Vom herben Charme der Industrie

Oberösterreich vor der Wahl: Vom herben Charme der Industrie

Oberösterreich zwischen Start-ups, Gurkerlfliegern, unbekannten Weltmeistern und abgehängten Arbeitern: Eine Reise entlang der Westbahnstrecke mit Abstechern.

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In drei Jahrzehnten hat viel Veränderung zum Guten und weniger Guten Platz. Was gibt es im Bundesland, in dem man aufgewachsen ist, zu entdecken? Die Reise führt entlang der Westbahnstrecke, die über weite Teile nahe an der A1 und der Bundesstraße bleibt. Das Bündel an Verkehrswegen schneidet Oberösterreich entzwei, verschaffte seinem Zentralraum aber eine florierende Wirtschaft. Das zog Menschen an. Bauern wurden zu Fabrikarbeitern. Weizen- und Maisfelder wichen Lagerhallen, Fliesenmärkten und Möbelhäusern.

Ausgangspunkt der Reise ist Linz, der Stahlmoloch an der Donau, der sich zur Kulturstadt entwickelt hat. Immer noch sorgt die Voest für 10.000 Arbeitsplätze und Zehntausende Zulieferjobs; daneben aber entwickelt sich eine kleine, selbstbewusste Start-up-Szene. Die Tour mündet in den Eisenbahn-Knotenpunkt Attnang-Puchheim, den Helmut Qualtinger in seinem "Bundesbahnblues“ besang. Dazwischen liegt Gunskirchen, ein ehemaliges Bauerndorf, das zum Industrieort wurde. Hier bin ich in die Volksschule gegangen. Abstecher führen an den Attersee und nach Eferding, ins Eldorado der Erdbeerpflanzer und Gurkerlbauern. Anfang und Ende lassen sich verknüpfen: Der Stopp in Linz gilt zwei Eferdingern aus der Gründerszene; in Eferding wiederum lebt ein Voest-Arbeiter mit einer beinahe klassischen Laufbahn.

Erste Station, Linz, Tabakfabrik. "Tschickbude“ nannten die Linzer die Fabrik der Austria Tabak. Als 2009 die Zigarettenerzeugung nach 160 Jahren zusperrte, gingen 284 Jobs verloren. Nun arbeiten hier wieder 700 Menschen. Für Chris Müller, Direktor für Entwicklung und künstlerische Agenden, steht das Areal im Zeichen einer "großen Vision, in der es um die Zukunft der Arbeit geht“. 203.000 Einwohner hat Linz, und 215.000 Arbeitsplätze. Die Stadt muss wachsen, um mit innovativen, mittleren Metropolen in Europa mitzuhalten. Die Helden, von denen Müller berichtet, sind Gründer, die in der Tabakfabrik offene Büros und ein gedeihliches Netzwerker-Milieu vorfinden. Dass Erfolge Schatten werfen, weiß er: "Die Stadt saugt Leute ab, die in der Provinz fehlen.“ Und wie wenig kreative Arbeitsplätze den Abgehängten nützen, zeigt sich regelmäßig bei Wahlen. Der einst tiefrote Linzer Arbeiterbezirk Franckviertel etwa ist inzwischen blau.

Die Brüder Peter, 29, und Klaus, 26, wuchsen in Eferding auf und hören auf den uroberösterreichischen Nachnamen Buchroithner. 2006 eröffnete der Ältere im Ort ein Skater-Geschäft, das der Jüngere ein paar Jahre später übernahm. Peter Buchroithner machte mittlerweile mit der Community-App Swell Furore. Fünf Millionen Menschen nützen sie weltweit, um die Crowd über jeweils zwei Fotos abstimmen zu lassen: Welche Brille steht mir besser? A oder B? Der Jüngere kreierte das Mode-Label Vresh, dessen Teile ausschließlich in der EU gefertigt werden. Ein bis zwei Mal pro Woche taucht Klaus Buchroithner in die "Start-up-bubble“ ein, weil er in Eferding kaum jemanden findet, mit dem er sich austauschen kann. Sein Bruder Peter lässt sich kaum noch in der alten Heimat blicken. Ein Teil seiner Entwickler sitzt in Santa Monica, Kalifornien.

