene ist auch keine homogene Szene. Etwas differenzierter kann man aber sagen: Extremisten versuchen, mittels Videospielkultur cool zu wirken. Der Täter von Halle listete in einem Dokument "Achievements" auf, die er mit der Ermordung von Juden erreichen wollte (ähnlich wie "Achievements", die man in Videospielen erzielen kann). Der IS warb wiederum damit, dass man als Islamist ähnliche Dinge anrichten könne wie in Videospielen - und zeigte dabei Ausschnitte aus dem Gangster-Epos "GTA" her (ich selbst spiele "GTA" und habe keinen Hang zu Islamismus oder Rechtsterrorismus). Extremisten wollen auf diese Weise wohl niederschwellig junge Männer ansprechen.

4.) Terroristen setzen auf uns alle

Bei den Attentaten in Isla Vista, Christchurch, Halle luden die Attentäter krude Erklärungen hoch. Das tun sie wohl auch, um Aufmerksamkeit für ihre Ideologie zu erhaschen -passend zu Georg Francks These der "Ökonomie der Aufmerksamkeit". Im Magazin "brand eins" sagte Franck einmal: "Ein Terroranschlag ist auch ein Akt öffentlicher Kommunikation. Es geht Terroristen darum, möglichst große Aufmerksamkeit zu erzwingen. Ich meine das nicht zynisch, aber Terroranschläge sind auch so etwas wie Marketingmaßnahmen für eine menschenverachtende Ideologie." Dementsprechend raten Experten Medien häufig, vorsichtig zu sein, wenn sie über "Manifeste" der Attentäter berichten, und diese nicht breit zu zitieren, sondern die menschenfeindliche Einstellung als solche einzuordnen.

5.) Doch: Der Antisemitismus ist real

Wer vor Judenhass warnt, wird mitunter belächelt. Etwa hat es Philosoph Peter Sloterdijk im Sommer als alarmistisch dargestellt, dass ein "Ansteigen des Antisemitismus" in Deutschland beklagt werde. Fachleute sehen das anders: Schon vor einem Jahr soll das deutsche Bundeskrimimalamt vor einem rechtsextremen Anschlag wie in Halle gewarnt haben. Auch fordern laut "Bild am Sonntag" die Sicherheitsbehörden nach mehr Ermittlern, die sie nur zum Teil bekommen. In Schleswig-Holstein beantragte der Verfassungsschutz 30 Mitarbeiter, erhielt 20 - und nur drei von ihnen arbeiten im Bereich Rechtsextremismus. Halle macht deutlich: Es braucht auch einen Verfassungsschutz, der genügend Personal hat, die rechtsextreme Szene im Netz genau zu beobachten.

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Ingrid   Brodnig

Ingrid Brodnig

ist Kolumnistin des Nachrichtenmagazin profil. Ihr Schwerpunkt ist die Digitalisierung und wie sich diese auf uns alle auswirkt.