Streit

Debatte um ORF.at: Von „Rote Linie“ bis zu „völlig verrückt“

In ihrer profil-Streitschrift forderte NEOS-Politikerin Henrike Brandstötter die Abschaffung der blauen Site www.orf.at und löste damit eine breite Debatte aus. Ein Auszug.

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Autos raus aus der Stadt? Rekordgewinne der Energiekonzerne abschöpfen? Mit Russland verhandeln, anstatt zu kämpfen? Seit zwei Monaten wollen wir mit dem neuen profil-Format „streiten wir!“ einen Beitrag zur besseren Debattenkultur leisten. Enormes Echo erzeugte die Streitschrift im vorigen profil:  „Retten wir die Medienvielfalt, Drehen wir orf.at ab!“, forderte NEOS-Mediensprecherin Henrike Brandstötter.

Sie trat damit eine Grundsatzdebatte über die Marktmacht des ORF im Internet los – zum passenden Zeitpunkt: Die ORF-Reform steht vor der Tür. Sie könnte in einer Haushaltsabgabe für alle münden – anstelle der GIS-Gebühr, die für Fernseh- und Radiobesitzer gilt. So will der ORF die „Streaming-Lücke“ schließen, damit auch jene zahlen, die ORF-Inhalte nur übers Internet konsumieren. orf.at erreicht rund drei Millionen Leserinnen und Leser täglich. 

Private Verlage können nicht auf Gebühren wie der ORF zurückgreifen. Sie müssen auch im Netz mit Abos oder Werbung Geld verdienen. „Weshalb aber soll ich als Bürgerin oder Bürger ein Digitalabo abschließen, wenn nur einen Klick weiter kostenlos orf.at lockt?“, argumentiert Brandstötter und erinnert daran, dass ARD und ZDF in Deutschland „presseähnliche“ Produkte im Netz untersagt seien. In Österreich drohe hingegen ein „Nachrichtenmonopol“ durch die blaue Site des ORF. Brandstötter warnt gar vor „ungarischen Verhältnissen“, sollte eines Tages „ein Autokrat die öffentlich-rechtlichen Medien fast völlig unter seine Kontrolle bringen, während private Medien kaum noch überlebensfähig sind“. Für Kritiker ihrer Streitschrift ist umgekehrt der ORF ein Garant dafür, dass die Medienlandschaft nicht zu sehr von einzelnen Reichen und ihren Medien abhängig wird, die wie in Ungarn vielleicht noch ein Naheverhältnis zum Regierungschef haben.

Von Facebook bis Twitter wurde Brandstötters Streitschrift tausendfach kommentiert – von namhaften Journalisten innerhalb und außerhalb des ORF, Medienexperten, Bürgerinnen und Bürgern. Fast alle Medien bis hin zum ORF selbst zitierten daraus. Nur orf.at selbst sparte die Meldung aus. Der Generaldirektor des Unternehmens, Roland Weißmann, reagierte via Ö1. Auf Facebook kritisierte unter anderem Schriftsteller Robert Menasse Brandstötters Vorstoß. Ein Debatten-Auszug:

ORF-Generaldirektor Roland Weißmann im Ö1-„Mittagsjournal“:
„Die blaue Seite abzudrehen, das ist sicher ganz klar hinter einer Roten Linie, die nicht akzeptierbar ist. Ich bin ja froh, dass es Meinungsfreiheit gibt in Österreich. Aber, die Mediensprecherin der NEOS ist nicht in den Verhandlungsteams (zur ORF-Reform, Anm.).“ 

Der designierte ORF-Chef Weißmann will an seinen Taten gemessen werden

Im Ö1-Medienmagazin „Doublecheck“ teilt Gerald Grünberger vom Verband 
Österreichischer Zeitungen (VÖZ) Brandstötters Bedenken grundsätzlich:
„Orf.at ist zu zeitungsähnlich. Für private Medien ist es schwierig, im Netz Geld mit Journalismus zu machen, wenn der ORF seine langen Texte dort gratis anbietet, und das noch dazu gebührenfinanziert. Der ORF muss sich wieder auf den Kernzweck konzentrieren, seine Rundfunk-Inhalte digital auszuspielen, und den Text-Anteil deutlich zurücknehmen.“ 

Auf Twitter teilt „Standard“-Journalist Thomas Mayer den profil-Artikel: 
„Wichtige Debatte!“

Ex-„Kurier“-Herausgeber und einst Sendungsleiter im ORF, Peter Rabl, akklamiert auf Twitter:
„Recht hat sie.“

Ex-Grün-Politiker und Listen-Gründer Peter Pilz geht mit ihm in den Infight.
„Unrecht hat sie.“

Auch Ex-„ZIB“-Moderator und Ex-SPÖ-Politiker Josef Broukal kontert. 
„Der große Fehler im Text ist, dass orf.at kostenlos wäre. Ich bezahle dafür mit meiner ORF-Gebühr. So wie ich mit meinem STANDARD-Abo dessen Webseite mitzahle …“
Brandstötter antwortet Broukal: 
„Das ist unrichtig. Rundfunkgebühren werden für audiovisuelle Dienste bezahlt – also Radio und TV. Die Website sollte dazu dienen, diese Dienste zu bewerben. Sie ist aber mittlerweile ein eigenständiges Produkt.“

