REGIERUNGSRIEGE: Justizminister Josef Moser, Kanzler Sebastian Kurz, Vizekanzler Heinz-Christian Strache, Innenminister Herbert Kickl

Sicherungshaft: Das Demokratie-Dilemma

Im Streit um die Sicherungshaft geht es auch um einen ewigen Konflikt in jedem Gemeinwesen. Was ist uns wichtiger: Freiheit oder Sicherheit?

Drucken

Schriftgröße

In Berlin verschwand vor drei Wochen die 15-jährige Rebecca. Wahrscheinlich ist das Mädchen tot. Rebeccas Schwager – es gilt die Unschuldsvermutung – sitzt in Untersuchungshaft, mehrere Indizien belasten ihn. So konnte er gegenüber den Ermittlern zwei Ausfahrten mit seinem Auto kurz nach Verschwinden des Mädchens nicht erklären. Der Wagen war vom automatischen Kennzeichenfahndungssystem KESY erfasst worden, dessen Apparatur die Nummernschilder aller vorbeifahrenden Autos speichert und nach einer gewissen Zeit wieder löscht – außer ein Wagen wurde gestohlen oder mutmaßlich bei Verbrechen genutzt. Wie im Fall Rebecca. Das Polizeipräsidium des Landes Brandenburg schwört auf KESY, das deutsche Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe erklärte ähnliche Systeme in anderen Bundesländern für teilweise rechtswidrig.

Und schon ist man mittendrin in einem der ältesten Konflikte jedes Gemeinwesens. Was ist uns wichtiger: die Aufklärung von Straftaten oder die Privatsphäre? Die Verhinderung von Verbrechen oder der Schutz vor staatlicher Überwachung? Auch in der aktuellen Debatte um die Sicherungshaft für Asylwerber geht es im Kern um die Kollision zweier zentraler Werte in jeder Demokratie: Freiheit und Sicherheit.

Das klassische Dilemma beschäftigte bereits Denker wie Jean-Jacques Rousseau, John Locke oder Immanuel Kant. Und vergangenen Mittwoch auch den früheren Philosophiestudenten Herbert Kickl: Bei der Präsentation des – eher mageren – türkis-blauen Konzepts zur Sicherungshaft ermahnte er die Öffentlichkeit, sich nicht nur Sorgen um die Rechte von Tätern, sondern auch um jene der Opfer zu machen. Wer würde dem Innenminister da widersprechen wollen?

Forderung nach durchgriffsstarkem Staat

Kickl war jahrelang Generalsekretär einer Partei, die den Freiheitsbegriff sogar stolz im Namen trägt und sich als politische Erbengemeinschaft der Revolutionäre von 1848 sieht. Paradox: Gerade jene Partei, deren Vorfahren die Machtfülle absolutistischer Fürsten bekämpften, fordert jetzt einen möglichst durchgriffsstarken Staat, der die Freiheitsrechte einschränkt. Zu diesen verfassungsrechtlich garantierten Grundrechten zählen nicht nur das Recht auf persönliche Freiheit, sondern auch der Schutz des Privateigentums, die Freiheit der Erwerbstätigkeit, die Meinungs- und Pressefreiheit, die Vereins- und Versammlungsfreiheit sowie das Recht auf Datenschutz. Diese Freiheiten sollen den einzelnen Bürger vor der Staatsgewalt schützen – und wurden von ebendiesem Staat vor allem seit 9/11 sukzessive hinterfragt.

> Vor knapp einem Jahr beschloss die türkis-blaue Regierung ein umfangreiches Überwachungsspaket. Dieses verschafft der Polizei Zugriff auf fast alle Überwachungskameras im öffentlichen Raum, ermöglicht einen „Bundes-Trojaner“ (Überwachungssoftware auf Handys und Computern) und – wie in Brandenburg – die automatisierte Erfassung von Kfz-Kennzeichen ohne konkreten Anlass. Der Präsident des Österreichischen Rechtsanwaltskammertags, Rupert Wolff, kritisierte, durch die neuen Kompetenzen würde „über die Maßen in die Grundrechte eingegriffen“. SPÖ und NEOS brachten Teile des Pakets im Februar 2019 vor den Verfassungsgerichtshof (VfGH).

> Vor fünf Jahren setzte sich das Höchstgericht bereits mit der Datensammelwut der Behörden auseinander. Im Zuge der sogenannten Vorratsdatenspeicherung sollten Telefon- und Internetkontakte der Bürger systematisch aufgezeichnet und gespeichert werden. Im Juni 2014 befand der VfGH dieses Verfahren für verfassungswidrig.