"The winner takes it all.“ Das ist in der digitalen Ökonomie kein dahingesagter Spruch, sondern Überlebensprinzip. "Noch mehr als Gewinn zählen Marktanteile“, sagt Bernhard Lehner. Vor zwei Jahren startete er das Business-Angels-Netzwerk startup300, um Menschen wie den Buchroithners auf die Sprünge zu helfen. 30 Gründer nahm er unter seine Fittiche, 300 sollen es werden. Was gilt die alte Industrie in seiner Welt? "Natürlich kann man an der Voest nicht vorbei. Die digitale Transformation aber wird über Start-ups laufen, und sie wird schnell gehen“, sagt Lehner. Gigantische Umbrüche stünden bevor. Auch wenn die Schwerindustrie sich halte, andere würden implodieren, Banken, Versicherungen, vielleicht die Automobilbranche: "Österreich hat schon fast alles verschlafen.“

Nächste Station, Gunskirchen. Wie kommen solche Töne in der Provinz an? Im Amtshaus von Gunskirchen hängt ein Ölgemälde, in das der Künstler diesen Satz eingraviert hat: "Die Vergangenheit braucht einen wachen Verstand, die Zukunft Phantasie.“ ÖVP-Bürgermeister Josef Sturmair hat einen Bauernhof am Rande der Gemeinde. Die Bauern waren dagegen, dass sich hier Industrie ansiedelt. Doch die Saat war längst gesät, als Sturmair 1959 auf die Welt kam. Das Rotax-Werk war im Zweiten Weltkrieg von Dresden nach Wels übersiedelt; 1947 zog es nach Gunskirchen. Heute fertigt BRP-Rotax hier Motoren für Schneeschlitten, Sportboote, Motorräder, Drohnen, Karts und ist mit rund 1200 Beschäftigten der größte Arbeitgeber. Es waren vor der Wirtschaftskrise ein paar hundert mehr.

Die Zukunftsfantasien des Bürgermeisters kreisen um 3D-Drucker, die er sich bei Betriebsbesuchen demonstrieren lässt: "Damit machen fünf oder zehn Leute eine Arbeit, die in China 100 gemacht haben, aber wenigstens haben diese paar hier Arbeit.“ Wie es Gunskirchen geht, hängt von globalen Unwägbarkeiten ab. Geben die Menschen in Amerika oder Kanada Geld für motorisierten Funsport aus, wo Rotax Weltmarkführer ist, brummt hier die Fabrik, und der Gemeinde geht es gut: 800 Euro fließen pro Beschäftigtem pro Jahr in die Gemeindekasse. Auf nur 6000 Einwohner kommen 4600 Arbeitsplätze.

In den 1970er-Jahren gingen in Gunskirchen viele Bauernkinder in die Schule. Und die Kinder von Menschen, die der Arbeit wegen in den Zentralraum zogen und auf spottbilligem Siedlungsgrund ihre Einfamilienhäuser errichteten. Gebaut wird immer noch viel. Die Preise für einen Quadratmeter Grund bewegen sich inzwischen auf 200 Euro zu. Der Fleischhauer im Ort hat sich gehalten. Die Konditorei steht da wie vor 40 Jahren. Der Bäcker vis-à-vis produziert in einer der Hallen neben der Bundessstraße 1 für das Gastgewerbe. Die Gemeinde dehnte sich aus, nicht immer hielt die Infrastruktur mit. Ausgestorben wirkt der Ort vergangene Woche. Die Schüler haben Ferien. Es gibt hier fast 20 Lokale, aber wenn das Gasthaus Gruber Urlaub hat, findet sich Montag zu Mittag nirgendwo etwas zu essen. Die politische Geschichte Gunskirchens spiegelt sein bäuerlich-industrielles Gesicht: Rote und schwarze Bürgermeister wechselten einander ab. Bei den Landtagswahlen 2015 allerdings machte jeder Dritte sein Kreuzerl bei den Blauen. Bei den bevorstehenden Nationalratswahlen rechnet Sturmair mit Erfolgen für die Liste Kurz: "Die Leute haben das Herumgewurschtle satt, Kurz steht für Neubeginn.“ Die Einschätzung des ÖVPlers ist wenig überraschend. Erstaunlicher ist, dass sie beim nächsten Halt nicht viel anders ausfällt.

Attnang Puchheim. Das Schicksal der 9000-Einwohner-Stadt ist die Eisenbahn. Eine Straße des 21. April erinnert an die verheerende Bombardierung des Jahres 1945, als US-Kampf-flieger die Schienen-Kreuzung samt Ortschaft im wahrsten Sinn des Wortes dem Erdboden gleichmachten. Über Attnang-Puchheim waren nicht nur Zwangsarbeiter ins KZ-Nebenlager Ebensee verfrachtet und Lieferungen für die geheime Raketentestanlage in Redl-Zipf umgeladen worden. Die Amerikaner vermuteten darüber hinaus, dass die Nazis von hier aus die ominöse Alpenfestung mit Nachschub versorgten. Nach dem Krieg wurde die Stadt rund um den Bahnhof neu errichtet. SPÖ-Bürgermeister Peter Groiss, Jahrgang 1962, hatte in seinem früheren Leben als Lokführer Erz in die Voest gebracht, in Wels und Hörsching Rüben verschoben und Personenzüge auf der Westbahnstrecke gelenkt. Seit zehn Jahren ist er Bürgermeister der roten Hochburg, in der sich allerdings Risse zeigen. Bei der Landtagswahl 2015 lagen SPÖ und FPÖ bereits gleichauf (jeweils 29,7 Prozent).

