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Armin Wolf: Fluten wir die Wutmaschinen mit Journalismus!

Armin Wolf glaubt zwar, dass Social Media den Diskurs ziemlich versaut haben. Der ORF-Anchor ist aber überzeugt: Medien und Medienmenschen müssen dennoch dort aktiv sein. Ein Essay.

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Von Armin Wolf

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Mitte September tauchte auf WhatsApp ein Video auf, das sich rasant verbreitete. Es zeigt eine scheinbar endlose Schlange von Flüchtlingen entlang einer burgenländischen Landstraße nahe der Grenze zu Ungarn. „Das siehst du nicht im ORF“, raunt eine Stimme aus dem Off: „Auch die Polizei verhindert solche Aufnahmen. Wir werden verarscht, aber so richtig!“ Am 13. September stellte die FPÖ diese Bilder auf ihren YouTube-Kanal und schrieb dazu: „Burgenland im Jahr 2022. … Es ist der pure Wahnsinn. … Unsere Grenzen [werden] regelrecht überrannt. … Solche Bilder bekommt man in den Mainstream-Medien allerdings nicht zu sehen.“ 

Stimmt. In seriösen Medien waren diese Bilder letzthin nicht zu sehen. Das Video ist nämlich sieben Jahre alt, vom Höhepunkt der Flüchtlingskrise im September 2015, wie das Faktencheck-Team des profil sehr schnell herausgefunden hat. Da hatten das Fake-Video allerdings schon Zehntausende auf Social Media gesehen und sehr entrüstet geteilt.

Mehr als sechs Millionen Menschen in Österreich nützen Social Media, die unter 30-Jährigen nahezu alle. Von den 18–24-Jährigen lesen hierzulande gerade noch 14 Prozent gedruckte Zeitungen, doppelt so viele klicken zumindest die Websites von Zeitungen an, und knapp 40 Prozent konsumieren Nachrichten auch in Radio und Fernsehen, wie wir aus dem Reuters Digital News Report 2022 wissen, der umfassendsten Bestandsaufnahme zur Mediennutzung im Land.

Aber 63 Prozent der Jungen geben als Nachrichtenquelle soziale Medien an, von WhatsApp über YouTube bis Instagram, immer weniger nennen dabei Facebook, immer mehr dafür TikTok. Doch selbst von den über 55-Jährigen, den treuesten Zeitungslesern und „ZIB“-Seherinnen, bekommen 41 Prozent auch Nachrichten via Social Media.

Der legendäre Ex-ORF-Chef Gerd Bacher hat Journalismus einmal als Unterscheidung definiert: zwischen wahr und unwahr, wichtig und unwichtig und zwischen Sinn und Unsinn. Diese Unterscheidung ist heute, im Social-Media-Tsunami aus Fake News, Propaganda, Entertainment, Influencern, Krawall, Verschwörungen, Hetze und Wahnsinn, noch sehr viel wichtiger geworden als damals, in der gemütlichen Bacher-Ära von FS1 und FS2.

Nicht nur, weil wir sonst Gefahr laufen, dass junge Menschen professionellen Journalismus und etablierte Medienmarken bald gar nicht mehr kennen, sondern vor allem, weil die Millionen Menschen, die einen Großteil ihrer wachen Zeit auf sozialen Plattformen verbringen, auch verlässliche, relevante und seriöse Informationen brauchen.

ZiB2-Moderator Armin Wolf hat auf Twitter 570.000 Follower und verantwortet als stv. Chefredakteur der „Zeit im Bild“, deren Social Media-Kanäle auf Facebook, Instagram und Tiktok mit insgesamt 2,2 Millionen Abonnent·innen.

Ich glaube ja nicht, dass Social Media die Welt verbessert haben. Klar, man kann dort Menschen kennenlernen, Kontakte halten, sich präsentieren und vernetzen, sich blendend unterhalten und Initiativen starten, sogar so wichtige und folgenreiche wie #MeToo oder #BlackLivesMatter. Doch letztlich haben Social Media mit ihrer hoch industrialisierten Bewirtschaftung von Emotion, Empörung und Ressentiment den öffentlichen Diskurs nicht besser gemacht, sondern ziemlich versaut.

Was anfangs noch ausgesehen hat wie das erste Medium, das tatsächlich einen „herrschaftsfreien Diskurs“ (Jürgen Habermas) aller mit allen ermöglichen könnte, wie ein Medium, das in der Lage ist, „nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen“ (Bertolt Brecht), ist erschreckend rasch zu einer gigantischen Wutmaschine geworden. Die lautesten und perfidesten Raufbolde und die schlauest programmierten Bots schaffen es problemlos, jede größere Debatte irgendwann zu zerstören. Meistens ziemlich flott.

Kein Wunder, dass immer mehr vernünftige Menschen keine Lust mehr haben, Lebenszeit so zu vergeuden. Selbst ein reflektierter Medientheoretiker wie Stephan Weichert, der Journalisten jahrelang zur Social-Media-Präsenz geraten hat, zweifelt heute, ob „Medien nicht sich selbst und ihrer Glaubwürdigkeit schaden, je mehr sie sich dort aufhalten, posten und eben auch ihre Wahrheiten verbreiten“, wie er im Interview mit dem „Falter“ sagt.

Doch das wäre, glaube ich, ein Fehler.

