Sind Musikfestivals am Ende?

Coachella: Ein Festival durch die Selfielinse

Um Musik geht es bei aktuellen Großevents nur noch am Rande.

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Der erste Eindruck ist durchaus überwältigend. Das kalifornische Coachella Valley, gut zwei Autostunden von der US-Westküstenmetropole Los Angeles entfernt, zeigt sich gerade im Frühling von seiner schönsten Seite. Blühende Kakteen, weitwinkeltaugliche Fotokulisse, Windräder soweit das Auge reicht, dazu Palmen, bestes Party-Wetter und eine Abendsonne, die jeden Instagram-Filter alt aussehen lässt.

Jedes Jahr im April findet hier in der kalifornischen Wüste der Startschuss zur internationalen Musikfestivalsaison statt. Das Coachella-Festival, bekannt aus Klatschzeitschriften, Mode- und Musik-Blogs, öffnet an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden die Pforten. In der Wüstenstadt Indio, nur wenige Kilometer von Palm Springs und dem Joshua Tree Nationalpark entfernt, findet sich die internationale Pop- und Alternativ-Prominenz ein, um den Traum von Peace, Love und Rock’n’Roll ein Stückchen näher zu kommen – und Millionen schauen am Smartphone zu.

Coachella, das steht für schöne Menschen, Freiluft-Modeschau und gute Musik. Dank Social Media ist das Wüstenfestival zu einem globalen Gesellschaftsereignis geworden, vor allem für die Jungen, Reichen und Digitalen dieser Welt. Schon Wochen, nein Monate vorher quellen Kanäle wie YouTube und Instagram über. Mode- und Schminktipps werden ausgetauscht und der Frage nachgegangen, wie man bei der teils extremen Wüstenhitze drei Tage wach bleibt und dabei auch noch gut aussieht. Anders gesagt: Was Woodstock ohne Schlamm, ist Coachella ohne Hashtag.

Der Reiz liegt für die Besucher vorrangig darin, Teil des größten Freiluft-Laufsteges der westlichen Pop-Hemisphäre zu werden. Der neue Rock’n’Roll spiegelt sich vor allem auf dem Fotodienst Instagram wider. Motto: Rocken, um sich dabei selbst zu fotografieren. Der nächste Instagram-Spot ist immer nur eine Armlänge weit entfern; das Riesenrad beim Eingang, überdimensionale Kunstinstallationen und bunte Luftballonketten bis zum Himmel. Kein Wunder, dass sich bei so viel Hang zur Selbstinszenierung auch jedes Jahr eine Riege an A- bis C-Promis im Publikum blicken lässt; Hubschrauber-Shuttle und VIP-Packages inklusive. Miesepetrig könnte man anmerken: Wenn Musikfestivals früher ein Ort waren, an dem man als Normalo ein paar Tage lang das wilde Rockstarleben zelebrieren durfte, gibt es heute Yoga und Pilates am sauberen Zeltplatz (Mülltrennung inklusive), statt Dosenravioli wird eine Holzofenpizza gebacken, die jeden neapolitanischen Hipster vor Neid erblassen lässt.

Das Coachella Valley Music and Arts Festival, 1999 gegründet, steht schon lange nicht mehr bloß für zwei Wochenenden voller Popmusik. Das lässt allein die zur Schau getragene Garderobe der jungen Gäste erahnen. Band-T-Shirts, bei vergleichbaren Events seit Jahrzehnten fixer Bestandteil der Abgrenzungsroutine von Auskennern gegenüber Nichtauskennern, werden hier kaum zur Distinktion erhoben. Die Musik dient hier als Mittel zum Zweck, als Hintergrundwummern für den Partymodus.

Auch in Sachen Individualismus verlässt sich der Coachella-Besucher lieber auf Modeblogs und –ketten, die in den umliegenden, wohltemperierten Shopping-Malls auch gleich das passende Outfit präsentieren. Die Hippies von heute tragen Haarkranz, dazu Neunziger-Jahre-Klamotten, das Smartphone immer im Anschlag. Hosen und Röcke sind zumindest 2017 schwer überbewertet. Es lebe die Netzstrumpfhose. Soviel ist sicher.

Wer jetzt denkt, dass früher ohnehin alles besser war, der täuscht sich. Auch Kulturpessimisten werden beim Coachella ihre Freude haben. Geboten werden Pop-Perlen von Hip (wie Bon Iver und Father John Misty) bis Oldschool (wie New Order und Guided by Voices). Als Headliner dürfen Künstler wie Radiohead, Lady Gaga (die heuer Beyoncé vertrat) und Kendrick Lamar über das Wesen von Popmusik im Jahr 2017 sinnieren. Da kann man nicht viel falsch machen.

Die musikalische DNA des Festivals besteht eben darin, dass es keine hat. Eine Differenzierung von Subkultur und Mainstream, bei Genrefestivals noch forciert, findet hier nicht statt. Die Organisatoren, allen voran Mastermind Paul Tollett, dürfte das ähnlich sehen. Gespielt wird, was sich auf den Spotify-Playlists der 16- bis 25-Jährigen so aneinanderreiht.

Neben dem bekannten Musikfestival ist das kalifornische Coachella Valley vor allem für eines bekannt: Golf-Plätze und glamouröse Polo-Spiele. An einem normalen Wochenende wird hier, am Gelände des Empire Polo Clubs, der Maserati spazieren gefahren.

Das Coachella Festival ist das dazu passende, musikalische Pendant – der Luxusschlitten unter den Festivals. Mit Rock’n’Roll hat das nur wenig zu tun.

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Seit 2009 Redakteur bei profil. Hat ein Herz für Podcasts, Popkultur und Basketball.