Der Getränkehersteller Spitz hat seinen Hauptsitz im Ortsteil Puchheim. In dem grauen Betonblock arbeiten 730 Mitarbeiter. Neben dem Werkstor laufen auf einer LED-Anzeige die offenen Stellen durch. Es werden Anlagentechniker gebraucht, Chemielaboranten, Elektriker. Der Facharbeitermangel ist das durchgängige Thema der Reise. So gut wie jeder Gesprächspartner bringt es zur Sprache. Als Besucherin von außen beginnt man sich über die Zugewinne der FPÖ zu wundern. An wirtschaftlichen Ängsten kann es nicht liegen. Oder doch? Josef Weidenholzer, emeritierter Professor für Soziologie und SPÖ-Europaabgeordneter mit Zweitwohnsitz im Salzkammergut, ist ein profunder Kenner Oberösterreichs. An manchen Orte entlang der Westbahnstrecke fühle er sich an die Rostgürtel-Debatten erinnert, die in den USA nach dem Wahlsieg Donald Trumps anhoben: "Abgehängt fühlen sich ja nicht die Ärmsten, sondern Arbeiter, die es zu etwas gebracht haben und nun merken, dass die Aufstiegsgeschichte zu Ende geht.“ Gilt das auch für Attnang-Puchheim?

Bürgermeister Groiss zuckt mit den Schultern. Den Stadtteil Alt-Attnang bewohnen großteils Arbeiter, die mit der Sozialdemokratie zu kleinem Wohlstand gekommen sind. Das Gros von ihnen wählt heute blau. "Jede Verbesserung verblasst im Vergleich zur Angst, das Erreichte nicht halten zu können“, beobachtet Groiss. Im Ortskern zeigen sich, wie in vielen Gemeinden, Zeichen des Niedergangs. Geschäfte stehen leer, während sich an der Peripherie Einkaufstempel durch die Landschaft fressen. Ist die Verunsicherung hausgemacht? Das glaubt Gerlind Weber, Professorin für Raumplanung an der Universität für Bodenkultur in Wien: "Im prosperierenden Zentralraum sind eher Planungsfehler am Werk als jene Strukturschwächen, die Regionen anderswo zusetzen.“

Schörfling am Attersee. Ansehnlich wird Oberösterreich erst, wo das Seengebiet beginnt. Ein Abstecher führt nach Schörfling am Attersee. Helmut Pürstinger hat sich vor wenigen Jahren als Personalberater am See niedergelassen. Sein Spezialgebiet ist der ländliche Raum. Pürstinger deckt für die Unternehmensgruppe Hill International das westliche Oberösterreich ab, wo zahlreiche "hidden champions“ sitzen, produzierende Unternehmen mit 50 bis 500 Mitarbeitern, die - neben Riesen wie der Lenzing AG - höchst erfolgreich schmale Nischen in den Bereichen Kunststoff, Recycling oder Automotive bespielen. Die Stelle eines Personalleiters oder einer Finanzchefin sei in der Regel innerhalb von sechs bis acht Wochen besetzt. In der Provinz könne es schon einmal ein halbes Jahr dauern. Pürstinger arbeitet gegen den Sog der Metropole, von der Tabakfabrik-Direktor Müller gesprochen hat. Abwerben ist vielerorts tabu. Im boomenden Innviertel etwa verständigten sich Lüftungstechniker, Luftfahrtzulieferer und andere Vorzeigefirmen darauf, einander keine Mitarbeiter abspenstig zu machen: "Ein Krieg um Talente treibt die Einkommen in die Höhe. Für die Unternehmen wäre das existenzbedrohend.“ Laut Pürstinger nehmen Mitarbeiter am Land nicht mehr als 30 Minuten Anfahrt in Kauf. Unternehmen an der Westbahnstrecke oder der A1 sind im Gezerre um Arbeitskräfte im Vorteil. Das gilt für Führungspositionen, die Pürstingers Metier sind, ebenso wie für Facharbeiter. Wer gute Mitarbeiter hat, hält sie mit Obstkörben, Ausflügen, Seminaren, Krabbelstuben und Betriebskindergärten bei Laune. In manchen Unternehmen bekommen Mitarbeiter 1000 Euro, wenn sie einen gesuchten Spezialisten herbeischaffen.

