Kino-Weltreisegedicht

Michael Glawoggers "Untitled": Sehnsucht nach Unruhe

Michael Glawoggers "Untitled": Sehnsucht nach Unruhe

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Einen "Film ohne Namen“ hatte Michael Glawogger im Sinn, als er im Dezember 2013 aufbrach, um sein Opus Magnum herzustellen, einen Dokumentarfilm ohne vorgegebenes Thema und Ziel - ein Jahr lang einfach drehen, was einem ins Auge springt, das Interesse eines Reisenden erregt, der mit offenem Herzen und wachen Sinnen durch die Welt reist. Glawogger hatte kein Jahr mehr. Im April 2014 starb er, erst 54-jährig, an einer Malaria-Erkrankung in Liberia, wo er mit seinem kleinen Team Station gemacht hatte. Die Frage, was mit dem Material geschehen sollte, das er bis dahin gedreht hatte, blieb vorerst offen.

Schließlich entschied die Produktion, dass die Cutterin Monika Willi jene 70 Stunden Film, die Glawogger hinterlassen hatte, ordnen und bearbeiten sollte. Sie war die beste denkbare Wahl: Niemand kannte die Ideen und Methoden des Filmemachers genauer als sie, die bereits "Workingman’s Death“ (2005) und "Whores’ Glory“ (2011) geschnitten hatte.

Wochenlange Schockstarre

Über drei Jahre lang erstreckte sich die Arbeit an "Untitled“: von den ersten konzeptuellen Überlegungen noch gemeinsam mit Glawogger bis ans Ende jenes einsamen Langstreckenlaufs, der die Verdichtung des Rohmaterials bedeutete. Am 13. Februar wird "Untitled“ nun in der Panorama-Schiene der Filmfestspiele Berlin zur Uraufführung kommen. "Die Frage, ob Michael das so oder wenigstens so ähnlich gemacht hätte“, sagt Monika Willi, "bleibt Spekulation. Ein paar Dinge zur Planung konnten wir Anfang 2014 noch besprechen, aber in den meisten ästhetischen Fragen waren wir zum Zeitpunkt seines Todes natürlich weit entfernt davon, Entscheidungen getroffen zu haben. Mir blieb also nur, mich der Herausforderung zu stellen. Ich zögerte aber. Dann sagten alle, ich sollte es doch einfach so machen wie immer - und zu schneiden beginnen. Theoretisch meint man das zu können, aber praktisch versetzte es mich zunächst in eine wochenlange Schockstarre.“ Es sei nämlich etwas "fundamental anderes, am Schneidetisch für einen Regisseur zu arbeiten, der dann auch mal vorbeischaut und einem Feedback gibt - oder zu wissen, dass der nicht mehr kommen wird, dass man das alles selbst zu Ende führen muss. Also musste ich mich auch davon befreien, einen Glawogger-Film machen zu wollen, ich war gezwungen, ihn zu meinem eigenen zu machen. Das war ein langer, sehr schmerzhafter Prozess.“

Die quälendste Frage sei jene gewesen, "ob ich es mir überhaupt anmaßen soll, dieses Material frei zu bearbeiten - und eine Zeit lang zweifelte ich auch daran, dass aus den Bildern eines abgebrochenen Projekts überhaupt ein echter Film, etwas Ganzes entstehen kann, das ja nur aus Szenen aus West- und Nordwestafrika, vom Balkan und aus Italien konstruiert werden konnte.“

Glawogger selbst ist präsent in "Untitled“, aber kaum wahrnehmbar, wie ein Phantom: An einer Stelle ist seine Stimme zu hören, und seine literarischen Texte begleiten die Bilder, komplizieren und fiktionalisieren sie - denn auch in Dokumentarfilmen sind Utopien und Phantastereien zulässig. Und ganz kurz kann man Glawogger gleich anfangs sehen, wie er für die Aufnahmen einen Schwarm Vögel aufscheucht, der sich in einem Feld versteckt hat. Am Ende kehrt die Montage zu deren Himmelstanz zurück. Ein Film, der nie zur Ruhe kommt, davon hat der Filmemacher geträumt. "Untitled“ ist die Umsetzung dieser Sehnsucht: Michael Glawogger erscheint für immer in diesem Material geborgen, aufgehoben in der Endlosschleife seiner letzten Reise.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.