> Nach dem Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 kam es in Wien zu teils gewalttätigen Demonstrationsmärschen von Anhängern von Präsident Erdoğan. Der damalige Innenminister Wolfgang Sobotka, ÖVP, dachte in der Folge über eine Einschränkung des Demonstrationsrechts nach, wurde aber von seinem Koalitionspartner SPÖ rasch in die Schranken gewiesen. Die französische Nationalversammlung billigte Anfang Februar unter dem Eindruck der „Gelbwesten“-Ausschreitungen sogar ein „Anti-Randalierer-Gesetz“, das es den Behörden ermöglicht, ohne richterliche Grundlage ein Demonstrationsverbot gegen einzelne Personen auszusprechen, die eine „besonders schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung“ darstellen.

"Grundrechte nicht leichtfertig opfern"

Hierzulande bezweifelt die Opposition nicht nur die Rechtmäßigkeit, sondern auch die Zweckmäßigkeit der Einschränkung von bürgerlichen Freiheiten. NEOS-Menschenrechtssprecher Nikolaus Scherak: „Privatsphäre und Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes dürfen nicht leichtfertig am Altar vermeintlicher Sicherheit geopfert werden.“ Und sein SPÖ-Kollege Hannes Jarolim: „Vor zwei Jahren hat Kickl als Oppositionspolitiker das von der ÖVP geplante Überwachungspaket mit dem Überwachungssystem der DDR verglichen. Heute steht er auf dem Kopf.“ Allerdings muss man kein vergleichsweise autoritär gesinnter Politiker wie Kickl sein, um Eingriffe in die Grundrechte aus Sicherheitsgründen für zulässig zu halten. Auch der frühere Justizminister und heutige VfGH-Richter, Wolfgang Brandstetter, im Allgemeinen ein besonnener Mann, plädierte 2017 für einen neuen Versuch, die Vorratsdatenspeicherung trotz VfGH-Vetos einzuführen. Diese sei „bei der Bekämpfung von Schwerstkriminalität sinnvoll und notwendig“.

In jedem modernen Gemeinwesen übernimmt der Staat die Aufgabe, für Sicherheit zu sorgen. Die Idee, dass er diese Schutzfunktion mit einem Gewaltmonopol ausübt, findet sich schon 1651 in Thomas Hobbes’ Hauptwerk „Leviathan“: „Die Aufgabe des Souveräns, ob Monarch oder Versammlung, ergibt sich aus dem Zweck, zu dem er mit der souveränen Gewalt betraut wurde, nämlich der Sorge für die Sicherheit des Volkes.“

Im deutschen Grundgesetz wird die Schutzpflicht des Staates für Würde, Leib und Leben seiner Bürger bereits in den ersten beiden Artikeln normiert. In Österreich lässt sie sich aus Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention ableiten: „Das Recht eines jeden Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt.“ Die Ausweitung dieser Schutzpflicht kann gesellschaftlich geboten sein. Bei einer Konferenz zum Thema „Gewalt an Frauen“ vergangene Woche mahnte der Rechts­professor und Vizepräsident des VfGH, Christoph Grabenwarter: „Die Morde an Frauen sind die Spitze des Eisberges. Der Staat muss sich aber auch um den gesamten unteren Teil kümmern.“ „Man muss viel früher ansetzen“, sagte auch die juristische Prozessbegleiterin Sonja Aziz. „Ein Betretungsverbot ist bei Hochrisikofällen nicht ausreichend.“

Wohl jede staatliche Einrichtung würde bei einer Abwägung der Rechtsgüter das Schutzbedürfnis einer Frau über die Bewegungsfreiheit eines Mannes stellen. Schon schwerer zu entscheiden ist die Frage, was bei Demonstrationen von Erdoğan-Fans schwerer wiegt: das Recht auf Versammlungsfreiheit oder die Rechte von Ladenbesitzern, deren Geschäfte gestört werden.

Der frühere Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, fasste das staatliche Dilemma in einer Rede über die Bedrohung durch Terror und organisierte Kriminalität präzise zusammen: Die notwendige „Balance zwischen Freiheit und Sicherheit“ schließe „die Verfolgung des Zieles absoluter Sicherheit aus, welche ohnehin faktisch kaum, jedenfalls aber nur um den Preis einer Aufhebung der Freiheit zu erreichen wäre“.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.