Die Millionen Menschen, die Social Media nützen, haben auch ein Anrecht auf seriöse Information.

Armin Wolf

Ich persönlich hätte kein Problem, würden morgen sämtliche sozialen Netzwerke zusperren. Ich gewänne viele Stunden an Lebenszeit. Aber das wird nicht passieren. Und die sechs Millionen, die in Österreich soziale Medien nützen, werden nicht damit aufhören. Wir sollten sie dort aber nicht nur den Propagandisten und Paranoikerinnen, den Verkäuferinnen und Verführern überlassen, die jedenfalls da sind – weil sie kommerzielle Interessen haben. Oder politische. Oder beides. Die Millionen Menschen, die Social Media nützen, haben auch ein Anrecht auf seriöse Information, die nicht interessengeleitet ist, ergebnisoffen und sorgfältig recherchiert und verständlich präsentiert.

„Flood the zone with shit“, war die berüchtigte Devise von Donald Trumps PR-Mephisto Steve Bannon.

Wir Medienmenschen sollten Social Media mit gutem Journalismus fluten. 

Wie ambivalent das ist, ist mir klar. Google (YouTube), Meta (Facebook, Instagram, WhatsApp), Twitter oder TikTok sind Milliardenkonzerne, die in Österreich kaum Steuern zahlen, aber einen Großteil der heimischen Werbebudgets absaugen, obwohl sie keine Zeile und keine Sekunde eigenen Inhalt produzieren. Sie leben vom Content, den ihre Nutzerinnen und Nutzer gratis online stellen. Und zu Recht fragen sich viele journalistische Medien: Weshalb sollen wir unserer aggressivsten Konkurrenz um Publikum und Werbeeinnahmen auch noch Inhalte schenken?

Meine Antwort darauf: Weil auch keine Nutzerin und kein Werbekunde dort weggehen, wenn wir es nicht tun. Niemand hat sich wegen des „ZIB“-Accounts bei Instagram angemeldet, wegen profil auf Twitter oder wegen des „Kurier“ auf TikTok. Die sind alle auch ohne uns dort, aber wir können ihnen etwas liefern, das sie sonst nicht bekommen: überprüfte Fakten und relevante Information, ohne die ein sinnvoller gesellschaftlicher Diskurs nicht funktionieren kann.

Dummerweise lässt sich das kaum monetarisieren. Für Meta, Twitter oder TikTok natürlich schon, prächtig sogar, aber nicht für die „ZIB“, das profil oder den „Kurier“. Umso mehr steht hier der öffentlich-rechtliche Rundfunk in der Pflicht. Der ORF wird von allen finanziert, damit er für alle seriösen Journalismus macht. Also sollten wir ihn auch dorthin liefern, wo besonders viele Menschen sind, aber sehr wenig verlässliche Information.

Müssen also alle Journalistinnen und Journalisten auf Social Media aktiv sein? 

Hängt davon ab, was man unter aktiv versteht. 

Ich kann mir zum Beispiel kaum vorstellen, wie tagesaktueller Journalismus heute noch funktionieren kann ohne Twitter als Nachrichtenagentur. Nirgendwo sonst erfährt man so viel so rasch aus derart kompetenten Quellen. Bei praktisch jedem Thema finden sich Expertinnen, Auskenner und Institute, die zu breaking news binnen Minuten ergänzende Infos online stellen, spannende Studien posten und Fachartikel, für die man früher tagelang in Uni-Bibliotheken saß.

Andere Netzwerke wie Facebook oder Instagram müssen wir zumindest beobachten. Es wäre absurd, die Pressekonferenzen oder Wahlreden von Politikerinnen zu verfolgen, nicht aber deren Social- Media-Auftritte. Manche Präsidentschaftskandidaten bestreiten ganze Kampagnen ausschließlich so.

Aber Medienleute müssen auf sozialen Plattformen nicht unter eigenem Namen posten. Sie müssen dort nicht diskutieren und schon gar nicht mit der halben Welt streiten – oder mit anonymen Trollen und ihren 0 Followern. Das kann man tun, ich tue das auf Twitter seit 13 Jahren, und es hat mir – und wohl auch der Sendung, für die ich arbeite – einiges an Bekanntheit und Prestige bei jungen Menschen eingebracht. Aber es ist auch unfassbar anstrengend und wäre ohne Blockierfunktion nicht zu ertragen.

Das Diskursklima auf Twitter und Facebook ist spätestens mit der Pandemie endgültig toxisch geworden, jedenfalls für Accounts mit sehr vielen Reaktionen. Ich verstehe jeden, der sich das nicht antun will – und vor allem jede. Für Frauen sind „Debatten“ auf Social Media ja noch sehr viel übler.

Doch für unsere Arbeitgeber – für professionelle, seriöse Medien – gilt das nicht. Sie sollen posten und aktiv sein und, soweit sie es personell und zeitmäßig schaffen, auch mit ihrem Publikum diskutieren. Sie sollen dort, wo Millionen Menschen sind, zuhören, Kritik annehmen, die eigene Arbeit erklären und auch zurückreden, wenn es notwendig ist. Aber die wichtigste Aufgabe ist: Flood the zone with journalism.

Je komplexer die Welt, desto größer die Sehnsucht nach vermeintlich einfachen Antworten. Shitstorms ersetzen immer öfter Debatten. Wir schaffen noch mehr Platz für echte Argumente und Streitkultur. 

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