Intensiv diskutiert auch der Leiter des ORF-Korrespondentenbüros in Washington, Thomas Langpaul, auf Twitter mit:
„Bin befangen. … Aber ein erklecklicher Teil der Menschen ist bereit, jeden Mist zu glauben. Öffentlich-rechtliche Medien europäischer Prägung können, trotz all ihrer Unzulänglichkeiten mit Journalismus, mit Faktenchecks, mit Objektivität dagegenhalten. Sie können, trotz all ihrer Mängel und Unzulänglichkeiten, ein Bollwerk gegen die Flut des Unsinns sein. … Will man heute einem erfolgreichen Medienunternehmen, gleichgültig welchem, den Onlineauftritt verwehren, ist das, als ob man einem Autohersteller sagen würde: Du darfst zwar Autos bauen aber keine elektrischen.“

„Kleine-Zeitung“-Redakteur Georg Renner schlägt in dieselbe Kerbe und bekommt dafür viel Zuspruch: 
„Können wir bitte einen Moment innehalten und feststellen, was für ein Wahnsinn es wäre, orf.at abzudrehen? In einer Zeit, in der wir links und rechts Leute in ihre eigenen alternativ-Fakten-Welten verlieren?“
Das ist die Gegenerzählung zu Brandstötters Warnung vor ungarischen Verhältnissen – der ORF als Garant für einen demokratischen, faktenbasierten Diskurs. Brandstötters Replik:
„Ihr Gedanke in allen Ehren, aber wenn orf.at die Wunderwaffe gegen alternative Fakten wäre, dann hätten wir das von Ihnen beschriebene Problem nicht. Insofern dreht sich Ihr Argument im Kreis.“

Schriftsteller Robert Menasse kommentiert die Streitschrift wutentbrannt auf Facebook. Er schleudert Brandstötter neben etlichen persönlichen Beleidigungen auch Argumente entgegen:
„Das ist völlig verrückt. … wie kann man nach dem ,System Kurz‘ und seiner systematischen Anfütterung des Boulevards von den so genannten ,Privaten‘ Medien … ausgerechnet die ,Rettung von Meinungsvielfalt‘ erwarten? … Wie kann man so populistisch verlogen (oder wirklich ehrlich dumm?) sein, zu behaupten, dass der ORF einen Wettbewerbsvorteil habe, weil es da keine Bezahlschranke gebe, statt die Realität korrekt zu beschreiben: Wir zahlen mit unseren Gebühren auch die blauen Seiten des ORF, während populistische Politiker mit Steuergeld ‚gratis-Berichterstattung‘ von Boulevardmedien kaufen, die naturgemäß auch keine Bezahlschranke haben. Von uns BEZAHLT ist der ORF, und nicht die von Ihnen, Frau Brandstötter, so bezeichneten freien privaten gratis Medien. Was mich an Meinungen wie der von Frau Brandstötter, so eigentümlich berührt, ist, dass Menschen wie sie zu den ersten gehören, die aus der öffentlichen Wahrnehmung sofort verschwinden, wenn Öffentlichkeit so organisiert wäre, wie sie es fordert. Ohne öffentlich-rechtlichem Rundfunk kämen die NEOS nicht mehr vor, sie wären nämlich unterhalb der Interessensschranke der privaten Medien, denen es ganz vorbildlich liberal ums Geschäft geht, und nicht um seriösen Journalismus. Das ist das Problem der NEOS: sie sind Liberale, die den Neoliberalismus nicht verstehen, … sie sind als Partei ein einziges Missverständnis. Einige Zeit ein sympathisches Missverständnis, aber mit wachsendem Verständnis nur noch ein Ärgernis.“

Robert Menasse legte Politiker Worte in den Mund

Außerhalb der Branche kommen die Reaktionen aus drei Lagern. Die einen wollen gar keine GIS mehr zahlen – egal ob für die „ZIB1“ oder orf.at; die anderen verteidigen den ORF mit seiner blauen Site als wichtiges Leitmedium. Für das dritte Lager ist orf.at einfach praktisch und deswegen unverzichtbar.

„Die Abschaffung von orf.at, einer der wichtigen Säulen des öffentlich rechtlichen Rundfunks, zu fordern, ist kein Weg zum Fortschritt, sondern bedeutet eine untragbare Filetierung des ORF.“
Andrea Brem, Leiterin der Wiener Frauenhäuser auf Facebook

„Jawohl! Neu aufsetzen ohne Zwangsgebühr!“
User Helmut Santner

„Der ORF hat eine Informationspflicht. orf.at ist für den schnellen Überblick.“
Userin Manon Soukup

Brandstötter selbst ist froh über die Debatte, die sie ausgelöst hat. Trotz der vielen validen Argumente beklagt sie aber den Ton: „Das mit der Streitkultur, die profil schaffen möchte, müssen wir wohl noch üben, kaum ein Kommentator kommt ohne Beleidigung aus.“ 
Wir bleiben dran.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.