Marchtrenk. Der Un-Ort an der Bundesstraße hat einiges mitgemacht. Ab 1914 errichtete die k. u. k. Armee hier ein Lager für 35.000 Kriegsgefangene. Nach dem Zweiten Weltkrieg siedelten sich auf dem Areal nahe der Bahn Heimatvertriebene aus Jugoslawien, Rumänien, Ungarn und der Ukraine an. Heute leben in dem Ort, der im Laufe der Zeit immer mehr zum Schlafdorf verkam, 14.000 Einwohner. Viele der Gebäude wirken schnell hingepfuscht. Der vor vier Jahren ins Amt gekommene SPÖ-Bürgermeister Paul Mahr steuert nun einen neuen Kurs: Mehr Geschichte, Kultur, Bauten aus Vollholz, gute Jugendarbeit sollen den Ort hochbringen. Das Festival der Regionen gastierte heuer in Marchtrenk. Das Motto "Ungebetene Gäste“ war Flüchtlingen gewidmet, die 2015 ins Land kamen - seither leben konstant rund 150 Iraker, Afghanen und Syrer im Ort -, aber auch den Heimatvertriebenen, die hier neu anfingen und bei den Einheimischen alles andere als willkommen waren. Anders als Wels oder Gunskirchen verteile er keine Kommunalsteuergeschenke, sondern setze auf Lebensqualität, erzählt Mahr in seinem vollgeräumten Büro. Das klingt beim ersten Hinhören wie ein Witz. Zu deutlich springen Besuchern raumplanerische Sünden ins Auge. Die sanften Anreize scheinen aber zu ziehen: freier Eintritt ab 16 Uhr ins städtische Bad, damit Mitarbeiter auf dem Nachhauseweg ins Wasser hüpfen können, leistbare Wohnungen, rasche Behördenverfahren verspricht Mahr ansiedelungswilligen Unternehmen: "In wenigen Wochen eröffnet ein Schweizer Gemüseveredeler.“ Von 300 neuen Stellen seien viele Hilfsarbeiterjobs, im örtlichen AMS machte man einen Luftsprung: Arbeitsplätze für Unqualifizierte werden verzweifelt gesucht. Mahr ist einer der letzten roten Stadtoberhäupter. Bei den Landtagswahlen war Marchtrenk dunkelblau: Fast 37 Prozent wählten 2015 die FPÖ.

Letzter Halt, Eferding. Peter Schenk deutet mit einer Handbewegung auf eine der Gassen. Hier haben die Buchroithner-Brüder Skater-Kapperl verkauft. Das Geschäft verlegte sich mittlerweile ins Internet. Wenn es so etwas gibt wie eine Fleisch gewordene Antithese zu den jungen Gründern, der SPÖ-Stadtrat von Eferding könnte sie sein. Er war Schichtarbeiter in der Flämmerei der Voest, Hüttenmeister im Angestelltenverhältnis, Betriebsrat. Der bei Pflegeeltern in Wels aufgewachsene Bub hatte Maurer gelernt. Aber in der Voest, wo man 1965 "alle genommen hat, die zwei gesunde Hände gehabt haben“, verdiente er mit 3000 Schilling um Häuser besser als am Bau. Stolz marschierte er am ersten Mai hinter Voest-Vorstandsdirektor Peter Strahammer, der es sich nie nehmen ließ, den Voest-Zug anzuführen. Sind die Zeiten heute besser? Schenk ist Obmann eines Stammtisches. "Die Leute halten jede Kur, jede Operation und jede Beihilfe für selbstverständlich, und wenn sie etwas nicht kriegen, haben sie Angst, dass man ihnen etwas wegnimmt“, sagt er: "Das Sozialsystem wird viel ausgenützt, aber viel geschimpft wird trotzdem.“ Die Pizzeria in Eferding habe drei Tage in der Woche zugesperrt, weil sie keine Mitarbeiter finde. Die Gemüsebauern rund um Eferding holen polnische, rumänische und kosovarische Pflücker. Einheimische Ferialpraktikanten am Gurkerflieger, einem Traktor mit Flügeln, habe man lange nicht gesichtet. Schenk erkennt sich in den Jungen nicht wieder: "Ich bin in die Voest gegangen, um Geld zu verdienen. Heute will man Hobbys frönen.“

Die Buchroithner-Brüder sind nicht mehr da, um ihm zu widersprechen. Der Graben zwischen diesen beiden oberösterreichischen Welten wäre vielleicht auch zu tief.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges